Eine Geschichte entsteht:

Einsam (5 – der Schluss)

Erzählt für Erwachsene

… Als sie am Morgen des Heiligen Abend den Frühstücksraum ihrer Pension betrat, wartete auf Julis Stuhl ein großes Paket auf sie. Es roch nach Heimat. Die wenigen verbliebenen Gäste lächelten erwartungsvoll. Jeder von ihnen wusste, dass ein Weihnachtsfest fern der Familie schmerzendes Heimweh auslösen konnte. Schon die letzten Tage im Advent hatte sich die Seele der jungen Frau verdunkelt. Sie wirkte abwesend und in sich gekehrt. Juli zögerte erst, packte dann aber vor aller Augen aus. Obenauf lag der Bär, den sie sofort an ihr Herz drückte. „Mein Tröster! Ach, wie hab ich dich vermisst, mit dir kann mir nichts mehr passieren,“ frohlockte sie und lachte schief. Sie fand handgestrickte Socken (super bei 30 Grad!), eine Dose mit den köstlichen Familienplätzchen und zwei dicke Bücher über Meeresbiologie. Die wollte sie schon lange haben. Als Letztes eindeckte sie ein Kuvert mit einem Sparbuch, begleitet von einem Zettelgruß der Eltern: „Es wird dir helfen, dein Auslandssemester zu finanzieren. Wir umarmen dich.“
Juli fühlte sich gestärkt. Sie wusste jetzt, sie würde nach dem Semester guten Mutes heimkehren. Und die Zeit bis dorthin beschützte ein kleiner Bär heimlich ihre Wege.
©Petra Elsner

Eine Geschichte entsteht:

Einsam (4)

Erzählt für Erwachsene

…„Ich dachte mir, sie wollte mich auf ihrer Reise nur nicht verlieren. Kommt ja oft Gepäck weg, habe ich gehört. Vielleicht hat sie auch geglaubt, dass sie mich nicht mehr braucht. Aber man ist doch nicht frei von Erinnerungen, nur indem man etwas zurücklässt. Erinnerungen wohnen in unseren Gedanken, man hat sie immer bei sich.“
Der Besen nörgelte „Wenn du meinst.“ Er wusste, man kann Erinnerungen auch verdrängen, sogar gänzlich ausblenden, aber er wollte dem Bären nicht die Hoffnung nehmen und schwieg. Warum sollte sich Juli an ihre Heimat erinnern wollen, wenn sie doch vor ihr davonlief?

An einem Sonntagmorgen im Dezember klingelte das Telefon im Flur. Der Vater drückte die Stummtaste seiner TV-Nachrichten und lief in den schmalen fensterlosen Gang: „Hallo? Juli???“ Die Mutter sprang aus ihrem Zimmer hinzu, nun lauschten beide. „Hallo ihr Zwei. Wie geht es euch? Habt ihr Schnee?“ Juli druckste herum, als die Eltern wissen wollten, wie es ihr selbst ginge. Bis die Mutter geradeheraus fragte: „Was ist wirklich los mein Kind?“ Da erzählte die Zwanzigjährige, sie habe sich beim Surfen das rechte Schlüsselbein gebrochen und könne nun einige Wochen nicht mehr Kellnern. Ohne das Trinkgeld käme sie nicht zurecht. Ihre Worte „…ich werde wohl mein Pensionszimmer verlieren. Könnt Ihr mir bitte helfen?“, brachte die Mutter auf Trab. „Natürlich Kindchen. Was sollen wir Dir überweisen?“
Der Vater sandte umgehend die gewünschten 1000 €. Beide ahnten jedoch, dass Juli damit nicht weit kommen würde…

Eine Geschichte entsteht:

Einsam (3)

Erzählt für Erwachsene

…In der Nacht öffnete er das Fenster, sah nach den Sternen und dachte an Juli. Sie arbeitete inzwischen täglich ein paar Stunden in einer Bar am Bondi Beach von Sydney, danach surfte sie auf den Wellen. Sein Kopfkino zeigte ihm Bilder von einem leichten Leben. Ted gönnte ihr den Strandspaß, aber zugleich dachte er, es sind zu viele junge Menschen, die jedes Jahr die Heimat verlassen. Der Bär wusste nicht genau, weshalb sie auswanderten, es musste etwas sehr Beunruhigendes sein. Aber war die Summe der Bedrohungen nicht überall gleich groß? Offensichtlich lebte es sich anderenorts trotzdem leichter. Ach, sinnierte der Bär: Beim Wellenreiten lernt Juli wenigstens, dass schöne Momente die Zeit dehnen. Sie kann sich darin genussvoll strecken und das Hamsterrad der immer schneller werdenden Hatz abstreifen. Ted sehnte sich durch die Sommernacht. „Ob alle Auswanderer ihre Bären vergessen einzupacken?“ Er merkte gar nicht, dass er inzwischen seine Gedanken halblaut vor sich hinsprach und der Besen ihn hörte. „Vielleicht vergessen sie ihre Bären gar nicht, sondern verlassen sie ganz bewusst, um mit ihnen die Erinnerungen zurückzulassen.“ Ted blickte erschrocken den Besen an…

Eine Geschichte entsteht…

Einsam (1)

Als wir die Masken ablegten, sahen wir in all die erschrockenen Gesichter. Sie sprachen wortlos von Angst, Verwirrung, einer großen Leere und von Verlusten. Aber die Traurigkeit wich rasch einem übertünchenden Sommerleben. Als der Herbst kam, sahen wir die Schäden. Verhaltensstörungen und Lernschwächen. Es reichte offenbar nicht, dass wir drei Lebensjahre verloren hatten und mit den Folgen kämpften. Es musste von den Meinungsmachern hervorgekehrt werden, wer mehr gelitten hat und wer noch einsamer als der Einsamste gewesen war. Das hat uns beschäftigt und das Hinterfragen der Pandemiemaßnahmen verschoben. Das Zerlegen der Gesellschaft nahm weiter Fahrt auf. Die Jungen gegen die Alten, die Andersdenkenden gegen den Rest, die Linksgrünen gegen die Weißbrote. Stadtgesellschaft gegen die ländlichen Sitten. Die Lebensschönheit verschwand und die Debatten gerieten in den Zerhacker. Überall Feindschaft und ein Krieg vor der Tür. In all dem Getöse dämmerte ein Bär im Kinderzimmer…