Morgenstunde (1053. Blog-Notat)

Es ist Sonntag und klitzekleines Bisschen besser. Nicht durchgehend, denn die Wirkung der Inhalation hört nach vier Stunden schlagartig auf. Dann wieder von vorne… Dazwischen Kochen, Schlafen, Schreiben. Ab morgen kommt das Zeichnen wieder hinzu, der Verlag wünscht sich 12 neue Schräge-Vögel-Motive für einen neuen Kalender. Damit habe ich ein paar Wochen zu tun… und da ich wegen dem Inhalieren nicht vor die Tür kann, kommt mir das gerade recht… Schönen Sonntag allerseits!

Kleine Leseprobe:

Maria Jons in Bedrängnis (Arbeitstitel der Kriminalgeschichte)

Am frühen Abend kam sie mit der Bäderbahn in Bansin an und lief wie jeden Wochentag hinunter zum Kutscher. Auf ein Feierabendgetränk. Dort würde sie zwanglos mit Menschen rumalbern können. Sie schniefte in das x-te Taschentuch und atmete beim Laufen schwer. Anwältin Maria Jons wusste, eigentlich gehörte sie ins Bett, doch obwohl sie schwer erkältet war, folgte sie stoisch ihrer Routine und kehrte in das urige Etablissement mit den zilleartigen Wandmalereien und den derben Trinksprüchen ein. Manche Menschen scheinen einen speziellen Reiz dabei zu empfinden, wenn sie andere mit ihrem Elend infizieren. Gesundheitlich und seelisch. Maria Jons war so eine Type. Bevor sie in ihre schicke Eigentumswohnung an der Promenade aufbrach, keuchte sie noch zweimal schwer in die Tresen-Runde. Volles Rohr, ohne Deckung. Der junge Mann, den sie schon seit Wochen anbaggerte, wandte sich entsetzt ab. Aber die Bazillen hatten längst getroffen. Während die Mitfünfzigerin noch meinte: „Eine Nacht auf Menschenhaut schwitzen heilt alles. Kommst du mit, Luka?“, wehrte er die lästige Anfrage nur noch genervt ab: „Bin vergeben.“ Jemand anderes am Tresen wusste aber in diesem Augenblick: die Bazillus-Wolke hat mir gerade einen Sargnagel verpasst.
Mitternacht. Im Irish Pub endete der Freitags-Schwoof. Die Musiker packten ihre Instrumente ein, während die euphorisierten Gäste nach und nach zahlten. Im Nachtblau über der Promenade sah er eine schwankende Frau und einen tanzenden Schwan. Ein Trugbild, dachte Luka, während er eine bestimmte Villa ansteuerte…

In der dritten Klausurwoche

Morgenstunde ( 772. Blog-Notat)

Es geht nur sehr langsam vorwärts. Jeden Tag nicht mehr als 20, 25 Zeilen. Immer wieder nachdenken, wird das auch gut erzählt? Ist es nicht zu schwer… Putzt es den „blinden Fleck“ unter dem so viele im Osten leben und lebten? Ich bin nicht sicher, taste mich voran. Das Versenken in jene Zeit kostet Energie und dann ist heute plötzlich der Himmel aufgerissen, man möchte draußen sein, aber für mich ist es zu eisig.

Die nächsten Zeilen zur Geschichte:

…Immer noch diese mangelnde Empathie, dachte Elias, der den Wortwechsel gehört hatte. Der Mann, der da dem Düsseldorfer Produzenten kurz in die Parade fuhr, hatte 1992 sein Referendariat in Saarbrücken gemacht. Jörg Goldmann hörte täglich, wie dort die Lehrerkollegen über die unterbelichteten Ossis herzogen. In ihrer Wertigkeitsskala standen die nur knapp über den Flüchtlingen. Da war er wieder, der „Herrenmensch“, der aburteilte, Kraft seiner Wassersuppe. Eines Tages wurde der Referendar Goldmann von einem Kollegen befragt, warum sein Englisch so dürftig sei, woraufhin er antwortete: „Mein Russisch ist besser.“ Der Kollege sprach nie wieder ein Wort mit dem enttarnten Ostdeutschen. Aber dieser kalte Krieger war wenigstens zu Hause geblieben, andere kalte Krieger gingen mit Buschprämie in den Osten, führten sich wie Besatzer auf und evaluierten oder kauften sich die Aufstiegswege frei. Natürlich gab es auch andere, freundliche, zugewandte neue Nachbarn, nur die fielen nicht so auf. Denn tendenziell glich dieser Aufbruch gen Osten einer lauten, aber unblutigen Landnahme. Die Besiegten schickte man zum Arbeitsamt oder in den vorzeitigen Ruhestand. Diese Landnahmen kamen und kommen in Wellen immer wieder. Im hippen Berliner Prenzlauer Berg verschwanden zuerst die Alten. Aus dem avantgardistischen Kiez wurde nach und nach ein teures gutbürgerliches Wohnviertel. Künstler und weniger Betuchte zogen in den 2000er Jahren in die Platte am Stadtrand oder gleich aufs Land. Aber auch dort sind sie nicht sicher. Denn den permanenten Umbau der Lebensverhältnisse regelt das Geld, und das muss hecken… Elias Kühn zahlte. Er hatte genug Wein und genug von diesen Gedanken.

Am späten Vormittag erwachte er eingerollt unter der Sofadecke. In den Ohren das Rauschen der Erinnerung. Nicht an den gestrigen Abend. Er hatte wieder von ihm geträumt. Wie er da hing in seiner Scheune. Unter seinen Füßen eine leere Flasche Korn und seine Lebenszeugnisse: Der Abi-Abschluss aus dem Jahr 1960, sein Diplom als ML-Lehrer, Arbeitsverträge und diese eine Kündigung. Allesamt rot durchstrichen. Kein weiteres Wort. Einfach nichts. Der Vater hatte sich für den Abgang aus seiner Geschichte entschieden. Das neue Leben hatte er erst gar nicht versucht. Als im Fernseher die jubelnden Menschen auf der Mauer sah, hat er sich einen großen Weinbrand eingeschenkt und gemeint: „Das wars.“ Der Glanz verschwand aus seinen Augen, sie waren schlagartig leer. Ein Jahr später, exakt am 9. November 1990, nahm er sich den Strick. Der Anblick jagt seither als Schauer durch seine schlechten Träume, vor allem, wenn er zu viel Rotwein hatte. Du darfst dich nicht so gehen lassen, Kühn, schimpfte er innerlich. Mit Klamotten nächtigen. Man, geht gar nicht!
Der frühe Tod des Vaters und der seltsame Wandel der Stiefmutter, die 1991 vom FDJ-Zentralrat direkt in ein Brandenburger Finanzamt wechselte, hatten in ihm einen unbändigen Freiheitswillen ausgelöst. Er ertrug einfach solche Sprüche nicht, wie die seines Germanistik-Profs: „Ach, Sie kommen von daher, wo gleich das Licht ausgeht.“ Elias Kühn wollte sich sehr bald nicht mehr von jedem, der von der anderen Seite der Elbe kam, anpinkeln lassen, und so wurde er freier Journalist und Sachbuchautor und hielt sich mit seiner Schreiberei einigermaßen über Wasser.

Zerknirscht von der Nacht ließ er sich ein Vollbad ein.
Im warmen Wasser entspannte er sich langsam, aber er spürte etwas, was sich lange schon auf seine nackte Winterhaut gelegt hatte und sich nicht wegspülen ließ: Einsamkeit. Der Mann fühlte sich zurückgelassen. Die meisten Ostdeutschen meinten, wenn sie von Freiheit redeten, wohl eher Reisen und Wohlstand. Das hatte er irgendwie anders verstanden. Freiheit war für ihn immer auch Wagnis, denn wer unangepasst leben wollte, der musste es auch verantworten. Wohlstand war nicht seine Realität. Er hatte schwer damit zu schaffen, nicht unterzugehen, denn es gab einfach keinen gewachsenen Beistand. Im Grunde waren alle, die er aus dem abgewickelten Land kannte, verschwunden.  Im Westen, oder in den neu zu schaffenden Institutionen abgetaucht: den Arbeitsämtern, den Krankenkassen, dem Bafög-Amt… geduckt in Sicherheit. Ja, er hatte im Blauen Licht mit der Zeit eine Ersatzfamilie gefunden. Einen wilden Menschenmix. Aber niemand von diesen Leuten hatte zusammen mit ihm vor der Abi-Prüfung gezittert, die erste Fete gefeiert, im Singeklub gemeinsam geträllert oder Trauer durchlitten, wenn schon wieder einer abgehauen war. Keiner von denen war bei ihm und erinnerte sich noch daran, wie es war an seiner Seite, woran sie damals glaubten und an was sie nicht mehr glaubten. Er war müde von den vielen Erklärungsversuchen bei Ost-West-Begegnungen. Man verstand einander nicht. Er hatte einst bei Diego Viga gelesen: „…einmal Gedachtes kann niemals ungedacht werden, was eingegangen ist in den Menschengeist, wirkt fort…“ Das war ihm Trost. „Aber irgendwie verschwindet es schon“, murmelte der Mann und blies in den Seifenschaum, so dass der flockte und zerplatzte. Es fiel ihm schwer sich aus der Nachdenklichkeit zu erheben, doch er musste, denn er hatte eine Verabredung mit Maja, die ihm Illustrationen zeigen wollte…

Foto: Lutz Reinhardt