Sonntagsmärchen

Die drei weißen Raben

An einem nebelverhangenen Morgen waren sie auf einmal da, die drei weißen Raben. Sie krächzten in den Dunstschleiern – unbemerkt. Niemand ahnte, weshalb sie kamen und was sie suchten. Doch mit ihrem Eintreffen schien der Nebel über dem Land festzustecken. Tage, Wochen, Monate. Die Menschen darunter verblassten zu durchsichtigen Gestalten und verströmten fortan eine schwere Stille. Kein Vogel sang, und keine Blume blühte. Die drei Raben wachten stumm über dem verborgenen Geschehen.
Eines Tages zog ein furchtloser Narr durch das Land unter dem Nebel. Er trug bunte, schillernde Gewänder und einen Schalk im Nacken, der vor Frohsinn nur so sprudelte. Sein Antlitz aber war weiß wie Schnee. Die Raben krächzten unheilvoll: „Zieh weiter, sonst verlierst du deinen Leichtsinn und all deine Farben!“ Doch der Narr spottete: „Na, ihr Weißputzer! Fällt euch so gar nichts Besseres ein, als das Leben zu bleichen und zu verschleiern? Was habt ihr nur für trostlose Talente.“
Da geschah etwas Merkwürdiges: Die Raben sangen mit tiefer, klangvoller Stimme: „Wir verbergen die Menschen doch nur vor dem Elend der Welt.“
Der Narr wunderte sich: „Ach, ihr seid also Beschützer? Aber meint ihr wirklich, das stille, bleiche Leben sei schön? Seht, wie traurig und schwach die Nebelmenschen sind.“ Der Narr zog sich seine bunte Kapuze vom Haupt und schrie: „Schaut her, ist dieses Gesicht nicht leeres Weiß? Eure Schleier beschützen nicht, sie laugen aus. Alle Farben, alle Kraft und Energie. Ich bin in einem Nebelland geboren, aber als ich diese bunten Kleider fand und anzog, wuchs in mir der Mut zum Wagnis. Den brauchen die Menschen zum Leben wie Wasser und Brot.“
Die weißen Raben schwiegen, und sie dachten an die Zeit, als sie noch schwarz-blaue Federn trugen. Damals waren sie die Rufer in der Zeit. Sie warnten vor Eindringlingen oder holten notfalls Hilfe. Ein Sehnen nach diesem wachen Dasein stieg in ihnen auf, und während sie das bedachten, überzog ein Edelschwarz ihr Gefieder und der Nebel senkte sich. So war der Blick frei für all die Gefahren, die da kommen wollten…

© Petra Elsner, März 2024

Stimmen auf Facebook:

Erika Schlenzig: Märchen mit brisantem Inhalt. Ein Mutmacher. Selbstwertgefühl stärken, Pläne schmieden, Einmischen, verändern und nicht lähmen lassen. Jeder kann seine Welt bunter gestalten und Andere motivieren.

Iris Go: So sollten viele Menschen denken und sich gegen Unmut und Schwere wappnen und auch rebellieren. Frei sein und sich nicht unterbuttern lassen. Danke Petra für diese Gedanken.

Karin Segura: So wahr, befreien wir uns immer wieder aus dem aufsteigenden Nebel.

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