Morgenstunde (782. Blog-Notat)

Am Donnerstagnachmittag begann der Frühling. Erster Kaffee unterm Glasdach. Ich habe einen halben Komposthaufen nach dem Baumschnitt ins neue Hochbeet verfrachtet, was ich heute gut merke, aber ich bin froh, dass das halbwegs noch gelingt, wenn auch nur mit zig Verschnaufpausen und blauen Flecken. Die Stimmung ist immer noch schwankend winterlich hart, frühlingshaft mild. Antje Vollmer ist diese Woche gestorben. Nach ihrem finalen Essay in der Berliner Zeitung waren wir zwar vorbereitet, aber wie immer, wenn eine Große geht, bleiben wir ratlos zurück. Sie war als Pazifistin und politischer Mensch Nahrung für mein Denken. Hans-Eckhardt Wenzel hat ihr/uns ein Grablied geschrieben, dass in mir weiterschwingt: „Ach, wie gerne würd ich fragen, hoffen übers Meer aus Schweigen, dass die Toten von uns trennt…“
Und so wankt die Stimmung zwischen Verlust und Wandel – im Garten ist es besser… Habt ein schönes Wochenende alle miteinander und wärmt Euch!

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Morgenstunde (781. Blog-Notat)

Die Schneeglöckchenzeit neigt sich, aber bevor das erste Leuchten im Garten vergeht, zeige ich Euch meinen „Schneeglöckchenweg“. Nein, kein Spalier, alle zehn Meter befindet sich ein kleiner Blüten-Batzen am Weg. Es ist ein bisschen wie Ostereier suchen, beim Entdecken wird gelächelt. Gestern sang der erste Star dazu sein Lied, dass sind so die Momente, die beständig sind, alles andere ist eher im Rutschen. Wir erleben derzeit die Demontage unserer vertrauten Lebensverhältnisse. Nicht mit Augenmaß, ohne Empathie und Bodenhaftung. Die Ampel hat es geschafft, ärmere Schichten der Bevölkerung innerhalb eines Winters ins Elend zu stürzen. Wer diesen Menschen Energiepreise verordnet, die ums Doppelte so hoch sind, wie deren Einkünfte, der schiebt genau diesen Prozess im Eiltempo an. Ob die Selbstgerechten etwas von Gerechtigkeit verstehen? Ich glaube inzwischen – kaum.

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Morgenstunde (780. Blog-Notat)

Ausstelungsflyerfoto: Manfred Lentz

So langsam laufen die Vorbereitungen für die Gemeinschaftsausstellung der 14 Buschdorf-Künstler in der Zehdenicker Klosterscheune an. Wer es sich vormerken möchte: Am 30. April, 14.30 Uhr wird die Vernissage stattfinden. Die Kurtschläger Samba-Trommler Os Velhos Sambeiros werden dem Fest ein musikalische Sahnehäubchen spendieren. Ich werde mit zwei Fahnenbildern und einigen Buchillustrationen vertreten sein. Das Rahmenprogramm für die Laufzeit (bis 25. Juni 2023) der Schau steht noch nicht fest. Ich plane zu Ende Mai/Anfang Juni eine Musikalische Lesung, aber die Ideen der 14 Akteure gilt es noch zu koordinieren.  Ansonsten schleichen die Tage, uns drückt die Sehnsucht nach Wärme und Frühling, doch heute Morgen liegt der hoffentlich letzte Hauch des Winters starr im Hof. Alles sieht eisig aus, möge es genug sein…

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Morgenstunde (779. Blog-Notat)

Im Abendlicht.

Als ich aufstand ging die Sonne fort… und Wind peitschte das Land. Ach, was ist mit diesem Frühling? Die Schneeglöckchen trotzen allem, aber die Märzenbecher zeigen noch nicht einmal ihre Köpfchen. Als der Liebste gestern ins Erzgebirge aufbrach, habe ich für einen Freund und Bilderkunden im Wurzelwerk meiner virtuellen Welt gegraben. Er ist in die Jahre gekommen und denkt über das Vererben nach, also wünschte er sich Kaufbriefe für seine schlapp 20 Werke, die er von mir nach 1996 in Folge erstanden hat. Das ist beachtlich! Natürlich gab es sie auf die eine oder andere Art und ist belegt, da ja alles via Koto ging, auch für die Steuer. Aber die alten „doc“-Dateienformate ließen sich längst nicht mehr öffnen und in den Steuerunterlagen von 29 Jahren wollte ich wirklich nicht kramen… Also habe ich gestern reichlich vier Stunden über meine Werkliste Kaufvorgänge rekapituliert – Kinner, nee, dit is Strafarbeit… Die Wünsche des Herrn sind unergründlich… und damit war der sonnige Tag destruktiv und fast gelaufen. Ein bisschen Gartenarbeit noch, um die Beine zu vertreten und ein paar lustlose Pinselstriche. Ich hab‘s dann besser gelassen. Es gibt so Verrichtungen, die einen dämpfen und das heutige Himmelgrau fühlt sich wie November im März an, ich werde mich aufs Sofa verkrauchen (ist ja grad frei😊) und schmökern…

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Morgenstunde (778. Blog-Notat)

Atelierblick: Winterarbeitsplatz.

Das pitschnasse Grau kann einem ganz schön auf den Sender gehen, oder? Eigentlich wollten wir heute die Reste des rumliegenden Baumschnitts im neuen Hochbeet versenken, aber das wird wohl nichts. Im Märzen der Gärtner… es wird später angerichtet. Derweil keimt es in den Töpfen auf den Fensterbänken, ab Montag solls ja Sommer werden, meinen Wetterweissagende, andere behaupten, es bleibt, wie es ist: wildes Wetter. Wir werden sehen.
22 Künstlerhefte habe ich diese Woche handgebunden, fünf konnte ich bereits verkaufen, und für Samstag hat sich, wegen der Hefte, Atelierbesuch angesagt, sehr schön, ich freu‘ mich.  Es scheint einige zu interessieren, auch wenn „Zeitschatten“ nur allerkleinste Kreise zieht – der „Stein“ ist geworfen und ich bekomme den Kopf frei für die große Leinwand im Atelier…😊

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Der Bessere

Mein kürzestes Märchen:

Der Bessere saß auf einem Thron aus Lorbeerblättern. Er hatte sich hübsch glattrasiert und mit Leuchtfarben bemalt. Er strahlte förmlich selbstverliebt, als er herab auf seine aschfahlen Boten sah. Sie blickten mit müden Augen und borstigen Hängewangen zu ihm auf. Einer aber wagte sich, ein Lorbeerblatt aus dem Tron zu zupfen, womit das ganze Herrschaftsmöbel ins Rutschen kam…

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Morgenstunde (777. Blog-Notat)

Nach sechs Wochen Klausur bin ich jetzt bei der Handproduktion der Künstlerhefte, die die Novelle in sich aufnehmen. Beim Falten der Seiten sehe ich, wie schön sich die gestalteten Initiale in den Text einbinden. Ist einfach edel anzuschauen. Der Kopf kann sich derweil etwas ausruhen. Ich bin sehr erleichtert, das schwerlastige Thema auf meine Weise bewältigt zu haben, es war echt anstrengend, diesen innerlichen Rückwärtsfilm laufen zu lassen. Man soll ja nie, nie sagen, aber wenn irgend möglich, ist dieses Thema damit für mich nun ad acta gelegt. Schließlich werde ich dieses Jahr 70 Jahre alt, da sollten man beginnen, die Tage zu genießen… Gestern kamen immerhin schon drei Bestellungen für die Hefte. Ja, ich weiß, es treibt viele Älteren noch um, denn wir sind, woher wir kamen… Habt ein schönes Wochenende alle miteinander!

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Fotoprojekt „Vier Jahreszeiten“

Foto vom 1. März 2023.

Bild 3: Kopfweide im März 2023
Meine Beteiligung am  Projekt von Royusch

Das Fotoprojekt „Vier Jahreszeiten“ betrachtet fotografisch immer das gleiche Motiv im Jahresverlauf. Allein die Verwandlung durch die Zeit ändert es. Ich habe mich für meine Kopfweide entschieden. Sie ist der erste Blickfang in unserem 140 Meter langen Landschaftsgarten.

Anfang März steckt der Nachtfrost noch in der Erde. Nun ist die Kopfweide vollständig beschnitten und ein paar Ruten wurden zu Weidenzaunblenden und Windspielen. Körbe kann ich daraus leider nicht binden, denn es ist eine Bruchweide, eine eher wenig bekannte Art (Salix fragilis).

Windspiel
Eine Woche später, am 6. März: Schnee.

Unter den Schichten der Zeit
lauert die Erinnerung
und nagt an der Jetztzeit.

Für alle, die es märchenhaft lieben:

In den Weiden                                                             

Die alten Weidenbäume am Plattenweg flüsterten im Wind, und säuselten ein Schauerlied  von der Zeit, als zum Gut Fergitz noch königliche Reiter durch die Niederungen preschten. Wegen der jungen Hexe und ihrem eiligen Prozess. Die geköpfte Magd von 1701. Dem melancholischen Mädchen warfen die Eiferer vor, der Teufel solle ihr Geld und einen Kürbis gebracht haben. Aber ein Schadenzauber war der 15-Jährigen nicht nachzuweisen, und doch wurde sie enthauptet. Die Weiden munkelten auch, der Geist von Dorothee Elisabeth verströme sich noch in den weiten Wiesen. Der riefe mit einem Farbenrausch aus rotem Mohn, weißen Margeriten und dem Kornblumenblau nach einem Mann, der der Ruhelosen in der Johannisnacht Trost zuspräche. Die Weiden hören diesen Sehnsuchtsruf jedes Jahr.
Es war ein Schelm, der den Weiden in dieser Zeit die Köpfe stutzte. Dieser Baum sah aus wie eine geduckte Eule, der nächste wie ein sich bückendes Hexlein und der übernächste wie ein rucksackbeladener Wanderer. Geheimnisvolle Gestalten, die erst in der Dämmerung ihr verborgenes Leben preisgaben. An den alten Schnitten vermorschte das Holz, und dort bildeten sich nach und nach kleine Höhlen. Manche wundersam vom Gundermannkraut umwunden, andere klafften weit offen, wie vom Blitz gespalten. An diesen erdigen Orten hausten nicht nur Käfer.  Vögel brüteten in den Weidenköpfen, und die Wiesenfeen hielten hier ihren Winterschlaf. Das wusste Robert. Der mittellose Bildhauer war es, der die Bäume im Januar  beschnitt. Der köpfte sie nie ganz, sondern beließ ihnen einige Gestalt gebende Ruten. Robert hatte einmal bei dieser Winterbrotarbeit den Höhlengang eines schlafenden Flügelmädchens aufgeschnitten. Er sah es in dem Fluss der Kälte schlottern. Da stopfte der wortkarge Mann das Loch rasch wieder mit Moos zu und schmunzelte überrascht in seinen borstigen Graubart. Etwas Unerklärliches war ihm ins Herz gefahren. Er hatte den ganzen  Feenkram nie geglaubt,  aber nun wollte er sie im Sommer auch tanzen sehen. Das Raunen der Weiden verstand er an diesem Wintertag noch nicht.
An einem späten Juniabend stolperte der Bildhauer blubbernd aus dem Dorfkrug. „Anschreiben ist nicht mehr“, schimpfte ihm der Wirt hinterher und zog die Eichentür fest ins Schloss. Robert kratzte sich verlegen den Schopf und dachte bei sich, herrje, ohne Moos nix los. Aber vielleicht doch? Er schwankte  trunken durch die milde, helle Sommernacht hinaus in die Weite. Sein Kopf dröhnte schwer vom Wein, als ihm irgendeine ungeheure Stimme um die Ohren schlich: „Hilf mir! Geh nicht weiter! Sag mir ein tröstendes Wort, dann kann ich endlich fort.“
Robert wedelte mit den Händen vor seinen Ohren, um den Spuk zu vertreiben. Er fürchtete erschrocken das Erwachen der Weidengeister. Schon als er Kind war, hatten die Alten im Dorf von  toten Seelen in den Kopfweiden gesprochen. Sie seien Treffpunkte der Hexen und Wasserwesen, schoss es ihm durch den vernebelten Sinn.  Wieder tönte der Hilferuf. Der Mann schüttelte seinen Kopf, der vom Schreck etwas nüchterner ward. Dann sprach er mit jenem Baum, den er als sich bückendes Hexlein beschnitten hatte: „Was jammerst du, Weidenhex?“’
Da raunte es aus dem morschen Holz: „Ich bin es nicht, es ist der ruhelose Geist der kopflosen Dorothee Elisabeth.“
Und abermals jagte es dem Mann um die Ohren: „Hilf mir! Geh nicht weiter! Sag mir ein tröstendes Wort, dann kann ich endlich fort.“
Robert ließ sich ins Gras fallen, verstummte kurz und sprach dann leise in die Nacht: „Deine Geschichte hatte ich fast vergessen, aber ich verspreche dir, dass ich dich fortan in meinen Gedanken behalte.“ Spricht es und sinkt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Die Morgensonne badete den Tag, als der zerknautschte Zecher im Gras erwachte. Etwas wisperte, und er lauschte ihm nach: Da sah er sie, die tanzenden Feen, und er hörte sie flirrend singen: „Das Hexlein ist davon. Mit Kopf und allen Gliedern ist es entschwebt und kehrt nie wieder als Geist an diesen Ort.“
P.E.

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Das Klausur-Ende

Zum Abschluss meiner Winterklausur 2023 entstand auch dieses Jahr ein handgefertigtes Künstlerheft im A5-Format. Die Novelle umfasst 40 Seiten und sucht nach der wenig wahrgenommenen Entwicklungsgeschichte vieler Menschen nach der Wende in Ostdeutschland. Im Westen glaubte man damals, die besondere Spezies der Ostdeutschen würde rasch assimilieren, doch es entstand mit der Zeit eine neue Selbstgewissheit. Auf literarische Weise, nicht als realer Bericht, stöbert die Geschichte einige Gründe auf.

Die handgebundene Novelle „ZEITSCHATTEN oder Die verschwundene Geschichte“ kann in meinem Atelier für 10 € erworben werden, bei Bestellung über Mail (petraelsner@gmx.de) zzgl. Porto.

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12. Klausur-Schnipsel – der Schluss

zu “Die verlorene Geschichte”:
… Sie hatte ihn gebeten, falls er wieder einmal so einen Bedenk-Schnipsel aufstöberte, ihn ihr zu schicken. Es würde ihr helfen, sich zu erinnern. Maja Hügel hatte den Übergang von einem Land zum anderen verdrängt; oder war er nur überlagert von ihrem damals beschädigten Sein? Wahrscheinlich. Sie saß gerade an sehr aufwändigen Kinderbuchillustrationen, als die Mail von Elias aufploppte. Sie las alles in einem Rutsch und musste immerzu schlucken. Bei Hajos Bericht kamen ihr die Tränen. Er erinnerte sie an die wütenden Übergriffe ihres Ex-Mannes. Not verändert, Not zerstört. Als Maja damals zu ihrer Mutter floh, war sie nur noch ein Wrack, abgemagert, fahrig, ängstlich, ohne Stolz. Es hat Zeit gebraucht, sich aus dem Zustand der Apathie zu erheben. Der mütterliche Schutzraum und die feinsinnige Arbeit halfen dabei. Denn jedes gestaltete Blatt, das zu einem schönen Buch verhalf, nährte einen neuen Stolz. Die Mutter bekochte sie und nähte ihr weite gemütliche Patchwork-Kleider. Es war eine Art Langzeit-Reha, nach der der bunte Vogel wieder sang, nur nicht mehr im Duett. Vor ein paar Jahren erkrankte Majas Mutter an Krebs. Er wurde erst im Endstadium diagnostiziert, und so starb sie nach sechs Wochen. Maja pflegte sie und blieb nach dem Tod der Mutter allein. Bis vor ein paar Tagen gab es nie einen Mann in diesem Häuschen. Die gutsituierten Großeltern hatten es für ihre verlassene Tochter bauen lassen, die in ähnliche Bedrängnisse geraten war. Maja wusste noch nicht, ob sie das Weiberexil für etwas Gemeinsames öffnen könnte, aber sie war dabei, es zu überdenken. Besucher kommen und gehen, er könnte bleiben wollen.

Der Mann schlenderte durch seinen Kiez. Er war eine seltene Spezies geworden. Natürlich hatte er den Wegzug der vertrauten Nachbarschaft sehr wohl bemerkt, aber die Arbeit ließ ihn kaum aufblicken. In Zeiten spürbarer Einschnitte, dem Sparzwang bei den klassischen Medien, waren es die Freiberufler, denen man zuerst die Honorare kürzte und Pauschalverträge aussetzte. Elias Kühn war, wie viele seiner Artgenossen, im Älterwerden zu immer mehr Arbeitsleistung genötigt, um sein Leben zu finanzieren. Maja erging es ähnlich. Sie kämpfte schon lange gegen die Konkurrenz der glatten, preisgünstigen und fixschnellen Computer-Grafik. Mit Stift und Pinsel konnte sie den neuen Sehgewohnheiten kaum noch entsprechen. Zwei Hamster im Laufrad. Erst als Elias sich Zeit gönnte, erfühlte er den urbanen Wandel seines Stadtquartiers, und auch, dass ihm dieser Ort nicht mehr so viel bedeutete wie einst, als die Kunstszene, die Punks und all die schrägen Falter hier noch steppten. Er fühlte sich wie ein gealtertes Überbleibsel. Ein Faktotum, das seine Geschichte irgendwo vergessen hatte.  Aber die Suche hatte ihm Maja beschert. Er trug diese stille Freude in sich, und jeder, der es sehen wollte, bemerkte diese Verzauberung. Natürlich war dem Mann klar, dass Maja mit ihrer Vorgeschichte vor schwierigen Entscheidungen stand. Er wollte es ihr etwas leichter machen und sie zugleich überraschen.

Elias Kühn fuhr mit einem Mietwagen in den Norden Brandenburgs. Gegen Mittag betrat er den väterlichen Dreiseitenhof, den seine Stiefmutter mit ihrem neuen Mann weiter bewohnte. Sie wusste sofort, weshalb er kam. Die Frau von Mitte Siebzig trat vor die Tür, überreichte ihm wortlos einen Schlüssel, dann schloss sie die Tür. Manche Brüche heilen nicht. Sie hatten sich im Streit voneinander gelöst und vereinbart, irgendwann würde er Vaters Wohnwagen QEK Junior – sein kleines Erbe – abholen. Er schloss die alte Scheune auf, und sein Gedächtnis schickte ihm sofort beklemmende Spukbilder: Der Vater am Seil. Langsam wandte er sich ab von diesem Totenplatz. In einem dunklen Winkel unter dem Heuboden stand das verhüllte Gefährt. Elias zog die mächtige Plane ab. Der weiße Lack war noch tadellos. Drinnen sah alles aus, wie er es erinnerte: Kochnische, Einbauschänke, Klapptisch, Klappstühle, Doppelliege. Er schob das Mobil schnaufend auf den Hof, schloss die Hänger-Kupplung des Mietwagens an, stieg ein und startete. Jeden Meter Abstand, den er zwischen sich und den Hof brachte, machte ihm das Herz leichter.

Drei Wochen später. Das Wohnmobil parkte im Hinterhof seiner Stadtwohnung. Es war inzwischen in der Werkstatt durchgecheckt worden, und ein Tischlerfreund aus dem „Blauen Licht“ hatte den Innenausbau modernisiert. Elias kaufte neues Bettzeug, schicke Decken, Kissen und Akku-Lampen. Neues Besteck sollte die stumpfen Alulöffel ersetzen. Als er den hölzernen Besteckkasten aus der Lade hob, fand er einen Umschlag. Sein Hellgrün war inzwischen gräulich und roch alt. Er öffnete ihn vorsichtig und fand darin eine karierte Schulheftseite, auf der stand „Verzeih mir“. Elias atmete schwer. Der Vater. „Was, um Himmels Willen, soll ich dir verzeihen?“, brummte der Sohn. Noch ein Geheimnis. Er schüttelte den Kopf. Nicht einen neuen Albtraum bitte. In diesem Moment entschied Elias Kühn, nicht seiner dunklen Ahnung nachzugehen und nach möglichen Stasiakten zu suchen. Genug, fand er. Dieser Teil der Geschichte hat so grell im Licht der Öffentlichkeit gestanden und alles andere überschattet, er durfte sich langsam abnutzen. Jedenfalls die Gefühle dazu. Der Mann kippte den kompletten Kasteninhalt in die schwarze Hof-Tonne und warf die Zettelnachricht in die Blaue. Elias Kühn interessierte die andere Geschichte.

Für das Osterwochenende war er in Eichwalde angekündigt. Der Frühling schüttete seinen Glanz aus und alles drängte zum Licht. Elias kutschierte sein Gespann über die Landstraßen, im Konvoi mit unzähligen anderen, die es Ostern in die Landschaft zog. Tempo 40, es war ihm egal. Er sah das leuchtende Forsythiengelb, das helle Blattgrün der Sträucher, Vogelzüge am Himmel, klappernde Störche auf Dachhorsten. Frühjahrsromantik beschlich den Mann am Steuer. Als Maja ihn begrüßte, sah sie verwundert auf das Gespann vor ihrer Gartentür. Elias legte den Arm um die Frau und fragte erwartungsvoll: „Was hältst du von einer Nacht am Meer?“ In der Dämmerung standen sie an einem wilden Strand. Zeit für wundersame Träume und Lustbarkeiten.

Im Morgengrauen verschwanden sie von diesem illegalen Platz an der Düne. Maja hatte für das Osterfest mit Elias vorgesorgt, und sie wollten nicht die überfüllte Küste bei Tag erleben. Während sie heimfuhren, fragte Maja: „Weißt du, was aus deinen ‚Insulanern‘ geworden ist?“ Er schüttelte den Kopf: „Fast alle weg, irgendwo in der Welt. Sie waren ja damals schon von ihrer Insel abgeschüttelt worden. Jetzt sind sie etwa 50 Jahre alt und stecken in neuen Bündnissen. Ihre Welt von damals gibt es nicht mehr.“ „Bitter?“, fragte Maja nach. „Nein, nicht bitter. Sie sind irgendwo angekommen, denke ich. Ich sammele derweil nur brüchiges Wissen, falls sie mich irgendwann mal danach fragen.  Und du, wie geht es dir jetzt? Maja schweigt ein paar Sekunden lang: „Ich nehme meine Zeit an. Sie gehört mir. Gelegentlich binde ich mich an Projekte, klare übersichtliche Aktionen. Meine Weltsicht wandelt sich so wie sich die Welt wandelt, die lässt sich nicht in ein Parteienkorsett quetschen. Das hatte ich mal in dem alten Land, ist mir nicht gut bekommen. Deswegen bin ich auch von den Forum-Leuten weg, als die politischen Einfluss anstrebten. Aber wir sind stets das, was wir waren. Das können wir nicht abstreifen, wer auch immer das von uns verlangt.  Ein Malerfreund aus der Lausitz malte in den 90er Jahren mit der Herdasche seines für die Kohlebagger leergezogenen Hofes. Das war extrem und so gar nichts fürs Wohnzimmer. Aber er musste seinem Verlustschmerz Gestalt geben. ‚Landsucher‘ nannte er seine abstrakten Aschefiguren. Ich habe für meine Verluste ein ähnliches Bild gefunden: Die Zeitschatten. Verstehst du, was ich meine?“
Elias nickte und legte sich das Wort noch einmal auf die Zunge: „‘Zeitschatten‘, das ist es wohl, was ich suchte, ein Wort, für ‚Die verlorene Geschichte‘. Schenkst du es mir?“ Maja hob die Brauen, als wollte sie das erst einmal gründlich bedenken, dann prustete sie: „Aber ja doch, es passt zu dir.“

                                                                            ENDE

Danksagung

Ich danke meinem Liebsten für die Geduld mit mir, dass ich nun schon zum zweiten Mal eine Winterklausur für ein schwergewichtiges Thema verwandte. Für etwas, das bleibt – vielleicht.
Dankbar bin ich ganz besonders meiner Freundin Ines Wagenbreth, die mein Schreiben ermutigend begleitete und während des Schreibprozesses Korrektur las. Sie hat manchen Gedankenknoten gelöst. Sei umarmt dafür!
Dank gilt auch meinem Künstlerfreund Micha Seidel, der mich aufforderte, meine fünfseitige Kurzgeschichten-Idee auszuweiten und mir als Entschädigung für den erneut durchlebten Erinnerungsschmerz eine Kiste Wein und ein langes Gespräch schenkte… das hat geholfen 😊.
Und auch allen Lesern und Leserinnen des Blogs, die mir während der Klausur Zuspruch spendierten, sei herzlich gedankt.

Mancher wird sich vielleicht fragen, ob es meine Geschichte sei, die hier verhandelt wurde. Nein, die Hauptfiguren sind erfunden, sie sind auch zehn Jahre jünger als ich, aber sie nehmen natürlich mein Zeitenwissen in sich auf. Andere, die in kleinen Szenen auftauchen, sind hier und da reale Menschen, wie beispielsweise die Aufwindleute. Auch die Lisa-Runde erzählt mit veränderten Namen wahres Leben. Aber manches durfte in meiner Novelle noch ein kleines bisschen länger leben, was in Wahrheit gar nicht mehr existiert, wie das „Blaue Licht“. Es war einmal…

Nachtland

Komm leg‘ dich in meinen matten Schatten.
Die Nacht tanzt voller Gespenster
wild und uferlos.
Komm feg‘ deine Furcht aus meinem Nacken
und mach‘ die Leinen los.
Die Zeit nimmt Fahrt auf – gegen Gischt und Sturm.
Der Kurs heißt: Nachtland,
auf dem der Schatten thront.
Komm pflück‘ dir einen Stern aus meinem Himmel,
und steck‘ ihn dir an deinen Hut.
Er leuchtet durch die längste Nacht
und gibt dir wieder Mut.

Spende? Ja, gerne.
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Stimmen zur Novelle und zum handgefertigten Künstler-Heft:

Andre Jahr, 1. März 23: Danke Petra!
Es passt für mich und es sollten noch mehr Menschen lesen. Erinnern, Klarheit bekommen und an die Jüngeren weitergeben, denn sie bekommen kein reales Bild der Zeiten vermittelt. Dazu können aber wir etwas tun. 💕

Barbara Liebrenz, 1. März 23: Sehr, sehr emotional und stimmig.

Ines Wagenbreth, 8. März 23: Meine liebe Petra, ui, da hab ich mich aber gestern gefreut, als ich deine Post öffnete! So eine schöne Ausgabe. So feines Papier! Es machte Freude, darin zu blättern. Sehr edel!

Reinhard Gundelach, 8. März 23: Heute bekam ich Post, eine wunderbare Novelle. Kann das Büchlein nur empfehlen! Wer daran Interesse hat, sollte die Autorin Petra Elsner kontaktieren.

Bianca Tiedt, 18. März 23: Hab’s mit Freude gelesen. Bin auch sehr gut reingekommen (lese ja sonst nicht so oft). Besonders gut hat mir die Geschichte zwischen Elias und Maja gefallen 🥰 hab mir da irgendwie immer dich und Lutz vorgestellt GRINS… Auf jeden Fall sehr spannendes Thema!!! Hab ja von der Zeit nu nicht wirklich was mitbekommen, um so interessanter finde ich es immer, wenn Leute davon berichten, wie sie das so erlebt haben! Also dicken 👍🏻 nach oben!!! Hat mir sehr gut gefallen 😊

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