Die Novelle wurde heute fertig.

Der Weltengang war ihr an diesem Morgen egal. Sie ahnte schon vorher, wie er ausgehen würde. Das Gestreite und Geschacher um Geld und Macht. Frau Morgenstern hatte diesen richtigen Instinkt und schon genug Brüche erlebt. Man killt am besten jemandes Stolz, indem man ihm den sozialen Anschluss nimmt. Nachdem die Einheit gefeiert wurde, zerlegten sie den Osten komplett. Seither trägt Frau Morgenstern Trümmerteile in ihrem Herzen. Die rumpeln gelegentlich sehr taktlos.
Als sie das letzte Mal am Rande eines Steinbruchs im Oberlausitzer Bergland stand, hatte sich dieses Wort „Bruchstücke“ in ihr Denken eingegraben. Es beschrieb ihre verschiedenen Leben ganz gut. Dieses zerbrochene Bild machte deutlich, was geschieht, wenn man eine Lunte in eine gewachsene Wand legt und sie zündet. Vielleicht sieht man sogar noch fliegende Teile. Aber wenn sich der Staub gelegt und das Bruchloch sich mit Wasser gefüllt hat, ist nichts mehr zu ahnen, was unter der blauen Idylle liegt.
Ihr Leben war kein schöner Strom, es glich eher einem Wildwasser. Aber wen würde das noch interessieren, wenn sie unter der Grasnarbe des Dorffriedhofes verschwunden sein wird. Ihre Enkelin hatte sie zuletzt als Neugeborenes gesehen, und dieses fremdgewordene Kind hat nun selbst schon eine Tochter. Lea Morgensterns Sohn sah seine Enkelin nur sehr selten. Nichts, was sich tief einpflanzt. Ein Foto von dem Fratz mit Schokoladen-Schnute hat er ihr neulich per Mail gesandt. Dieses Kind wird Lea Morgenstern ganz sicher nie Fragen stellen, erst recht nicht über die damaligen Wende-Geschehnisse. Schade, dachte die „verhinderte“ Urgroßmutter, denn nur sie könne heute noch erklären, warum so viele Risse durch so viele Familien gingen. Manch einer verlor damals Freunde, Kollegen, die ohne Abschied ins Irgendwohin aufbrachen, die allermeisten sah man nicht wieder.
Die Kettenraucher
Sie rauchten Jahre lang gemeinsam in ihrem vernachlässigten Redaktionszimmer Aschenbecherberge voll. Der Schönschreiber und seine Auszubildene. Na, das war Lea Morgenstern natürlich nicht. Aber er, Eric Winter, war der Mann vom Fach und sie die Amateurin der Worte. Sie waren beide kritische Beobachter der stoischen Zeit. Sie hatte die Gabe, Menschen zu öffnen, in ihnen zu graben, um ihre Individualität sichtbar zu machen. Er verstand es, die Realität poetisch auszudrücken. Diese Schreiber bemühten sich um offene Worte und neue Ausdrucksformen, und so wuchsen sie mit der Zeit zu Verbündeten. Beinahe geschwisterlich, gleich alt.
Mitte Mai sollte Eric Winter mit einem Freundschaftszug zur Internationalen Friedensfahrt reisen, die 1986 erstmalig in Kiew startete. Aber er wollte nicht. Der Sportbegeisterte lehnte die Tour de France des Ostens ab? Die Fahrt galt als Auszeichnung, und die Redaktionsleitung war außer sich, dass er sie verweigerte. Man witterte ein politisches Statement. Aber Eric Winter diskutierte nicht, er lehnte ab und schwieg. Auch wenn ein bedeutender Hochenergiephysiker im Radio behauptete, es bestehe keinerlei Strahlengefahr. Winter glaubte ihm nicht, er hörte und sah alle deutschsprachigen Nachrichten. Während in Bayern kein Kind in diesem Sommer im Sandkasten spielte und das Gemüse untergepflügt wurde, schickte die DDR junge Menschen in diese Region. Der Reaktorunfall ereignete sich im Atomkraftwerk von Tschernobyl in der Nacht des 26. April 1986. Dabei wurden 150.000 Quadratkilometer in der damaligen Sowjetunion radioaktiv verseucht. In jener Nacht war Lea Morgenstern mit einer Jugendgruppe im polnischen Riesengebirge unterwegs, und morgens hing eine große, braune Wolke über den Bergen. Panik flutete das Camp. Die Polen gaben ihren Kindern sofort Jodtabletten, und viele reisten aus Szklarska Poreba ab. Aus der Heimat hieß es: Keine Gefahr, aber auch Lea Morgenstern hörte Westnachrichten. Die beunruhigten sie, und sie spürte indem, Berlin entschied politisch, nicht menschlich. Eric Winter brauchte ihr also nicht erklären, was in ihm vorging. Es hing blauer Dunst im Raum, als der aufgebrachte Chef eintrat und hilflos drohte: „Du bekommst ein Parteiverfahren, wenn Du nicht fährst!“ Lea packte ein Lachkrampf und sie prustete: „Du weißt aber schon, dass Eric nicht in der Partei ist – oder?“ Die Tür knallte ins Schloss und stieß einen frischen Windzug in die dicke Luft. Die zwei grinsten breit hinter ihren schwarzen Schreibmaschinen und zündeten sich die nächste Zigarette an. Das Thema war gegessen.
Es gibt ja Leute, die findet man übers Internet wieder, aber Eric Winter wollte wohl nicht gefunden werden, dachte sich Lea Morgenstern, während sie sich auf der Gartenbank ausruhte. Was war es nur, dass ihn weggetrieben hatte? Aber klar, dieses Berlin in den 90ern war wie ein wilder Verschiebebahnhof. Keine Arbeit, nur Experimente ohne Halt, da konnte manches schiefgehen. Spätestens dann schob der Verschiebebahnhof die Menschen raus in alle Welt. Das Gemeinsame gefriert in der Vergangenheit – dem Jetzt entrissen.
Während ihr das durch den Kopf ging, dachte sie an das Jahr nach dem Mauerfall. Diesen ungeheuerlichen Freiheitsschub; Wahnsinn. Niemals zuvor und niemals hernach konnte sie so frei arbeiten. Herrenlos. Das Druckpapier war noch für „die alte Zeit“ geplant – und wir machten einfach etwas damit. Noch im Dezember 1989 entwickelten wir neue Zeitungskonzepte. Erst ein Polit-, später ein Heimwerkermagazin. Wir hantieren mit neuem MAC-Layoutprogramm, lernten miteinander diesen Techniksprung. Dieses freie Arbeiten endete schlagartig mit dem Verkauf unseres Blattes an den Bauer-Verlag. Im Februar 1992 bekamen wir die Kündigungen, obwohl der Treuhand vertraglich versprochen war, sie würden uns wenigstens zwei Jahre weiterbeschäftigen. Der Kauf galt schlicht der Marktbereinigung und Bauer zahlte lieber die Vertragsstrafe. Wir kochten vor Wut, aber noch überwog unser Stolz. Was hatten wir alles in diesen zurückliegenden Monaten erlernt. Man würde uns bestimmt brauchen, hofften wir. Aber dem war nicht so, und ein ganz anderes Leben begann.
Vertrieben ohne zu gehen
Aber was macht eine mit ihren Talenten, wenn 1992 die Massenarbeitslosigkeit sie überrollt? Die das Überflüssige ausschwitzte und ausspuckte, was nicht dazugehörte? Das Westsystem wurde dem Osten kurzerhand übergestülpt. Dauerhaft. Sie fiel ins Leere. Frau Morgenstern füllte diese Leere sehr bald mit ihren selbstbestimmten Zeilen. Wut im Bauch. Erst dokumentarische, später poetische. Die Wandlung zur Erzählerin vollzog sich im Stillen, denn man wollte sie nicht im literarischen Geschehen des vereinigten Deutschlands. Die Futtertröge waren knapp gefüllt und lückenlos umlagert. Unerreichbar für sie. Das Bürokratische schreckte ab. Ihr erster Roman erschien 1993 auf Griechisch – nicht auf Deutsch! Die Griechen interessierten sich für Leas Wahrheiten. Die erklärten das Heranwachsen der jungen Rechten in Ostdeutschland, und die Gründe dafür. In Deutschland wollte man davon nichts wissen, doch die Brandbilder von Rostock-Lichtenhagen 1992 gingen um die Welt. Diese enthemmten Übergriffe auf Ausländer in jenem August zeigten allerdings nur ein Symptom rassistischer Ausbrüche im Land. Bei einem Antirassismus-Kongress in Athen sprach Frau Morgenstern über die subtile Art der sozialen Ausgrenzung Ostdeutscher nach der Wende 1989. Erst im Alter begriff sie, dass sie zu nichts mehr dazugehörte. Nicht mehr fügsam, nicht beugsam, aber dafür verdrängt aus den Gestaltungsmöglichkeiten. Vertrieben ohne zu gehen, ganz anders als einst ihre Eltern und Großeltern:
Die kamen als Flüchtlinge aus Schlesien und Böhmen. Überall nicht gelitten. Dort, wo sie strandeten, waren sie nicht willkommen. Für die angestammten Deutschen blieben diese Deutschen aus den verlorenen Ostgebieten Fremde. Sie standen außerhalb. Besitzlose. Sie machten knapp ein Drittel der Nachkriegsbevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR aus. Staatlich verordnetes Stillschweigen über die verlorene Heimat reichte bis in die Familien. Frau Morgenstern erfuhr erst spät von der Vertreibung und Flucht ihrer Sippe. Auf einer privaten Silvesterfeier in den späten 60er Jahren. Großmutter Marie hatte ein, zwei Likörchen zu viel getrunken und schmetterte Lieder auf Tschechisch, und Großvater Alfred klapperte dazu den Takt mit Messer und Gabel auf dem Tellerrand. Das sehnsüchtige Raunen über eine verlorene Welt kam ihr seltsam vor. Von den Orten „Morchenstern“ und „Gebhardsdorf“ hatte sie nie gehört. „Die Schlesier, die Sudeten, die Heimatlosen“. In der Schule hatte Lea Morgenstern von den Heimatverbänden im Westen und ihren revanchistischen Ansprüchen gehört. Dieses Nachsehnen in jener Silvesternacht klang ähnlich und war ihr unheimlich. Da war etwas, das man ihr im nüchternen Alltag verschwieg. „Heimwehkranke Wanderer“ nannte Dörte Hansen die Weltkriegsflüchtlinge in ihrem Roman „Altes Land“, die nicht Wurzeln schlagen konnten, aber trotzdem haften blieben und ihre Eismäntel niemals mehr ablegen konnten. (*)
Mehltau
Es weht eine Geschichte um den alten Lindenbaum der Familie. Ein Hauch des Schreckens, eine Ahnung nur. Schwer legt sie sich auf die Schultern der Lebenden. Frag nicht, wie viele schon gegangen sind. Der Lebensatem unter der Linde war immer nur von kurzer Dauer in dieser Sippe, die aus den Bergen kam. Sie strandete auf dem letzten deutschen Hof, gleich hinter dem Neißestrom. Ein kühler Ort für Geflüchtete und Vertriebene. Die Liebe ging im Frost verloren, für immer. Erstickt im Grauen gewalttätiger Krieger, die sie als Beute nahmen. Selma, schlesische Weberin. Niemals mehr würde ihr geschundener Leib noch Liebe spenden können. Ihre schmalen Lippen hielten das Geschehen fest unter Verschluss. Ein frühes Grau blitzte seither aus dem streng gewundenen Haar unter dem flauschigen Kopftuch, das ihre Schönheit verbarg, und ihr zerbrochenes Leben versteckte es auch. Mager war Selmas Zeit unter der Linde – und unerwünscht. Für ein paar Kartoffeln schuftete sie im Stall des Bruders wie eine Magd. Ihre Söhne bestellten dessen Feld, bis sie weggingen, sich einen neuen Stolz zu suchen. Selma blieb allein, alterte schnell und lebte geduckt in der neuen Zeit. Nur in ihren Albträumen schrie sie laut. Das schlafende Enkelkind Lea neben ihr erwachte von so einem Schauderschrei. „Was ist mit dir?“, fragte es beklommen in die Nacht. Selma schwieg.
Die Jahre vergingen. Lea ließ eine weiße Rose in Selmas Grab gleiten und wusste indem, dass sie nie erfahren würde, was genau es war, das aus einem Wiegenlied wie Mehltau auf ihre Seele fiel. Unerklärlich pochte Selmas Schmerz unter Leas Haut. Im Schatten der Linde spürte sie ihm nach. Ein Dunkel lauerte unter dem Geschichtenbaum. Die junge Frau dachte an die Feriensommer bei Selma in den 60er Jahren. Was hatte sie ihr auf der Bank unter dem Baum für spannende Geschichten erzählt. Die vom Berggeist Rübezahl. Lea setzte sich auf die morsche Bank und sah hinauf in die mächtige Baumkrone. Ein Rascheln, ein Wispern hing in der spätsommerlichen Luft, als eine Träne aus dem Dunst der Zeit fiel, ein Bruchstück im Spiegel. Lea fing sie auf der flachen Hand. Im Tränenbild schwamm, wie ein blitzendes Licht, ein Kriegsschauplatz am Iser-Gebirge. Was sah sie? Einen Augenschein. Durfte sie ihr Nichtwissen mit Ahnungen füllen? War es eine jener schrecklichen Minuten, in denen in Selma die Liebe starb? Oder war es nur eine Projektion aus Kriegsberichten der wenigen Erzählenden? Sie formte ein spekulatives Abbild. Durfte sie das? Sie hatte das Leid in den feuchten Augen ihres Onkels gesehen, wenn er von Selma sprach. Als Achtjähriger sah er, welches Grauen seiner Mutter widerfuhr. Auch er schwieg, wie sie. Doch seine schwimmenden Augen sprachen. Kalter Atem überm Eismantelkragen.
Die alte Frau Morgenstern hockte versteinert am Computer, als sie die Hände von der Tastatur nahm. Sie grübelte: Vielleicht waren das stoische Festhalten und Bleiben am Ort im Osten eine der späten Folgen jenes Heimatverlustes. Halt bewahren am Fluchtpunkt, solange es ginge, damit nicht schon wieder das eigene Land zwischen den Händen zerrann. Wer weiß. Es wäre zumindest eine Erklärung für das Verharren. Auch des kriegsversehrten Vaters, der seinem Bruder nicht – wie verabredet – in den Westen folgte, obwohl es in den 50er Jahren noch gegangen wäre. Ein Fund im Netz, Worte von Astrid von Friesen, trieben ihre Gedanken voran:„Eine weitere Spätfolge für Angehörige der Vertriebenen in der zweiten bis hin zur dritten Generation sind Depressionen. Wenn bei Eltern- oder Großelterngenerationen ein Besitz- oder Prestigeverlust auftrat, können ganze Familien erstarren.“ (*)
Das könnte auch für die Lebensbrüche gelten, die so vielen Ostdeutschen mit und nach der Wende widerfahren sind. Lea Morgenstern nickte und wusste zugleich; Melancholie floss schon seit Kindertagen in ihren Adern. Sie atmete hörbar und streckte sich. Sie musste raus in den Garten, abschalten – und nicht mehr diesem Dunkel nachspüren.
Lichtmess. Vogelgezwitscher. Ein Blütenhauch. Erstes Sonnenlicht nach grauen Wolkentagen. Irgendwo ein Lachen unter freiem Himmel. Lea Morgenstern lief blinzelnd über ihr Winterland. Die Gedanken waren angezündet und wollten nicht schweigen. Mitte der 90er. Verschwundene Zeit. Sie hat gezerrt an einem, erinnerte sie sich.
Nebelkerzen
Das Paar neben Bo reizte schon eine ganze Weile seine professionelle Spürnase. Eigentlich wollte der Skandalschreiber nur seine eben gelieferte Seelenstory mit einem doppelten Ramazotti aus Hirn und Magen treiben. Doch so müde und abgelaufen er auch an diesem lausigen Berliner Novemberabend war; ein Abschalten wollte ihm nicht gelingen. Es lag nicht allein an den Wortfetzen der zierlichen Frau neben sich am Tresen. Der aufreizende Schlitz in ihrem schwarzen Seidenkleid legte ein Bein frei, das die Chemie des Mittfünfzigers keck animierte. Süße Spätlese. Aber wenn die so weiter schluckt – Fallobst, dachte sich Bo. Er rutschte mit seinem Ellenbogen, auf dem sein wirrer Lockenkopf im Doppelkinn parkte, zu nah an ihren Rücken und fing sich einen scharfen, respekteinflößenden Seitenblick ein. „Is ja schon gut, Lady, keine Aufregung“, raunte Bo und hob ergebend beide Würstchenhände. Dann starrte er scheinbar teilnahmslos in sein Glas und murmelte: „Zickige Tussi.“ Die politische Sprache der Frau irritierte Bo. „Nachtgespräche“ mit prominenten Wendetypen wollte sie führen: Gregor Gysi, Tamara Danz, Friedrich Schorlemmer… deren Wende-Visionen festhalten. Der Sportstyp mit den graumelierten Schläfen hob bedeutsam seine buschigen Brauen und bestellte noch ein Glas Sekt für das mögliche Abenteuer. Wenn sie doch nur nicht so viel über Politik reden würde, dachte er arg strapaziert. Doch die Frau sprach und sprach, als hätte sie Jahre geschwiegen. Sie war dem Dienstreisenden aus Köln gleich in der Café-Bar am Zoo aufgefallen. Einen lebenshungrigen Eindruck versendete die hübsche Frau um Ende Dreißig. Offenbar hockte sie schon eine Zeitlang am Tresen, da witterte der Mann leichte Beute. Die aber hatte sich über die Frage: „Kommen Sie etwa aus dem Ostteil?“, in eine distanzierte Tante verwandelt. Er wünschte sich den koketten Ausgangspunkt der Begegnung zurück und griff unmissverständlich nach ihrer Hand. Doch die Frau zuckte zurück, zahlte und verschwand.
Ärgerlich stieg sie in die S-Bahn, und dachte, hier befindet man sich ja sofort auf dem Fleischmarkt. Sie hasste die grelle West-City. Nach dem Stopp Friedrichstraße wurde die Stadt dunkler. Lea Morgenstern nahm einen tiefen Atemzug: Zuhause. Gefühlte Sicherheit.
Ihre Wohnung in Karlshost roch immer noch nach den Vormietern, die diesen Ort vor ein paar Monaten nach Frankfurt am Main verlassen hatten. Sie riss das Küchenfenster zum Hof auf und atmete die zirpende Sommernacht. Der Tag in Dahlem bei dieser Verlegerin, die mit dem Geld ihres senilen Mannes nur so um sich warf, war ihr ins Gemüt gefahren. Er kratzte an ihrem Selbstwertgefühl. Lea hatte der Frau für ein paar Sonderausgaben von „Kessel Buntes“ wirklich feine Texte geliefert. Als sie heute die druckfrische Erstausgabe zu sehen bekam, las sich das alles, als wären die Geschichten durch einen Zerhacker gerauscht. „Ja, eure Ostschreibe mussten wir leider erst unserem Blattstil anpassen…“ Wenigstens hatte Lea einen Hunderter nach Hause gebracht, aber das tröstete nicht. Sie war viel zu vertrauensselig auf verschlungene Wege geraten.
Diese alte Freundin, die so scheinbar hilflos auf ihrem Sofa schluchzte, dass sie nicht weiterwüsste. Lea zeigte ihr, welche Schritte sie gehen könnte: Ein passendes Thema finden, Konzept oder Exposé dazu entwickeln, ein, zwei Probestücke schreiben und mit alledem einen Verleger suchen. Dummerweise gab sie ihr, der Literatin mit dem einen Gesprächsband aus DDR-Zeiten, auch ihr neuestes Exposé „Fallen & Aufstehen – Frauenporträts aus Ostdeutschland“ zur Anschauung, während sie neuen Kaffee kochte. Ein halbes Jahr später rief diese Dahlemer Verlegerin bei Lea Morgenstern an: „Sie kennen doch Frau M, wissen Sie, wo diese Frau steckt? Sie hat mir einen Buchtext versprochen, den ich inzwischen beworben habe, und nun liefert sie nicht. Es geht um abgewickelte Ostfrauen.“ Ach herrje, dachte Lea an das Häufchen Elend auf ihrem Sofa. Die hat doch echt ihr Projekt gekupfert und war nun ergebnislos abgetaucht. Offenbar hatte die Frau unterschätzt, wie viel Arbeit in so einem Porträt-Band steckt. In ihrer Ratlosigkeit fragte die Verlegerin noch, ob Lea nicht mithelfen könnte, das Buchprojekt zu retten. Sie sagte zu, behielt aber für sich, dass sie selbst verraten und bestohlen worden war. Was für Zeiten. Sie hatte ihr sicheres Gespür für den Gang der Dinge verloren und tapste unbeholfen durch die Stadtlandschaft.
Das Rauschen des Asphalts hatte nachgelassen. Heißer Sommer in Berlin, da war die Stadt tagsüber beinahe leise. Lea Morgenstern saß auf ihrem großen Gründerzeitbalkon, der wie ein Gartenzimmer anmutete und schrieb. Seit dem Winter wohnte sie hier; die Vierraumwohnung in Karlshost war für sie allein zu teuer geworden. Die Frau hatte sich von ihrem Mann getrennt und ihn zurück zu seiner Mutter geschickt. Nach zwei Jahren Umschulung war er einfach nicht bereit, bei den „Kapitalisten zu arbeiten“. Blank liegende Nerven, die die Restliebe erstickten.
Diese zwei Zimmer im vierten Stock, am Rande des Prenzlauer Berges, passten jetzt besser zu ihren unsteten Einkünften. Sie gönnte sich den kleinen Luxus, jeden Morgen beim Griechen an der Ecke einen Kaffee zu trinken und dabei die üppige Zeitungsauslage zu studieren. Dabei entdeckte sie eine Anzeige, in der ein Fachredakteur gesucht wurde. Sie fuhr in die Stadt am Rhein und bekam eine Honorarstelle. Ihre Hausbau-Reportagen aus dem Osten wurden sehr bald deutschlandweit wahrgenommen. Wie sie diese Bauplätze zum Erlebnis machte und Emotionen weckte, das gefiel. Bisher schrieben für diese Branche vor allem Bauingenieure. Lea brachte ihr journalistisches Handwerk mit, das war etwas vollkommen anderes. Die sperrigen Fakten lagerte sie in Info-Kästen aus, und schon las sich das Unterfangen geschmeidig. Ein Jahr später fragten auch andere Fachzeitschriften nach ihr. Es war also ein bisschen Sicherheit bei Lea Morgenstern eingezogen. Das machte zwar noch keinen Urlaub möglich, doch eine Woche Auszeit wollte sie sich gönnen, um sich auszuruhen. Vielleicht ein Märchen schreiben. Sich wegdenken. Im Existenzstress der vergangenen Monate war sie fahrig geworden und auf 48 Kilo abgemagert. Wahrscheinlich rauchte sie auch einfach zu viel und schlief zu wenig.
Berlin erlebte derweil italienische Nächte. Nachts fiel die Temperatur kaum unter 25 Grad. In den Biergärten flossen die geistigen Getränke, als gäbe es kein Morgen, und ein Stimmengemurmel und Gelächter schwappte von den Balkonen und aus den Freisitzen der Szenekneipen hinüber ins Dunkel. Manche Nacht zog die Hitzewallung der Stadt Lea Morgenstern hinein in das bunte Treiben. Für ein paar Stunden die Sorgen vergessen. Sie trank ihren Rotwein und sah dem Treiben zu: den Rosen- und Schmuckverkäufern. Wie die Single-Damen ihre Auftritte inszenierten, während sie die Interessenten checkten. Dazwischen die abgelaufenen Zeitungsverkäufer, einer, der schüchtern Öko-Märchen anbot, und die herrlich schillernden Straßenmusiker, die die Herzen tanzen ließen. Überall leuchtende Gesichter. In diesen Nächten war Berlin ein Traum für Großstadtfantasien aller Art. Lea ersann sich daraus ihr Urlaubs-Märchen und bemerkte, dass kreative Auszeiten ihr guttaten.
Trau, schau, wem.
Kein Rat nirgends. Alle beruflichen Verbindungen waren nach der Wende rasch zerbrochen, und neue Bündnisse ließen sich kaum schmieden. Das Wort „Seilschaft“ machte es anrüchig. Während Westdeutsche Jobs im Osten übernahmen und ungeniert ihre Netzwerke ausbreiteten, wurstelten die ostdeutschen freien Kollegen jeder für sich allein. Sie trauten einander nicht mehr und verbündeten sich stattdessen mit Leuten aus Köln oder Hamburg. Wer wusste schon, was manchem Ossi am Hacken steckte. Man wollte sich nicht für andere ins Verderben stürzen. Es war gegen Lea Morgensterns Naturell, aber sie wuchs in dieser Zeit zum beruflichen Einzelgänger und sprang in die Selbständigkeit. Vielleicht hätte sie besser beim Arbeitsamt auf eine Umschulung gewartet?
Der Spruch „Trau, schau, wem?“ wurde zu ihrem Richtfaden. Lea Morgenstern führte inzwischen Listen über ihre Erwerbsarbeit und dem Kreieren von Zukunftsarbeit. Darunter standen die Aufträge und Projekte, ob es gute oder zähe Arbeiten waren. Wer bezahlte wie vereinbart, wer war sittenwidrig, wen musste sie mahnen, wer zahlte nie. Sie sortierte aus, um festeren Boden zu erlangen. Alles, was sie in diesen Tagen schrieb, jede Ideenskizze, jeden Befindlichkeitszustand, Briefe, Konzepte und ihre Artikel sammelte sie auf einem Stapel. Wenn der drei Zentimeter hoch war, verpasste sie ihm ein Deckblatt und ließ ihn im nächsten Copy-Shop binden. Bei 70 Arbeitsstunden pro Woche kam viel, sehr viel Papier zusammen, doch diese Arbeitstagebücher halfen ihr, sich selbst zu vergewissern. Sie zeigten ihr, dass die Dinge vorankamen.
Nach ein paar guten Jahren fiel Ende der 90er eine Rezession über die Baubranche her. Nie erlebt. Ungewissheit auf allen Seiten. Wie gingen in dieser Krise nun Verlag und Autor miteinander um? Die in der Krise steckenden Hausbaufirmen finanzierten nicht mehr mit ihren Anzeigen die Fachblätter. Einige machten dicht, andere sparten. Manche ostdeutsche Fachzeitschriften-Verleger agierten unehrenhaft. Sie trieben skrupellos ihre freien Mitarbeiter in die Not, indem sie Aufträge vergaben und diese monatelang nicht bezahlten. Da war sie wieder, die Angst unterzugehen. Sie heizte den Ofen mit Lenis Gesamtausgabe. Mietschulden entstanden, und nicht gezahlte Krankenkassenbeiträge machten Arztbesuche unmöglich. Es ging ihr schlecht.
Die lange Winternacht wollte nicht enden. Sie kroch wieder aus ihrer Schlafkammer. Draußen schneite es. Lea Morgenstern öffnete die Balkontür und rauchte. Die Kälte kroch ihr unter den Bademantel, aber ein Gedanke ließ sie nicht los. Neulich traf sie für ein Künstlerporträt in der Lausitz einen Maler, der mit Asche und Wasser von den Höfen im Abraum-Gebiet malte. Sein Heimatdorf war für den Kohleabbau vorgesehen. Es war schon leergezogen, aber dieser Mann schrie malend seinen Verlustschmerz auf die Leinwand. Das hatte sie beeindruckt. Sie hatte vor ihrem Studium eine grafische Lehre absolviert, und jetzt, tief in dieser Nacht, ahnte sie, es würde ihr helfen, wenn sie wieder malen würde. Nachts, ohne Zwänge. Sie holte ein paar große Müllsäcke herbei, legte damit das lauwarme Wohnzimmer aus, rollte darüber Packpapier und goss sich etwas alte Holzbeize in ein Schraubglas. Einen Ringpinsel, den sie noch vom Malern übrighatte, tauchte sie in die braune Tunke. Die pure Emotion führte ihr die Hand, und der Schmerz, sich wieder benutzt und ausgenommen zu fühlen, trieb aus ihrem Inneren wurzellose Gestalten hervor. Und dann die Närrin: eine Pierrette mit gefallener Maske, die sie „Verlorenes Lachen“ nannte. Willkommen, du Schöne, sprach sie mit ihr morgens um vier. In der nächsten Nacht entstanden ein Fährmann, ein Sensenmann, die Sonnensucher, Seelensurfer, Winterschläfer, Schattenfänger und immer wieder Narren… Sie fühlte, wie sie nachts beim Malen zu leuchten begann und ein Bilderkosmos entstand. Morgens rollte sie die Blätter zusammen und schrieb oder recherchierte nüchtern, was zu schreiben war. Ohne diese wilde Malerei wäre sie nicht durch diese Zeit gekommen, und das Existentielle sah man diesen Bildgestalten an.
Kein Jahr später begann sie in Szenekneipen auszustellen, und hier wuchs ihr neuer Freundeskreis: Dichter, Maler, Musiker, Orgelbauer, Therapeuten, selbstständige Kleinunternehmer, Wirte, die eigentlich Schauspieler waren, Dramaturgen, Synchronsprecher, Tänzer, Clowns, Fotografen, ratlose Arbeitslose und Trinker. In den Kneipen zwischen Immanuel Kant- und Winsstraße traf man sich und begann einander beizustehen. Leute ohne Wurzeln.
Im folgenden Regensommer fand Lea Morgenstern im Baumarkt neben der braunen Holzbeize auch sonnengelbe Trockenbeize. Wieder reiste sie im Kopf in die fiktiven Ferien, und das mangelnde Sonnenlicht gab ihr den Anstoß zu heiteren Cartoons auf sonnengelben Grund. Die Protagonisten: Schräge Vögel, eine Art Fabelwesen, als Stellvertreter für die Marotten der Stadtmenschen. An diesen Gute-Laune-Cartoons richtete sie sich auf. Ihre erste Marke war geboren. Unverkennbar.
Im letzten Jahr hatte sie an einer Anthologie zu Trennungsgeschichten mitgewirkt, woraus sich zwar wieder kein Geld, aber einige Lesungen mit den verschiedenen Autoren ergaben. Eines Morgens im August 1999 klingelte das Telefon, einer dieser Geschichtenschreiber war dran, um ihr eine Tür zu öffnen. In Frankfurt an der Oder wurde ein Redakteur für ein Wochenblatt und die Kinoseite der Tageszeitung gesucht. Die Stelle war nicht ausgeschrieben, Lea sollte da einfach mal anrufen, sagen von wem der Tipp käme. Er selbst habe darauf keine Lust. Lea zögerte nur kurz. Eigentlich war sie sich für ein Wochenblatt zu schade, aber da war ja noch die Kinoseite, und hatte sie eigentlich eine Wahl? Eher nicht, ihre Misere war schlimm genug. Sie bekam schlussendlich nicht die Festanstellung, aber einen Jahres-Honorar-Vertrag für ebendiese Redakteursarbeit. Elf Monate später hatte sie alle ihre Schulden getilgt. Sie erhielt den nächsten Jahresvertrag. Es würden 18 in Folge werden.
Die erste zehn Jahre nach der Wende waren schwer. Auf vertrautem Boden wurde alles ausgetauscht. Jede Eintrittskarte, jedes Formular, jedes Recht, jeglicher Umgang. Die Ostdeutschen befanden sich in einem Prozess, der sie demütigte und diskreditierte; Verwundete, nicht mehr die stolzen Menschen, die gerade noch ein System und die Berliner Mauer stürzten.
Lea Morgenstern begann nun sehr misstrauisch Angebote zu prüfen und folgte nicht mehr jeder hehren Idee. Sie musste sich selbst beschützten. Das war die Warte, von der aus ihre alte Gabe – die Dinge kommen zu sehen – wieder zum Vorschein kam. Weitsicht gibt es nicht im Strudel. Sie erkannte nun die Schnorrer und Seifenblasenträger und ging ihnen aus dem Weg.
2000 zog sie in eine schöne, große Atelierwohnung im Wins-Kiez. Alles wurde heller, auch ihre Bilder. War es das Millennium oder die Rückkehr ihrer pantheistischen Ideen? Sie wusste es nicht, als sie mit dieser flirrenden Bilder-Reihe begann. Die schaute in verschiedene Welten und Zeiten. Die Figuren darin traten als Zeichen des permanent Göttlichen in allem und jedem auf. Weiß-gelbe Sujets, lichte Mystik. Sie, die Malerin, könnte sich mit diesen großen Leinwänden doch auch leicht und hell fühlen, aber Lea Morgenstern hatte sich verändert. Sie war hart geworden, arbeitete uferlos stoisch wie ein Uhrwerk und fand kaum noch Menschen, die ihr ähnelten.
Solche wie sie waren kaum sichtbar; und Menschen in Anstellung, mit Urlaubs-, Kranken- und Weihnachtsgeld, verstanden ihre Existenzbedingungen nicht. Wenn sie krank würde, fiele sie ins Nichts. In ihrer Furcht vor solchen Umständen schloss sie eine Versicherung gegen die schlimmsten 28 Krankheiten ab. Die war nicht billig, aber sie ließ sie ruhiger schlafen. Doch sie wusste inzwischen auch, dass alle paar Jahre eine neue Krise zuschlagen würde. Nichts war wirklich von Dauer, außer das Mitmenschliche. Das aber war in den Wirren der letzten Jahre fast untergegangen. Lea ging es jetzt wirtschaftlich besser, sie konnte wieder abgeben und sich um andere kümmern, wie schon vor der Wende. Aber nachts, in ihren Träumen, eilte sie über die Trümmerfelder ihres Lebens und suchte einen Namen, ein Gesicht. Immer wurde sie kurz vor dem Erwachen verlassen. Die Seele weiß nichts von Systemwechseln.
Mit sieben anderen Autoren entwickelte sie 2003 den Ratgeber „SelbstverMARKTung freier journalistischer Arbeit“, um nachrückenden Freien den Start zu erleichtern. Ihr selbst stand anfangs niemand bei, aber das musste ja nicht für all die anderen ebenso sein, die in Intervallen aus ihren Festanstellungen entlassen wurden. Eine Folge der virtuellen Konkurrenz für die Printmedien.
Für etliche Kneipenfreunde schrieb sie Lebensläufe, analysierte und debattierte mögliche Wege für Ratlose. Das war ihr eigentliches Naturell. Inzwischen fand sie wieder Kraft, es zum Feierabend auszuleben. Zeit für andere Menschen. Sie entwarf für die Eine ein Logo und für den Anderen ein Konzept für ein Hausmagazin. Kostenlos, einfach als Starhilfe. Für die suizidgefährdete Tochter einer Freundin spendierte sie ein halbes Jahr lang kreative Nachmittagsstunden. Es ging um Zuwendung, Haltsuche, Selbstfindung und Techniken. Umgekehrt fand Lea unter all diesen Kneipenfreunden auch Menschen wie sie – und einen neuen Mann.
Heiligabend traf man sich nach 23 Uhr im Blauen Licht, wo alle miteinander ein großes Buffett ausrichteten, und die Musiker unter den Stammgästen bis 4 Uhr morgens Irish Folk und Rockballaden spendierten. Das letzte Mal würden sie mit allen so feiern. 2007. Die Schlüssel zum Häuschen in der Schorfheide hatten sie bereits. Die letzte Mieterhöhung machte dem freiberuflichen Paar eindeutig klar: mit dem Älterwerden würden sie diese großzügige Stadtwohnung nicht halten können. Sie mussten gehen, um ihr Alter zu sichern.
Das dritte Leben
„Sie doch nicht!“ erwiderte die Post-Bankerin ein bisschen zu laut. „Freiberuflern gewähren wir keinen Hauskredit.“ Die Banken hielten selbst einen guten Erwerbsnachweis nicht für sicher. Und da hatten sie natürlich Recht. Honorarverträge schicken einen auf eine Art Seiltanz, denn sie sind leicht kündbar. Eine Intrige vom Blattchef gegen seinen Stellvertreter im Stammhaus führte dazu, dass die freie Frau Morgenstern als Bauernopfer ihre Kinoseite einen Monat vor dem Umzug aufs Land verlor. Das kappte ihre Einkünfte schon mal um ein Drittel. Gott sei Dank hatte eine Vor-Ort-Bank ein Einsehen und finanzierte zu 70 Prozent den Hauskauf, den Rest regelte Lea Morgenstern über Privatkredite. Für die Wochenblattproduktionen fuhr sie nun drei Wochentage in die Lokalredaktion nach Eberswalde. Mit dem Auto quer durch diesen großen Märchenwald. Vorbei am Großen Döllnsee und dem grünen Wuckersee hinüber nach Joachimsthal und von dort weiter mit der Regionalbahn. Wunderschöne Landschaftsblicke. Es war also nicht verwunderlich, dass die Frau sehr bald Schorfheidemärchen erfand, um der Region schöne Geschichten zu schenken und vielleicht später Lesungen zu geben.
Die Finanzkrise der Banken, die im September 2008 auch in Deutschland spürbar wurde, verdarb ihre ersten Lese-Ideen. Um die Krise zu stemmen, wurden die öffentlichen Mittel für die Kultur eingedampft. Es gab kaum noch zahlende Veranstalter im ländlichen Raum. Lea Morgenstern hatte sich verrechnet, und wieder wurde es wirtschaftlich eng. Aber sie fand 2009 einen Kleinverleger in Mecklenburg-Vorpommern, der ihre ersten illustrierten Regionalmärchen herausbrachte. Einen Vorleseort musste sie sich zunächst selbst schaffen und gestaltete dafür ihren Lesegarten. Märchenstelen aus Lattenrahmen mit Textbannern flatterten darin, und aus dem Efeu lugten Geschichtenplatten. Hier gab es Gartenlesungen für Sommergäste. Und wenn sie mal wieder keinen Verleger hatte, baute sie von Hand ihre gestalteten Künstler-Hefte, die Jahre später zu einer echten Edition wuchsen. Aber natürlich wurde Lea Morgenstern mit den Jahren immer müder, denn lange Ferien kannte ihr drittes Leben nicht.
Die Stille flüsterte: schlaf. Aber das Pfeifen in den Ohren wollte den Schlaf nicht kommen lassen. Sie stand auf, wie sie immer aufgestanden war. Weich in den Knien, doch mit jedem Schritt schob ihr Wille den Körper an. Im Garten duftete die zweite Rosenblüte. Von den Essigrosen pflücke sie sich eine Handvoll Blütenblätter, trug sie in die Küche, schnitt das bittere Gelb heraus, gab sie in eine Glaskanne, dazu ein Salbeiblatt und übergoss alles mit heißem Wasser. Sie wartete zehn Minuten auf den Rosenblütenblättertee, der Herz und Seele leicht machen sollte. Das hoffte sie bei jedem bedächtigen Schluck. War es noch Sommer oder schon Herbst? Viel Braun mischte sich bereits in das Laub der Bäume, deren Blätter welk zu Boden fielen. Seit Wochen war kein Tropfen Regen gefallen, deswegen goss sie die Pflanzen nun auch in dieser Morgenstunde, bevor sie an ihren Schreibplatz ging. Heute würde sie nur Worte sammeln, denn sie wusste noch nicht, wie es weitergehen soll. Sie hatte ihre Kraft in den letzten großen Text fließen lassen, nun war sie weg. Für ein Weilchen oder auch länger.
Wortfetzen wehten aus dem nahen Wald, und ihre Kopfgestalten tuschelten: „Seht ihr sie, unsere Geschichtenmutter? Sie hat uns alle erfunden, aber wir wärmen sie nicht.“ Lea Morgenstern nickte und dachte, es hilft ja nichts, ich muss weitermachen. Die letzte Passage ihrer Lebensreise würde sie durch diesen großen Wald führen. Einen ohne räuberische Wegelagerer, die sind längst in die Städte gezogen, dort ist die Menschenjagd leichter. In diesem Geschichtenwald wehen noch Stimmen derer, die gehört werden wollen. Und während sie das dachte, huschten ihre Fingerkuppen für ein weiteres Märchen über die Tastatur: Der Flusswächter stieg vor ihrem inneren Auge aus dem Nebel überm Döllnfließ. Das Dorf, indem sie nun lebte, war ihr dankbar dafür.
Es ist irgendwie sonderbar, dass die Menschen dazu neigen, den Kreativen spezielle Namen zu verpassen. Wenn Lea Morgenstern Blätter für einen Eulenkalender zeichnete und vielleicht auch noch einen zweiten, galt sie fortan als die Eulenfrau. Schrieb sie Märchen, nannte man sie die Märchentante. Aber wie passt das zu ihren kritischen Alltagsgeschichten, ihrem preisgekrönten Krimi und ihrer abstrakten Malerei? Wenn sie auf ihrem Blog politische Kommentare schrieb, nannte man sie eine Freidenkerin. Die Frau passte einfach nicht in eine Schublade. Wie auch, wenn eine über 35 Jahre all ihre Möglichkeiten nebeneinander – oder auch nebenher – auslebte.
Dennoch kam sie nicht weit, denn ihre politischen und sozialen Ahnungen verharrten im Privaten der Frau Morgenstern. Sie schrieb Bücher, die aber kaum über die Uckermärkische Landesgrenze hinauskamen. So blieb sie eine Autorin im gesellschaftlichen Randschatten. Gefühlt wirkungslos. Treibmittel für ihre Notate war die allgegenwärtige Unfähigkeit der politischen Akteure, zu erkennen, was kommen würde. Was aus den überheblichen Siegerposen im Deutschen Vereinigungsprozess, der Flüchtlingskrise, der Finanzkrise, den politischen Fehlern in der Corona-Zeit, der Energiekrise und den unsozialen Transformationen… folgen würde. Diese mangelnde Weitsicht und das allgemeine Schöngucken regten sie auf, und wenn sie nicht die passenden Worte fand, schuf sie grafische Figuren, die ihrem Frust Gestalt gaben: Den Sinnsucher mit Pestmaske beispielsweise. Frau Morgenstern wollte eine unabhängige Stimme sein, doch im Ampel-Chaos der letzten Jahre wuchsen ihre Systemzweifel: Gerät das Land aus lauter Selbstgerechtigkeit seiner Demokraten in den Wahnsinn des Totalitären? Auf jeden Fall aus den Fugen.
Lücke in der Zeit
Wo waren nur die letzten Wochen hin? Eine stumme Schwebe durchzogen sie, und nichts, wirklich so gar nichts hatte sie aus dieser Zeit vorzuweisen. Keine gute Zeile, kein Bild, keinen Gedankenblitz. „Hals und Beinbruch!“ als Glücksformel zu benutzen, das ist einfach nur grotesk, dachte die humpelnde Frau. Es ist wohl eher so, dass das neidzerfressene Theatervolk nur auf einen Unfall lauerte, der die Zweitbesetzung ins Rampenlicht befiehlt. Wer spielt gerade ihre Rolle, während sie im Dornenschuh die Lücke in der Zeit durchschritt? Sie spürte ganz deutlich, wie sie verschwand. Verborgen zwischen nicht notierten Zeilen. Feststeckend im Schmerz-Rondo ihrer Bein-Fraktur.
Es war die neunte Woche in diesem Zeitvakuum, als sie sich endlich von ihrem zerwühlten Lager erhob, um sich auf einen Rollator gestützt, durch die Wohnung zu bewegen. Vorsichtig und instabil. Die Hände schmerzten vom abzufedernden Gewicht, als würde sie an Geräten turnen. Es wird Zeit, die Lücke zu schließen…
Weihnachten lief sie wieder freihändig, und Ende Januar 2025 begann sie diese Zeilen zu schreiben. Es war die Zeit für Lea Morgenstern gekommen, weiterzugeben, wie man Krisen durchschreiten kann und seinen Stolz wiederfindet. Ein leises und vielleicht auch vergängliches Angebot für all jene, die sich fürchten in einer Welt ohne Kompass.
5. Februar 2025
Feedback von Facebook:
Andre Jahr schrieb auf FB am 9. Februar
Danke, liebe Petra!
Phu, habe jetzt die Lesezeit gefunden, zwischen dem ganzen Wahnsinn der sich zuspitzenden Zeit der „Irren und Idioten“. Einer Zeit, in der man sich immer wieder fragt: Sollte ich mich ganz zurückziehen? Das ist nicht mehr meine Zeit. Sollen Sie halt zugrunde gehen. Die Jüngeren müssen es jetzt richten. Und dann meldet sich aus dem Inneren diese Stimme, die sagt: Nein, ich mache irgendwie weiter, so gut ich eben kann, mit dem was ich kann, auch wenn kaum Lohn in Sicht ist. Und trüben sich die Tage stark ein, gönne ich mir ein wenig Traurigkeit um bald wieder das Licht, die Schönheit und das Leben zu feiern.
Für mich liest sich Dein prima geschriebener Text, wie die Vorbereitung auf eine Novelle, oder gar einen Roman. (keine Sorge, lass dich nicht von mir bedrängen ) Der erste Teil hat mich noch einmal auf das Thema der Vertriebenen gebracht. Ich glaube viele Familien haben damit ja Berührungspunkte. Vielleicht im Osten mehr als im Westen? Ich weiß es nicht – eigentlich auch egal.
In der DDR existierte es wohl eher ein wenig unter der Oberfläche, doch ploppte es nach der Wende hier auf. Mein CDU-Onkel, der in der Tat sein Dorf im – inzwischen – Speckgürtel von Neuruppin als Bürgermeister wirklich überdurchschnittlich gut erneuert und vorangebracht hatte, war auf einmal im „Bund der Vertriebenen“. Da gab es auch eine Art Ortsgruppe in Neuruppin. Das hatte mich im Angesicht der zu dieser Zeit nochmal erstarkenden westdeutschen Revanchistenverbände sehr erschrocken. Doch es zeigte sich, dass diese Menschen in den allermeisten Fällen einfach nach ihren Wurzeln suchten und nicht darauf aus waren die ehemaligen Territorien bzw. Besitztümer zurückzuerlangen. Ich glaube Ende der Neuziger war das Thema dann auch durch. Allerdings denke ich, hätten sie das vielleicht auch vor der Wende in gleichem Maße tun können.
Euch einen schönen Schorfheidesonntag !
Antwort:
Lieber Andre, ich bin sehr dankbar für Dein Feedback. So etwas ist inzwischen auch eher selten geworden… Ich werde wohl an der zweiten Hälfte noch einmal arbeiten, der berichtet noch zu sehr. Aber, Du wirst es vielleicht kaum glauben, mir wird beim Schreiben über diese Zeit übel… Liebe Grüße von Petra