Das Schorfheidemärchen “Die Geistereichen”

Morgen lese ich wieder einmal aus “Schattengeschichten aus dem Wanderland – Schorfheidemärchen” in der AWO von Finow.  Ich habe dafür meine Illus zu den Geschichten ausgedruckt und laminiert. So können die Blätter während der Lesung von Hand zu Hand gehen.  Hier eine Leseprobe:

Die Geistereichen Zeichnung: Petra Elsner
Die Geistereichen
Zeichnung: Petra Elsner

Die Geistereichen:

In einer Vollmondnacht erwachten plötzlich die Blitzgetroffenen zu neuem Leben. Sie scharrten mit ihren losen Wurzeln und schauten einander staunend an: der brüchige Galgen, der schwere Mooshammer und die bucklige Riesennase. Dort, wo die Drei standen, an einem Kreuzpunkt über Wasseradern, wuchsen sie seit über 600 Jahren zu mächtigen Bäumen heran, die allerdings wie Blitzableiter wirkten. Unzählige Male durchzuckten ihre Stämme feurige Schläge, bis sie, gespalten und geköpft, leblos in den Himmel stachen. Ihr morsches Holz zog mit der Zeit ein Moosgewand an, und aus ihren Aststümpfen grinsten Geisterfratzen.

In jener Oktobernacht betrat ein Einhorn schnaufend die Lichtung. Sein Atem dampfte, und es tänzelte nervös auf der Stelle. Seit sieben Jahren kam der weiße Hengst stets in der ersten kalten Herbstnacht an diesen Ort, um nach einer Stute zu rufen, doch nie wurde er bisher erhört. Statt einer schönen Gefährtin holte sein sehnsüchtiger Schrei immer etwas Seltsames ins wirkliche Leben zurück: eine vergessene Blume, einen weisen Druiden, ein Elfenkäuzchen. Dieses Mal weckte er die toten Eichen.

Zu ihrer Verwunderung konnten sich die Blitzgetroffenen bewegen, und da sie nur diese Lichtung kannten, schlürften sie einfach knarrend und sehr neugierig durch den Schorfheidewald. Nein, das Schreiten waren sie wirklich nicht gewohnt. Sie schaukelten und stolperten bedrohlich durch Hochwald und Schonungen. Die Stümpfe der Blitzgetroffenen fegten Nester aus den Büschen, ihre Wurzelfüße durchkämmten den Boden und ließen eine wüste Schneise hinter sich zurück. Schauerlich raunten sie in die Finsternis: „Zur Seite, hier kommen wir, die Geister-Eichen!“

Mit dem Morgengrauen war der Spuk vorbei. Dort, wo die schwarz-grünen Ungetüme das erste Licht traf, rührten sie sich nicht mehr von der Stelle und jene, die dem Schauspiel ängstlich beiwohnten, atmeten erleichtert auf.

Doch nur für ein Weilchen, denn zur nächsten Mitternacht erwachten die Eichen wieder, und polterten abermals ziellos durch den Wald. Seit dieser Nacht fürchteten sich die Geschöpfe des Waldes vor dem brüchigen Galgen, dem schweren Mooshammer und der buckligen Riesennase.

Das Einhorn drückte ein schlechtes Gewissen und zeigte sich niemandem, denn es fühlte sich für das Treiben der Geister-Eichen verantwortlich. Was, wenn der Hengst heute Nacht wiederholt den Mond anrufen würde? Noch niemals hatte er seinen Liebesschrei zweimal im Jahr  ausgestoßen. Der Vollmond war längs zum Ei geschmolzen und somit der Zauber der ersten Frostnacht gewiss erloschen. Aber was könnte schon geschehen? Der Hengst hoffte, irgendwie den Zauber auszutauschen.

Zur Mitternacht betrat er scheu die helle Lichtung. Aus der Ferne hörte er das Poltern der Eichen. Das Einhorn stieg auf seine Hinterhufe und röhrte mit der ganzen Kraft seines Leibes ´gen Nachthimmel, flehend, aber nichts geschah. Oder doch? Nein, sein Echo sprang nur noch von Baumwipfel zu Baumwipfel. Er schnaubte und tänzelte, um schließlich ein drittes Mal zu einem Schrei anzuheben. Der war so steinerweichend, dass alles um ihn herum zu weinen begann. Tausende von Tropfen tränkten wie Tau Landschaft und Boden, und da riss plötzlich die Finsternis auf, und eine weiße Stute betrat den magischen Kreis. Gleißendes Licht umschmeichelte die gehörnten Rösser, die sodann auf nimmer Wiedersehen im Glück verschwanden. Als die Dunkelheit an den Ort zurückfand, standen der brüchige Galgen, der schwere Mooshammer und die bucklige Riesennase wieder still und steif an ihren alten Plätzen, so als wäre nie etwas geschehen.

Petra Elsner
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Der Hasenräuber – ein Schorfheidemärchen

Schorfheidemärchen
Der Hasenräuber
Zeichnung: Petra Elsner

Feiner Nieselregen fiel auf den Nachtschatten, der durch den Wiesenhain am Koppelberg huschte. Aus dem Dorfkrug bei den Eichen drangen die trunkenen Stimmen des Heideläufers und seiner gedungenen Jagdknechte. Derbe Gesellen, die aufpassten, dass keiner unerlaubt den Wald betrat oder gar wilderte. Heute würden sie ihm nicht folgen, trotzdem schlich Gustav auf leisen Sohlen und mit lauschenden Ohren. Die Kröten quakten in den Hügeln und die milde Nacht atmete raschelnde Geräusche. Gustav kannte die nächtlichen Täuschungen, dennoch schien es ihm, sein Herz klopfte noch lauter. Tief hängende Zweige formten gespenstische Gestalten und Gesichter, ob vielleicht doch ein Jagdknecht auf der Lauer lag? Seine Augen bohrten Löcher in das Dunkel, als endlich die Wolkendecke aufriss, und der Mond sein Licht auf einen Hirsch auf der Waldweide warf.

Der geduckte Mann staunte das erhabene Tier an. Nein, er würde es nicht wagen, ihm nachzustellen. Diese Jagd gehörte dem Fürsten mit seiner Steinschlagflinte. Gustav war kein hemmungsloser Wilderer, der auch vor Menschenmord nicht zurückschreckte. Er suchte keine Trophäen, sondern legte Schlingen, um damit ab und zu einen Hasen zu fangen. Das empfand der Landmann als gerecht, waren es doch die Tiere dieses Waldes, die letzten Sommer seine Feldfrüchte fraßen, weshalb die Not auf seinen Hof kroch. Doch wen sie beim Wildern erwischten – gleich ob Hirsch oder Hase, den quälten die Häscher gar fürchterlich. Gustav  musste also unentdeckt bleiben.

Dort vorne, in dem Dunkelbusch, hatte er gestern seine Schlinge ausgelegt, aber was war das? Ein Knacken wie von einem Schritt. Gustav duckte sich tiefer und wartete. Ein Zündholz flammte auf und beschien ein fahles Gesicht. Nein, das war kein menschliches Antlitz. Gustav traute seinen Augen kaum, ein grauer Nachtelf zündete sich eine Pfeife an, schmauchte und blickte plötzlich zielgenau zu ihm. „Komm her, du Hasenräuber, du hast Beute.“ Sprach er und verschwand.

Dem Mann war es nicht wohl. Er starrte um sich herum, sah aber nichts als die Schwärze der Nacht. So ging er einen Schritt auf den Busch zu, als neben ihm wieder die Pfeife erglimmte und das Elfgesicht schmunzelte. „Schenkst du mir Deinen Hasen?“

Gustav stand unschlüssig, seine Knie schlotterten, während die Graugestalt wieder vollständig aufgetaucht war. „Ich schenke dir auch dieses wundersame Pfeifchen“, setzte der Elf nach.

Gustav schüttelte seinen Kopf: „Meinst du der Tabak macht satt wie mein Hase?“

„Was heißt hier ‚mein Hase’?“ zische der Elf. „Also gut, wir teilen uns den Fang, ich weiß, wie Hunger schmerzt“, murmelte Gustav, zerlegte den Hasen und gab die Hälfte dem Grauelf. Der dankte, legte die Pfeife samt einem Tabakbeutel in die Hand des Hasenfängers, zündete sich eine andere Pfeife an und damit verschluckte ihn der Wald. Gustav stand und wunderte sich, dann packte er sein Zeug zusammen und wollte gerade aufbrechen, als es abermals ganz in der Nähe knackte. Aber diesmal erkannte Gustav den Heideläufer mit seinen Knechten. Sie kamen von allen Seiten auf ihn zu. Einer knallte mit der Peitsche, der nächste zückte einen Dolch, der dritte durchstocherte mit einer Lanze die Luft. Gustav war starr vor Schreck, so hatten die Fänger ein leichtes Spiel. Übermächtig schlugen sie auf den harmlosen Wilderer ein. Als der nicht mehr zuckte, luden sie ihn auf eine Karre, machten ein Feuer und brieten sich den halben Hasen. Gustav stöhnte leise, Blut lief ihm von den Schläfen und sein Rücken schmerzte ganz fürchterlich. Er fingerte in seinen Hosentaschen nach einem Tuch und ertastete dabei die warme Pfeife. Sie glimmte offenbar noch. Sollte er es versuchten? Warum nicht. Er zog an ihr und sah im flackernden Licht, wie er sich langsam auflöste. Schmerzgekrümmt kroch der Mann ungesehen vom Karren in die schützende Dunkelheit und ward von seinen Häschern nie mehr gesehen. Immer wenn aus Gustavs Haus ein feiner Hasenbratenduft aufstieg, stürmten sie seinen Hof, dort aber fanden sie stets nur einen Schwaden von einer Tabakpfeife vor.

(Aus meinem Buch “Schattengeschichten aus dem Wanderland” – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel “Die Gabe der Nebelfee”

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (8 und Ende der Auszüge)

Am Schwarzwassersee. Zeichnung: Petra Elsner
Am Schwarzwassersee.
Zeichnung: Petra Elsner

… Um Wallo ebbten die Wellen seines Auftauchens ab und brachen sich am Steinwall zur Burg. Ein Getürm und Gestapel aus Holzkisten, verbeulten Töpfen, sperrigen Metallgittern, Kanistern, Pappkartons, Fässern und großen Blechbüchsen war der Baustoff zu dem Kanal-Palazzo. Auf einem Plateau, das an den Steinwall zum Schwarzwassersee grenzte, verharrten die emsigen Festvorbereitungen und das letzte Training für den bedeutsamen Wettkampf jäh.

Ein Fremder von ungetümer Gestalt, eine nicht gekannte Bedrohung war im Raum, die alle Rattenburgbewohner einen Moment lang blockierte.

Wallo spürte die Angst, die aus den unzähligen Augenpaaren auf ihn fiel, und erwartete ungeduldig Nacks Ankunft.

Irgendwie musste er inzwischen die Situation entspannen. „Ähm“, räusperte er sich und planschte verlegen mit seinen Armstrahlen auf das schwarze Wasser.

„Ähm, ich bin von Nack zu eurem Wettkampf eingeladen.“

In den stumm fragenden Blicken entdeckte er Zweifel. „Doch, es ist so. Nack wird gleich hier sein. Ähm, ich bin Wallo, die Seele eines Baumes.“

„Das ist Wallo, ein obdachloser Stadtdrache! Mein Frühstückskumpel. Er ist ein toller Typ, und ich dachte, den müsst ihr unbedingt kennen lernen“, prustete und überpfiff es laut seine Worte. Es war Nack, der eben eintraf. Zu Wallo zischelte er leise: „Erzähl hier nicht deine Seelenstory. Dies ist ein seelenloser Ort, da kriegst du mit deiner offenherzigen Ehrlichkeit nur Ärger. Halt dich zurück und achte auf mich. Noch sitzt ihnen der Schreck in den Knochen. Aber sie sind viele und dadurch mächtig. Wenn du ihnen Schwäche zeigst, machen sie dich fertig. Hier zählen nur Sieger etwas.“

Wallo fühlte sich nicht wohl in seiner schlammig gewordenen Haut, die ihn an der Luft in eine neue Form trocknete. Es war eine wundersame Entdeckung, die Wallo an sich selbst machte. Wurde seine Krustenhaut feucht, trocknete er daraufhin zu jenem neuen Gebilde, das er gerade abgab. Jetzt hatte er etwas von Nessy oder einer monströsen Seeschlange mit Schiebermütze. Wallo war halt mit langem Hals aus dem Abwasser gefahren und hatte sich eine Zeit lang sehr erstaunt umgesehen, indem trocknete der Dreck auf seiner Lichthaut ihn in dieser Pose, die selbst Nack beeindruckte. Ganz sicher war sich der Ratterich nicht mehr, ob Wallo so harmlos war, wie er vorgab. Doch sonnte er sich lieber in der starken Bekanntschaft, als irgendwelche Fragen aufkommen zu lassen.

Sie hievten sich aus dem Schwarzwasser und Nack schüttelte wie gewohnt die Nässe aus dem Fell. Als Wallo das sah, tat er es ihm gleich, woraufhin sein Leib in Zacken spritzte und so erstarrte. Nun glich Wallo wahrhaftig einem Drachen, und die Ratten bildeten scheu dem Gast und Nack eine Gasse zur Arena.

Formenwandler. Zeichnung: Petra Elsner
Formenwandler.
Zeichnung: Petra Elsner

Der Burgherr thronte selbstherrlich in einer riesigen Plastik-Schellmuschel, die das Rattenvolk nach einem Werbefeldzug der Menschen erobert hatte. Alle Schätze der Schwarzwasserburg hingen an ihr. Alte Uhren, Goldreife, edle Felle, Perlenketten schimmerten neben Glasmurmeln prachtvoll im Fackellicht. Um Raffel, den Burgherren, stand eindrucksvoll eine Leibgarde finsterster Kung-Fu-Ratten. Sie musterten jede Bewegung der Ankömmlinge.

Raffel war in dem Jahr seiner Herrschaft fett und bequem geworden und fürchtete diesen entscheidenden Tag. Seine Macht würde nur noch Stunden dauern. Das hätte er gerne verhindert, doch für den Wettkampf war er nicht in Form. Als Wallo und Nack vor ihn traten, sah er augenblicklich eine Chance, den Favoriten Nack aus dem Bewerberfeld zu tilgen. Und so ergriff der Noch-Mächtige die Gelegenheit: „Nack, du hast die Gesetze der Schwarzwasserburg gebrochen“, knarrte es böse und hinterlistig aus Raffel. „Keinem Fremden ist ohne meine Erlaubnis der Weg zum Rattenreich zu offenbaren. Du bist, um dir selbst einen Wettkampfvorteil zu verschaffen, zum Verräter geworden. Du hast die Gesetze der Gemeinschaft gebrochen. Ich bin dein Richter. Du, Nack, bist des Todes und auch dein Bodyguard-Drache.“

Raffel erhob sich gewichtig, streifte sein goldenes Gewand glatt und deutete mit allgewaltiger Geste und kreischender Stimme seiner Kung-Fu-Garde: „Ergreift ihn, den Verräter! Den Fremden auch, und tötet beide! Sie bringen Unheil über unseren geheimen Ort!“

Wallo riss die Stielaugen auf. Auch Nack hatte so etwas nicht erwartet. Sein blau-gelber Fellstreifen sträubte sich. Es stimmte schon, dass er mit seinem ungewöhnlichen Gast Eindruck schinden wollte. Vielleicht wünschte er sich sogar insgeheim, dass Wallos respektvolle Größe ihn selbst gewichtiger erscheinen ließ, aber Nack hatte es nicht nötig, einen unfairen Kampf zu führen.

Die Leibratten in schwarzer Ninja-Kluft schlossen um Wallo und Nack einen engen Kreis. Wallo schaute mit einem Was-Nun? auf Nack, der bereits mit festem Blick, die Pfotenkanten im Anschlag, den ersten Angreifer fixierte. Nacks Pfiff gellte durch das Gewölbe. Sein Hieb traf. Mit gekonntem Sprung schnellte sein Fuß gegen den nächsten Angriff und wurde zur Ramme. Blitzschnell setzte Nack einen nach dem anderen außer Gefecht. Wallo staunte noch, da wurde auch er attackiert.

Als Grüngeist musste er sich nie wehren, als Drache ging es ihm an den Kragen. Keine Frage, er musste sich verteidigen, aber wie? Er hatte Nacks Kunst der fliegenden Bewegungen genau beobachtet und wusste, wenn er richtig zugesehen hatte, konnte er sie haargenau nachahmen. Wallo lernte immer einfach über das Sehen, wenn er das wollte. Was er von sich nicht wusste: Seine Hiebe würden wie Donnerschläge sein und sein Schrei wie das Grollen des Gottes Thor.

Doch zuerst traten Wallo zwei Thai-Boxer-Ratten herausfordernd gegenüber. Ihre Kampfart sah und spürte Wallo das erste Mal. Furchtlos trommelten jene mit Fäusten, Ellenbogen, Beinen und Füßen auf den scheinbar festgewachsenen Drachen ein. Aber der sah genau hin. Schon bald wich Wallo geschmeidig und gewandt wie eine Katze den Attacken aus und erwies sich als Vater der Faust.

Die beiden Kontrahenten torkelten und checkten ihn jetzt argwöhnisch mit gebührlichem Abstand. Indem griffen zwei Ninja-Kämpfer Wallo von hinten an. Daraufhin sprang dem bedrängten Wallo Nack bei und räumte die ungleiche Kampfszene ab: Ein pfeilschneller Beinhebel, ein gekonnter Wurf, und der erste Gegner kippte und knallte rücklings auf den Steinboden. Nack wirbelte mit einem Mordssatz durch die Luft und stellte den zweiten Ninja-Ratterich.

Wallo speicherte: „Oha, so geht das“, und nahm sich nun einen der wieder näher kommenden Thai-Boxer mit Nacks Technik vor. Haargenau so und erfolgreich. Allerdings fand sich der Angreifer nicht auf, sondern in den Boden gedrückt wieder. Und noch etwas sah ein klein wenig anders aus. Der einbeinige Beinhaken. Der irritierte seine Gegner nicht schlecht. Es war eine artistische Glanzleistung, die Wallo da mühelos vorführte. Die ging so: Wallo federte in die Vertikale, stützte sich auf seinen linken Armschweif, enterte mit seinem Beinschweifhaken den Thai-Boxer und kippte ihn mit einer solchen Wucht, dass die Steine nachgaben.

Nack schickte Wallo einen anerkennenden Blick hinüber und der Rattenstamm raste. Die Raffel-Anhänger vor Wut und die Sportbewunderer vor Begeisterung.

Noch einmal stampfte nun ein massiger Sumo-Ringer-Ratterich vor Wallo und provozierte: „Nur zu, ich lass’ dich auch die erste Runde gewinnen! Aber dann …!“ Doch dann betäubte bereits Wallos dröhnender Hai-Schrei den Rattenkoloss. Der wälzte sich jammernd am Boden und hielt sich die schmerzenden Ohren.

Die Leibgarde war besiegt. Raffel hatte sich mit ein paar Perlenketten davongestohlen, und in der Arena toste Beifall für die Gewinner. Noch nie hatte man bei einem Wettkampf derart brillante Kämpfe zu sehen bekommen. Wallo und Nack verbeugten sich vor dem jubelnden Rattenvolk, als plötzlich schlanke Rattenkämpfer in weißen Karateanzügen den Platz betraten. Das Klatschen hielt inne.

Abermals stieg die Spannung. Doch was war das? Jeder Kämpfer trat einzeln hervor und demonstrierte ein Schaustück. Der eine halbierte mit bloßer Pfotenkante einen Stapel Gehwegplatten, der nächste köpfte ebenfalls mit leerer Pfote einen Weinballon, der folgende ließ einen Bretterstapel brechen. Danach traten sie in eine Reihe und verbeugten sich vor Nack und Wallo. Der Kampf war hinübergeglitten in ein Schauturnier, bei dem die Akteure den schon feststehenden Siegern lediglich die Ehre erwiesen. Das Kräftestechen um die Burgmacht war somit entschieden und das Krönungsfest konnte beginnen.

Die Massen applaudierten immer noch, als feierlich Bogenschützen in leuchtend blauen Kimonos einen weiten Kreis um den verlassenen Muschelthron bildeten. Jeder hatte einen brennenden Pfeil im gespannten Bogen. Auf das Zeichen des Rattenältesten hin schossen sie hoch in die Kuppel des Gewölbes und entzündeten einen prächtigen Kronleuchter. Die Massen johlten und schossen wild Leuchtkugeln auf den Rängen ab. Dann tanzten hundert zarte Rocker-Ratten-Ladys einen exotischen Rock-Raggae-Hiphop-Mix. Die geschmeidige Ballerina unter ihnen führte die Rattenkrone vor. Am Ende des Tanzes kniete sie vor Nack und reichte ihm das Zeichen der Macht.

Nack schritt zum Thron, hängte das glanzvolle Teil gelassen an die Muschel und forderte lässig zu Speis und Trank auf. Das Fest nahm seinen Lauf. Stunden waren vergangen. Immerzu schwang zwischen den Tanzeinlagen betont pompöse Musik durch die Arena, die das Volk zu „Glückliche Herrschaft“-Rufen animierte.

Wallo fand das widerlich, es schüttelte ihn geradezu. Eben noch hätten dieselben Untertanen Nacks und seinen Tod beklatscht, wenn es dazu gekommen wäre. Wallo fühlte abgrundtiefes Entsetzen, und er war von den vielen Eindrücken erschöpft, während Nack die kultvolle Szene genoss. Ja, er spreizte sich wie ein Pfau, dieser frisch gekrönte Burgherr. Wallo saß still neben ihm. Und Zorn grummelte dem Drachen durch den Magen. Ja, alles war noch einmal gut ausgegangen. Doch Nack hatte ihn für seine Zwecke benutzt. Er hatte ihn unvorbereitet in Gefahr gebracht. Das tut man nicht mit einem Freund, bohrte es in Wallo, als Nack ihm auf die Schulter klopfte:

„Na, du Kampfdrache! Das war ein starkes Stück, was? Aber was hockst du wie ein Trauerkloß herum? Gefällt dir mein Fest nicht?“

„Nicht sehr“, antwortete Wallo tonlos. „Außerdem ist es jetzt für mich Zeit, ich werde wieder nach oben in die Stadt gehen.“

„Du willst mich verlassen? Ich wollte dich zum Chef meiner Leibgarde machen. Du kannst doch jetzt nicht so einfach gehen! Du kennst den geheimen Weg zu unserem Reich“, pfiff Nack zuletzt drohend auf ihn ein.

„Das hättest du dir früher überlegen sollen. Du wolltest mir lediglich zeigen, wo du wohnst. Das Ganze hätte auch böse ausgehen können, und du hast mich vorher kein bisschen gewarnt. Ich habe dir einfach zu schnell vertraut, und du hast das ausgenutzt. Das sagt mir, ich muss mich vor dir in Acht nehmen. Leider. Ich bin nicht verfügbar für dich, Burgherr Nack. Lebe wohl, ich breche in dieser Minute auf.“ Wallo erhob sich schlapp und zog zum Abschied vor Nack die Schiebermütze.

Aber Nack sprang auf und verstellte dem Drachen den Weg. Wallos abgeklärte Verachtung machte ihm zu schaffen, wenngleich er ihn herrisch anknirschte: „Ja, du hast Recht, aber deswegen musst du doch nicht gehen. ICH habe aus dir einen Drachen gemacht. Du bist mir etwas schuldig! Bleib und hilf mir, mein Reich zu verteidigen.“

Der Enttäuschte Wallo. Zeichnung: Petra Elsner
Der Enttäuschte Wallo.
Zeichnung: Petra Elsner

„Nichts bin ich dir schuldig, und ich bin nicht einer deiner Untertanen, Nack. Aber ich bin auch nicht dein Feind. Nur brauche ich sicheren Abstand zu dir. Wer weiß, was du sonst wieder ausheckst. Dein Reich, da kannst du sicher sein, verrate ich nicht. Versteh doch, ich fühle mich von dir benutzt. Das gefällt mir gar nicht. Deswegen will jetzt allein sein. Geh mir aus dem Weg und mach keinen Zoff mehr.“

Nack wurde nun schnell einsichtig. Er zwickte sich eines seiner Barthaarglöckchen ab und knipste es Wallo wie einen Orden an das zerschlissene Hemd. „Für deine Hilfe, Wallo. Und wenn du mal in Schwierigkeiten bist, läute mit dem Glöckchen in irgendein Gullyloch, ich werde dich hören und kommen.“

Wallo dankte unbeeindruckt und schlurf-hüpfte schwerfällig in das Schwarzwasser und tauchte ab …”

Hier enden meine Auszüge aus “Wallos seltsame Reise”. Vielleicht haben sie Euch berührt und Ihr wollt wissen, wie die Geschichte weiter geht. Dann kauft Euch bitte des Buch. Ein Klick auf das Buchcover in der rechten Spalte und Ihr seid bei einem Händler, der neue und gebrauchte Exemplare vorhält. Ihr werdet noch Flrirr, das Selberseelchen und Boha, die Höhlenbesitzerin kennenlernen und auch,  was Ken auf seiner Suche nach seinem Freund erlebt.

Petra Elsner

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (7)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Wallo graulte sich. Es war ein unwirklicher Ort, an den Nack ihn brachte. Ihr Weg führte durch einen Gullydeckel unter die Stadt. Dorthin, wo seit hundert Jahren ein Gewirr aus Rohren und ummauerten Gräben alle Abwässer leitet. Ein fahles Dämmerlicht fiel nur noch auf die beiden, die weiter, immer weiter durch giftgelbe, grün schäumende und blutrot brodelnde Rinnsale und Bäche platschten und wateten. Die Gewölbe waren flach wie Kerker, und Wallo kam nur krumm wie eine Bogenlampe voran. Dabei hielt er sich die tief hängende Gurkennase zu. „Hier stinkt es ja abscheulich. Einfach widerlich!“

Nack zuckte gelassen mit den Schultern und seine Bartglöckchen klirrten dazu: „Man gewöhnt sich an alles. Ich bin eigentlich eine Dachratte, aber die Menschen haben mich vertrieben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit den Wanderratten einzulassen und bei ihnen unterzutauchen.“

„Ist es noch weit?“, wollte Wallo wissen. Das Wasser stand ihm bis zum Hemdbauch. Und bei jedem Hüpfer, den er vorwärts sprang, spritzte das stinkende Nass. Wallo ekelte sich gar fürchterlich.

„Nein, weit ist es nicht mehr, aber das letzte Stück müssen wir schwimmen“, war Nacks unerfreuliche Auskunft.

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, donnerte nun Wallo aufgebracht. „Hätte ich vorher gewusst, was mir für ein schauriges Erlebnis bevorsteht, wäre ich nie und nimmer mitgekommen. Dagegen war es ja in der Mülltonne regelrecht gemütlich. Ich hab genug von diesem Unort, ich drehe um!“

Wallo machte kehrt, und Nack pfiff ihm beleidigt hinterher: „Hab dich nicht so zimperlich, du wasserscheuer Drache! Anders gelangen wir nicht in die Rattenburg. Davor ist ein Teil der Kanalisation zusammengebrochen und alles ist überschwemmt. Aber du wirst sehen, es lohnt sich. Gerade heute ist ein großer Wettkampf in der Rattenburg. Da treten die stärksten und mutigsten Kämpfer gegeneinander an. Der Sieger wird auf ein Jahr der Burgherr. Und ich bin einer der Favoriten. Das willst du dir entgehen lassen? Du kannst doch schwimmen – oder?“ Nacks letzten Worten hallten laut in dem modrigen Gewölbe.

Wallo drehte sich um, kam langsam auf den Ratterich zu und blubberte kleinlaut: „Ich hatte noch keine Gelegenheit.“

Nack lachte abermals sein kaltes Lachen: „Ha, so ein Gigant und von nix ’ne Ahnung.

„Kannst du fliegen?“, gab Wallo nun ärgerlich zurück.

„Nein, aber ungeheuer gut klettern“, verbarg Nack jenes Unvermögen.

„Ertappt, du kannst auch nicht alles! Also gib nicht so an!“, raunte Wallo.

„Ein Punkt für dich“, zählte Nack gönnerhaft.

„Und wie kommen wir nun weiter? Ich könnte versuchen, das Gebiet zu überfliegen. Es ist ein bisschen flach, aber es wird schon gehen. Aber dort hinten ragt das Gemäuer bis ins Wasser, müssen wir da etwa ganz untertauchen? Was machen wir?“, fragte Wallo.

Nack kratzte sich und dachte einen Moment nach. „Ich glaube, jetzt hab ich’s. Du kannst hüpfen und wie eine Raupe bedächtig am Boden krauchen.“

„Also, du redest von mir, als wäre ich eine Schnecke“, entrüstete sich Wallo beleidigt. „Ich kann blitzschnell durch die Lüfte preschen oder mich flach und schnell vorwärts schlängeln. Langsam bin ich nur, wenn ich etwas suche oder nur vorsichtig bin.“

„Nun, dann haben wir kein Problem“, fand Nack. „Schlängeln ist gut. Was an Land taugt, geht auch im Wasser. Schön kräftig und gleichmäßig durchziehen, du wirst sehen, es funktioniert. Probier es erst einmal hier im Flachen“, riet Nack.

Wallo legte sich flach auf das faulige Wasser. Es stank derart, dass er seinen Kopf unweigerlich hoch erhoben hielt wie eine Königskobra, und dann schlängelte er sehr schnell los: „Hohohohoho, es klappt, ich schwimme! Hihihihihoho. Und wie schnell. Guck mal! Hohohoho!“, freute sich Wallo und bremste rückwärts kommend so scharf, dass er eine kleine Bugwelle auslöste, die Nack mit dem Brecher ein Stück stromabwärts riss.

Nack pfiff dabei zombiehaft: „So ein Riesenschwachkopf, so ein Esel von Drache, so ein … Als er zurück war, hatte sich sein Zorn gelegt. „Du bist mir vielleicht einer. Erst kannst du was gar nicht und dann so gut, dass man das Grausen kriegt. Wenn wir jetzt losschwimmen, achte auf deine Bugwelle, okay?“

„Okay“, gab Wallo stolz zurück. Dennoch zog es Nack vor, hinter Wallo zu bleiben. Er wollte nicht abermals das keimige Wasser schlucken. Die ätzende Lorke war selbst für seinen Rattenmagen höchst unverträglich.

Alles ging gut bis zu der Tauchstelle. Als sich Wallo endlich überwunden hatte, den Kopf unterzutauchen, sah er, was sich darin tummelte. Schwimmkäfer, so groß wie Pantoffeln, allerlei Fadengewürm und Egel, so dick wie Autoreifen, tänzelten über den glitschigen Grund. An Wallos Bauch saßen inzwischen zwei kleine davon fest, saugten an seiner Krustenhaut und wuchsen dabei unglaublich rasch zu gewaltigen Ballons. Sie taten Wallo nicht weh, aber sie kitzelten ihn dabei so sehr, dass er pfeilschnell tauchte und weit vor Nack mit einem genervten Neiheiheihein-ohoh-Kitzelschrei aus einer großen Kloake auftauchte.

Der Schwarzwassersee war der Mittelpunkt der Rattenburg. Augenblicklich waren auf Wallo tausende von erschrockenen Rattenaugen gerichtet. Feindselig und bedrohlich starrten sie auf den ungewöhnlichen Eindringling…

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (6)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Die Stadt lärmte schon ihr morgendliches Getöse, als sich quietschend der Containerdeckel lüftete. Wallo streifte eine Sekunde warmes Sonnenlicht, dann, was für ein schauerliches Erwachen, ergoss sich eine  grässliche Müll-Ladung über den Grüngeist, daraufhin schloss sich der Deckel wieder krachend.

„Mein Gott, was ist das Ekliges?“, schrie Wallo entsetzt in seiner düsteren Schlafstelle. Die Sache roch schlecht, klebte, und überhaupt, Wallo plagten mächtige Kopfschmerzen an diesem Morgen. Er hatte sich noch nicht den Matsch vom Leib gewischt, da ergoss sich die nächste Portion über ihn.

Gerade rieb sich der Grüngeist die Stielaugen, als es über ihm kurz knackte und etwas scharf pfiff: „Was machst du in meinem Frühstück.“

Der Erwachende.
Der Erwachende.

Wallo stutzte. Einen Spalt weit stand jetzt der Deckel auf. Im Gegenlicht erblickte Wallo eine merkwürdige Gestalt, die sehr wütend vor sich hin zischte und pfiff. „So weit kommt es noch, dass mir, Nack, dem Fürchterlichen, jemand das Frühstück klaut. Ungeheuerlich! Warte,  dir zeig ich’s. Mir frisst keiner ungestraft was weg!“

Ehe Wallo etwas sagen konnte, sprang die Gestalt ins Halbdunkel und ging mit gefletschten Zähnen auf ihn los. Aber der rasende Nack riss nur Löcher in Wallos Hemd. Sein Körper jedoch schien unverletzbar.

Wallo griff mit seinen Ärmelstrahlen den Angreifer und hielt den wutschnaubenden Nack ausgestreckt von sich:

„Gib Ruhe! Ich will deine Leckerbissen nicht!“

Nack.
Nack.

Nack zappelte wild: „Du kannst mir viel erzählen! So wie du aussiehst, frisst du alles, was du kriegen kannst. Was bist du eigentlich für einer?“

„Ich bin ein obdachloser Baumgeist.“

„Ein waaas?“

„Ja, ich bin ein grüner Lichtschweif und war bis gestern die Seele eine Baumes“, antwortete Wallo ruhig. „Kann ich dich jetzt loslassen, ohne dass du weiter verrückt spielst?“

Nack lachte ein kaltes, höhnisches Lachen: „Hah, ich spinne nicht halb so viel wie ein anderer in dieser Blechbüchse. Aber okay, lass mich runter.“

„Du kannst ganz beruhigt sein, ich tu dir nichts“, versicherte Wallo dem kleinen, haarigen Kerl.

Der pfiff überheblich mit rollenden Augen:

„Baumgeist, oha, oho, grüner Lichtschweif, ha! Was ich sehe, ist ein schmieriges Ungetüm in abgerissenem Hemd. Von wegen grün und licht. Du bist nicht ganz dicht in deinem Drachenkopf, was?“

Während Nack das sagte, schaute Wallo beschämt an sich herab. Wirklich, von seinem Grünlicht war keine Spur mehr. Der Ruß, die klebrige Müllmasse saßen fest auf ihm, wie eine schrumplige, schmutzige Haut. Kein Wunder, dass Nack ihm nicht glaubte.

Nack stolzierte, die Arme auf seinem Rücken verschränkt, auf und ab. Griff sich einen für ihn lukullischen Apfelgriebs und nagte genüsslich an ihm, wobei er immer wieder lauernd zu Wallo aufsah. Doch sein Hunger war nunmehr größer als seine Furcht vor dem massigen Mülldrachen.

Aber auch Wallo bestaunte seinen Morgenschreck. Über seinem Fellkörper trug Nack einen schwarzen Lederoverall, der von einer dicken Metallkette gegürtet war. Auf dem Haupt thronten ein blauer und ein gelber Fellstreifen und an Nacks Barthaaren hingen winzige Goldglöckchen, die bei jedem Atemzug hektisch läuteten.

Wallos prüfender Blick störte Nack: „Was gaffst du so! Noch nie ’ne Hard-Rocker-Panky-Ratte beim Essen gesehen?“

„Nein“, antwortete Wallo.

„Komisch, dabei wimmelt es nur so von Rattengangs in diesem Viertel“, wunderte sich Nack. „Aber du? Nun mal ohne Flunkern: Wer bist du, und wo kommst du her?“ Nack setzte sich gespannt auf eine leere Bohnenbüchse, begann ausgiebig zu speisen.

Wallo seufzte tief: „Ich heiße Wallo und ich lüge nie. Ob du es nun glaubst oder nicht, das ändert gar nichts, ich bin wirklich die Seele eines alten Baumes. Der ist aber gestern Nacht abgebrannt, und ich wusste einfach nicht, wohin. Diese Mülltonne war das Einzige, was sich als Schlafplatz bot.“

Nack nickte cool: „Den Ärger kenn’ ich, wenn du erst einmal ohne Dach über dem Kopf bist, nimmt dich in einer großen Stadt so schnell keiner auf. Aber, eines bekomme ich nicht in auf die Reihe, wenn du eine Baumseele bist, wieso kann ich dich sehen, und warum bist du nicht im Seelenhimmel, wenn es deinen Baum nicht mehr gibt?“

Wallo kratzte sich nachdenklich am Gurkenkopf. „Wenn ich das nur selbst wüsste. Normalerweise sind wir, die Seelen von Lebewesen und den Dingen, überhaupt nicht sichtbar. Ich weiß nicht, wie es kam, dass es mit mir plötzlich anders war“, grummelte er. „Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, bin aber nicht drauf gekommen. Womöglich hat es nur etwas damit zu tun, dass Ken in mir war, der Baum schon tot, ich nichts Besseres zu tun hatte, als auf Kens Rufen hin zu erscheinen. Vielleicht waren die Schwingungen günstig, standen die Planeten gut, hatten sich besondere magnetische Felder gebildet oder sonst etwas. Keine Ahnung. Mir schwirrt alles im Kopf durcheinander. lass uns hinausgehen, ich brauche dringend frische Luft. Alles andere ist mir momentan egal. Kommst du mit?“

„Moment mal. Machen wir. Gleich, später“, nuschelte Nack mit einem Wurstzipfel zwischen den Zähnen.

„Erst muss ich mir noch ein paar Leckerbissen zusammensuchen, und du klärst mich inzwischen auf. Wer ist dieser Typ, ähm, Ken, ja?“

Wallo lehnte sich wehmütig zurück und erzählte Nack von seinem toten Walnussbaum, der Höhle und Ken.

Nack hatte gut zugehört. Jetzt stellte er lebenspraktisch wie er war fest:

„Gut, du warst eine Baumseele. Wenn schon, aber eine Baumseele ohne Baum macht keinen Sinn. Sag das einem da draußen, der legt sich doch glatt vor Lachen hin. Die Wesen glauben lieber dem Schein. Und für mich siehst du aus wie ein obdachloser Stadtdrache. Das mit der Seele war einmal, ab jetzt bist du Drache. Okay? Du wirst sehen, das gibt dir mehr Ansehen. Komm jetzt, ich zeige dir, wo ich wohne.

 

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (5)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Wallo war die Nachtkühle nicht gewohnt. Er schlotterte ganz erbärmlich und klinkte alsbald sehr verzweifelt an den Haustüren auf seinem Weg. Doch alle waren verschlossen. Wallo seufzte vor sich hin: „Ojeoje. Was soll nur werden?“

In jedem der Hauseingänge standen blaue Plastiksäcke, über einen stolperte versehentlich der mutlose Geist. Er stürzte, und wickelte sich im Fallen zu einer Kugel auf. Dann saß er. Sein Ende wedelte noch, und sein Anfang stülpte sich aus dem rußschwarzen Rund und sah dann verdutzt auf. Der Plastiksack war beim Umfallen gerissen, aus ihm quollen Kleidungsstücke heraus. Wallo entrollte sich und schlängelte neugierig zurück. Er durchwühlte den Kleiderhaufen und fand ein großkariertes Hemd, das ihm passte, und eine Schiebermütze. Er schlüpfte in das Hemd, teilte von seinem Lichtschweif zwei Strahlen ab und schob sie in die Ärmel. Er sah jetzt beinahe wie ein Mensch aus, der ganz sicher auf einem Bein durch die Gegend springen konnte. Doch Wallo war es ziemlich egal, wie er ausschaute. Ihm war, als friere er nun nicht mehr ganz so sehr, nur das allein zählte.

Die Verwandlung beginnt.
Die Verwandlung beginnt.

Eine Straßenecke weiter kam Wallo auf eine breite Allee. In deren Mitte wuchsen mächtige Linden. Wallo war froh bei diesem Anblick. Vielleicht würde ihn eine der vielen Baumseelen aufnehmen, wenigsten für diese schreckliche Nacht.

Was Wallo nicht wusste, dass es keine gute Zeit war, um an diese für Menschen unsichtbaren Baumpforten zu klopfen. Ahnungslos pochte er leise an die erste Linde. Darin hörte er nur ein jammervolles Wimmern, niemand öffnete ihm. „Kann ich helfen?“, fragte Wallo warmherzig durch das Holz. Doch er erhielt keine Antwort.

An den zweiten Baum klopfte er schon etwas kräftiger. Durch ein Astloch fuhr eine hektische, violette Lindenseele, die ähnlich einem Zitteraal zappelte und Wallo schrill anfuhr: „Äh. Was willst du um diese Stunde? Hast du wenigstens eine Tüte mit?“

 

„Was für eine Tüte?“, fragte Wallo irritiert.

Die Lindenseele.
Die Lindenseele.

Die Zitterseele verdrehte genervt die Glubschaugen: „Na, eine Plastiktüte voll Smog. So eine Portion wundervollen Automief, es können Diesel- oder Benzingase sein. Kapiert? Ganz gleich was, um diese Stunde schnüffeln wir alles.“

„Wozu brauchst du die Tütengase?“, will Wallo erstaunt wissen.

„Na, du bist mir vielleicht eine Landbaumseele. Von nichts ‘ne Ahnung! Du bist hier in der Schnüffelallee. Hier ist der Smog tagsüber so herrlich dick, dass man echt abheben kann. Aber nachts, da ist kein Stau, kaum wer unterwegs. Doch wenn keine Autos fahren, geht es uns hier wirklich scheußlich. Richtig mies sind wir dann alle drauf. Da klopft man nicht ohne ’ne mitgebrachte Tüte an, um sich an unserem Elend zu weiden. Hast du nicht doch was dabei?“

„Nein“, antwortete Wallo verlegen. „Und ich will mich an gar niemandem weiden, mir ist heute Nacht mein Baum abgebrannt. Da wollte ich fragen …?“

„Äh, ein Obdachloser. Mach, dass du weiterkommst, du Penner! Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Los, los, glotz nicht so blöd und verzieh dich!“, krächzte verächtlich die violette Schnüffelseele, zog ihren Birnenkopf zurück in den Baum und verschloss das Astloch mit einer knautschigen Bierbüchse.

Wallo stand völlig verdattert und verlassen in der Nacht. Obdachloser, Penner, schnüffelnde Baumseelen, all das kannte er nicht und wusste nicht recht damit umzugehen. Aber wenn das eine Schnüffelallee ist, dann brauchte er es hier wohl nicht weiter zu versuchen.

Er machte sich Hoffnung: Vielleicht finden sich ja in den weniger befahrenen Nebenstraßen noch gesunde, freundliche Baumseelen. Wallo zog erschöpft, doch unbeirrt weiter.

Es sollte eine sehr lange Nachtwanderung werden. In den meisten Straßenfluchten, in die er hineinsah, wohnten keine Bäume, oder sie waren noch so jung und zart, dass die Seelchen darin keinen Platz für einen ausgewachsenen Artgenossen gehabt hätten. Zwecklos, es trotzdem zu versuchen.

Wallo irrte schließlich ratlos umher. Keinen Sprung weit konnte er mehr hüpfen, er kroch nur noch flach über das Gehwegpflaster, als ein lautes Brummen die Stille zerriss. Ein Müllauto kurvte um die Ecke, bremste, dann tuckerte und ächzte es im Stehen. Zwei Männer sprangen vom Wagen und entleerten Abfallcontainer, die gegenüber an einer Häuserwand standen.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, schlich Wallo aus der Dunkelheit hinüber, sprang in eines der klobigen Gefäße und zog den Deckel zu. Es störte ihn kein bisschen mehr, dass es darin gar fürchterlich stank. Der obdachlose Grüngeist war so erschöpft, dass er sofort einschlief. Morgen, morgen würde alles wieder in Ordnung kommen. Es ist die Hoffnung, die den bekümmerten Wesen einen friedlichen Schlaf schenkt …

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (4)

Wallo
Wallo

… Die Nacht zerrissen Sirenen und flackerndes Licht. Im Baum war es unglaublich heiß. Qualm kroch in die Höhle und stieg schließlich hinauf in den Stamm, wo Wallos Kopf auf einem Vorsprung, noch nicht ganz wach, ruhte. Seine lange Gurkennase schnupperte in alle Richtungen und im Nu schreckte Wallo auf. Was war das? Irgendwie wurde es ungemütlich. Der Grüngeist musste nachsehen, wo die Ursache lag.

Nach unten konnte er nicht. Bei dem Versuch stieg ihm beißender Rauch in die Nase und aus seinen Stielaugen tränten gelbe Bäche. Also umkehren und rasch hinauf zur blattlosen Baumkrone. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die sperrigen, trockenen Äste, bis er auf einem günstigen Ausguck angelangt war.

„Oje, ojeeeeeeehhh!“, rief Wallo entsetzt. Es war ein Aufschrei aus allerhöchster Not. Rings um Wallo brannte der ganze Park. Das Feuer züngelte schon heftig an seiner Baumbehausung. Das Holz knackte und spuckte Funken. Wallo blieb keine Zeit zum Überlegen, er musste blitzartig hinaus.

Die Feuerwehrleute hielten den Brand nur von den Straßen aus im Zaum, damit er nicht auf die Steinhäuser überspringe. Natürlich hatten sie Wallos Schrei gehört. Waren davon zusammengezuckt und spähten besorgt über das Parkgelände. Nein, sie sahen nichts mehr. Keinen Menschen, kein Tier. Aus der niedergebrannten Parklandschaft ragte nur noch der tote Walnussbaum hervor, den jetzt die Flammen vollends ergriffen. Der war ihnen kein Rettungsversuch wert. Wieso auch. Er lebte eh nicht mehr. Es wusste ja niemand, außer Ken, von dessen Bewohner. Noch einmal vernahmen die Feuerbändiger diesen Schrei, fast zeitgleich schoss ein grüner Lichtbogen in den klaren Nachthimmel und zischte über die Dächer davon. Die Leute meinten, es wäre eine vergessene Silvesterrakete gewesen und kümmerten sich nicht weiter um jene Erscheinung.

Atemlos saß Wallo rußbedeckt auf einem der unzähligen Dachgiebel. Was sollte nun werden? Wohin sollte er gehen? Wo sollte er ein neues Zuhause finden? Es war stockfinstere Nacht. Ken schlief unter einem dieser Dächer, aber Wallo wusste nicht, wo. Morgen, übermorgen und überübermorgen wird er zum verbrannten Park zurückkehren. So lange, bis er Ken dort antreffen würde. Jetzt aber brauchte er einen Schlafplatz für die Nacht. Er musste sich auf die Suche machen. Der Wind pfiff durch den Lichtgeist, dass er glaubte, in tausend Fetzen zu zerstieben. So rutschte der zerzottelte Wallo an einer Regenrinne hinunter auf die Straße und hüpfte von Laternen- zu Laternenlicht …

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (3)

… Der Tag danach wollte für Ken nicht vergehen. Die Zeit kroch wie das Grau des Wolkenteppichs über der Stadt. Landregen verbreitete endlose Langeweile, ebenso Mathe-Schulz vorne an der Tafel. Ken hörte den Lehrer nicht einmal mehr. Der Junge guckte blaue Löcher hinaus in das schlechte Wetter und ärgerte sich stumm. „Ein Gang durch die Stadt würde heute Wallo bestimmt nicht gefallen. Bei Regen sieht man keine Gesichter. Alle sind abgetaucht unter Schirmen, Kapuzen oder wenigstens hochgeschlagenen Kragen und tragen die Köpfe eingezogenen. So kann man nicht viel entdecken. Und das ist natürlich auch kein Tag für eine Begegnung mit den faustschnellen Typen im Kiez.“

In Kens Gedanken wuchs Wallo zu einer unschlagbaren Kraft. Er hatte sie nur noch nicht probiert, und deswegen wusste er bloß nichts von ihr. In einer Gefahrensituation würde Wallo sie schon einsetzen – bestimmt. „Es kann ja auch gar nicht sein“, dachte sich der Junge, „dass einer, der einen Baum innerlich bewegt, ohne Zauber sein soll.“ Ken war ohne Zweifel und fühlte sich gut und sicher mit seiner Annahme, als ihn was aus seinen Gedanken riss: „Keeeenn! Eine Reihe bitte!“, forderte ihn der Lehrer auf.

„Em, wieeee bitte?“, stammelte der Träumer.

„Du hattest jetzt lange genug Pause. Das ist dein Part. Alsoooo: 5 mal 7, mal 20, minus 17, mal 3, plus 48, dividiert durch 5, minus 2, multipliziert mit 8 …“ Der Lehrer setzte die Kette noch eine Weile fort, Ken zog die Stirn kraus. Er hasste solcherart Stundenabschlüsse und wusste, was ihm nun blühen würde. Bis Ken begriff, dass er kopfrechnen sollte, hatte der alte Zahlenreiter schon losgelegt, es war sinnlos, den Faden zu suchen. Ken mimte ein Rechengesicht, bis er die letzten Worte des Lehrers vernahm: „… dividiert durch 8 ist?“ Mathe-Schulz wartete zwei, drei Sekunden und wiederholte dieses „ist“ schärfer. Ken fixierte die Zimmerdecke und erwartete das Unvermeidliche und schon kam es: „Danke! Sechs. Setzen!“

Ken plumpste abgeurteilt in seine Bank, da klingelte es zum Schulschluss. Der Junge saß noch einen Moment und ärgerte sich. Er hätte es wissen müssen, denn es ist eine Marotte vom alten Mathe-Schulz, den Stillsten der Stunde mit einer Reihe zu belohnen. Jetzt bückte sich der Mann mit dem Rotstift über das Klassenbuch und quittierte Kens Nichtleistung. Dann raffte er seine Hefte und schlurfte, den Jungen nicht beachtend, hinaus in den Flur, wo das Schulschlussgejohle langsam verebbte.

Ken trödelte mit gebührlichem Abstand hinterher. Eigentlich mochte er seine Schule, nur diesen Geruch nach Bohnerwachs, Staub und Schweiß ganz und gar nicht. Er wollte schneller gehen, damit seine Nase in den Wind kam. Aber dann hätte er den gebeugten Mann überholen und sich noch einmal seinem enttäuschten Blick aussetzen müssen. Das vermied er, denn so was setzte Ken mehr zu als eine Schelle vom Vater.

***

Kens Tag lief bis dahin nicht sonderlich gut. Jetzt hatte er nur noch den Wunsch, schnell bei Wallo zu sein. Er fegte in unglaublichem Tempo über das nasse Pflaster. Vor der Höhle angekommen, tropfte ihm der Regen aus den braunen Haaren. Wallo wartete bereits.

„Du triefst ja vor Nässe“, begrüßte Wallo Ken mitfühlend. Ihm war auch gleich ziemlich feucht zumute. Er kringelte sich um den Freund, als wollte er ihn wärmen. Während der Junge verschnaufte, Schuhe und Socken abstreifte und letztere auswrang und zum Trocknen an der Höhlenwand aufhängte, sprach Wallo unternehmungslustig auf ihn ein:

„Ich hab es mir überlegt und glaube nun schon, dass ich den Baum auf kurze Zeit verlassen kann. Auf einen kleinen Gang durch die Straßen. Was meinst du, ob wir nachher noch losgehen können?“

„Es ist ungemütlich heute da draußen. Aber wenn du keine Angst vor einem Schnupfen hast, dann gehen wir einfach los“, antwortete Ken. Er staunte über Wallos schnellen Entschluss.

„Gut, aber was ist Schnupfen?“, wollte Wallo wissen.

„Etwas Widerliches. Erst drückt einem der Kopf, die Augen werden dick, und dann läuft einem ständig die Nase. Man muss sie andauernd kräftig ausschnauben und der Zinken wird davon ganz unförmig und wund“, erläuterte Ken und benieste anschließend seine Erklärung. „Ja, und damit fängt so was an, man muss niesen.“

Wallo schaute Ken mitleidig an und fragte unsicher: „Du bekommst jetzt so einen Schnupfen, können wir trotzdem gehen? Ich bin nämlich sehr erwartungsvoll und glaube auch kaum, dass ich so ein Nasenzeugs kriege.“

„In Ordnung“, raffte sich Ken auf und zog seine klammen Socken wieder an. „Vielleicht ist das heute gar nicht so schlecht. Die Leute laufen bei Regenwetter fast mit geschlossenen Augen, da brauchst du keine Angst zu haben, dass dich jemand entdeckt und nervös wird.“

Gesagt, getan. Die zwei krochen aus ihrem Versteck ins Freie. Wallo blinzelte gegen das Licht und den Nieselregen. Endlich sah Ken seinen Freund in voller Pracht. Wallo, der grüne Lichtschweif, maß mindestens zehn Meter. Da er dicht über dem Boden schwebte, wirkte er zunächst wie ein wiesengrüner Nebelfetzen. Nur das Glimmen seiner Augen darin war etwas ungewöhnlich. Die zwei schlenderten wortlos hinüber zum verlassenen Spielplatz. Ken wollte Wallo in seinen neuen Empfindungen nicht stören. Der durchstöberte alles, was er sah. Seine Gurkennase grub zuerst eine Furche in das regennasse Gras. Wallo fand dabei Wildblumen, die hatten es ihm angetan. Während er weiter seinen Korridor durch die Wiese rüsselte, verfing sich seine Nase in einer herumliegenden Colabüchse. Mit der jonglierte Wallo so ähnlich, wie es dressierte Robben mit Bällen tun. Ken kicherte. Wallo fand einen Papierkorb, lugte hinein, schüttelte sich und warf die rot-weiße Büchse da rein. Schließlich gelangten die beiden zu den Spielgeräten. Gleich einer grünen Wasserwelle plätscherte Wallo über die Kinderrutsche, dann wirbelte er mit der Schaukel durch die Luft, wobei seine Gestalt mal vorne, mal hinten heftig ausbeulte. Ganz ausgelassen preschte Wallo daraufhin zum Karussell, wo er nicht etwa nur einen Platz besetzte, sondern sich in seiner ganzen Länge zum Platz nehmenden Kreis formte. Ken schob das Karussell an und Wallo juchzte.

Wallos Regentanz. Zeichnung: Petra Elsner
Wallos Regentanz.
Zeichnung: Petra Elsner

Es muss ein langes Kribbeln in dem sehr langen Bauch entstanden sein. Und so lang war auch sein Juchzen. Für einen Moment rissen die Wolken auf und ein Sonnenstrahl traf Wallo. Das Licht brach sich in zigtausend Regentropfen, die an dem kreisenden Nebelschweif hafteten. Wallo leuchtete augenblicklich zu einer wundersamen Regenbogenkette auf und war von seinem Glanz selbst bezaubert und sehr glücklich. So schön war er noch nie. Er blickte dankbar auf den Jungen, der ihn immer noch mit kräftigen Stößen drehte.

Auch Ken war fasziniert von diesem Anblick und konnte sich gar nicht satt sehen an Wallo. Inzwischen zogen sich die Wolken wieder zusammen und das kleine Wunder war vorbei. Wallo taumelte vor Freude durch den Park, es dämmerte bereits und Ken nieste immer öfter. Wallo spürte, dass es für heute genug sein musste. Indem Ken einen heißen Kopf bekam, wurde auch Wallo ganz matt und er schlug vor: „Lass uns jetzt zurückkehren. Ich fühle, dir geht es nicht gut, und ich bin auch schon ganz wässrig.“

Ken war einverstanden. Er begleitete Wallo zum Höhleneingang und verabschiedete sich mit einen müden „Bis morgen.“

Aber daraus sollte nichts werden. Ken packte ein heftiges Fieber, das ihn zwang, eine Woche lang im Bett zu bleiben. Es waren glutheiße Sommertage. Die Stadt staubte und ächzte vor Trockenheit. Wallo wartete in der schützenden Höhle besorgt auf den kleinen Freund …

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Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (2)

Wallo
Wallo

… Die Worte hatten einen langen Weg und ein Echo kam über sie, so dass jedes einzelne noch lange in dem Baum nachhallte. „Ist gut!“, rief Ken zu Wallo hoch. „Ich habe verstanden, du kannst wieder herunterkommen. Das wäre mir wirklich angenehmer. Ich gucke dir lieber beim Reden in die Augen als auf deinen großen Zeh.“

Kaum hatte das Ken gesagt, wickelte sich Wallo wieder um ihn. Es sah so aus, als säße der Junge in einem grün leuchtenden Nest. Wenn er nach Wallo griff, fasste Ken immer ins Leere. Wallo war ein Lichtstreif und so nicht zu fassen. Aber ganz offensichtlich war er da, bewegte sich, sprach mit Ken und lebte also.

Wallo blinzelte Ken freundlich zu: „Nein, ich kann keine Wünsche erfüllen. Aber wenn du träumst, dann reise ich mit. Ich sehe, was du siehst, und fühle, was du fühlst, und das ist doch was Besonderes. Wer weiß schon genau um den anderen? Aber das klappt auch nur, wenn du in dieser Höhle sitzt, denn dann bist du einfach in mir, dem Baum. Verstehst du das?“

Ken wusste das nicht genau. Er verstand nicht, wie er in Wallo sein konnte, wenn er doch neben ihm saß. Aber das war nicht so wichtig. Den Umstand, dass er auf jemanden getroffen sein sollte, der genau das mitdenken konnte, was er sich erträumte, fand der Junge umwerfend. Denn es war für Ken oft die größte Schwierigkeit, sich jemandem verständlich zu machen. Meist klappte das nicht. Entweder schlossen sich an solcherart Erklärungsversuche endlose Moralpredigten des Vaters. Danach war von Kens Meinung nichts mehr übrig oder es gab gleich Missverständnisse und Krach. Ohne Worte verstehen – das war ausgesprochen reizvoll. Aber Ken beschäftigte noch eine andere Frage: „Erklär mir das bitte, Wallo, warum soll das Ganze nur in der Höhle klappen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete der grüne Lichtstreif, nachdenklich in sich gewunden. Er kringelte sich ein Weile, so, als würde er sich irritiert die Haare raufen, dann schoss er wieder gerade vor Kens Nase und sprach: „Womöglich, weil du nur bei mir Teil meines Daseins bist. Gehst du, kann ich dich nicht sehen, weiß nicht, wem du begegnest und was dir dort draußen, unter den Menschen, geschieht.“

„Na gut, aber warum kannst du dich nicht in meiner Jackentasche ganz klein machen, und so mit mir kommen“, wollte Ken wissen.

„Weil dann der Baum keine Seele mehr hat“, erklärte Wallo geduldig.

„Aber der Baum ist doch tot. Es wird ihm bestimmt nicht schaden, wenn du mit mir einen kleinen Ausflug machst“, drängelte Ken. „Ich kann dir die Stadt zeigen. Wenn du schon solange schläfst, wirst du sie kaum wiedererkennen.“

Wallo wallte hin und her. Er schien regelrecht aufgeregt. Sein Grünlicht leuchtete greller und flackerte dabei. Offensichtlich machte ihm Kens Vorschlag zu schaffen. Schließlich stammelte er Ken zu: „Ich war noch nie außerhalb des Baumes.“

„Hättest du dazu Lust?“, fragte Ken.

„Ich denke schon“, erwiderte Wallo.

„Warum tun wir es dann nicht einfach? Was soll schon geschehen?“, ermunterte der Junge den Geist.

„Es ist schon dunkel draußen. Man könnte mein Leuchten sehen. Und was geschieht meinem Baum? Ich weiß, du möchtest am liebsten gleich mit mir losziehen. Gedulde dich etwas. Ich muss darüber nachdenken. Komm morgen. Morgen sage ich dir, was ich entschieden habe. Jetzt aber geh, es ist spät.“

Bei diesen Worten streichelte der Grüngeist Kens Wange. Daraufhin schob er das Kind zum Höhlenausgang und blickte ihm mit glimmenden Stielaugen nach. Er wollte Ken den Pfad etwas beleuchten. Dabei spähte Wallo einen kurzen Moment in das Draußen. Es war ihm ein wenig unheimlich, so wie Ken zuerst die Dunkelheit in der Höhle. Was würde ihn dort erwarten? Dann schlängelte sich Wallo wieder in den Baum und verfiel in einen grüblerischen Wachtraum.

Ken war richtig aufgeregt auf seinem kurzen Wegstück nach Hause. Er hatte einen Vertrauten gefunden. Irgendwie staunte er sehr darüber, wie schnell sie einander mochten. Schließlich kannten sie sich erst ein paar Stunden. „Stunden. Auweia!“, erschrak sich Ken. Es musste schon nach 21 Uhr sein. Er hatte völlig die Zeit vergessen. Der Vater wird zornig sein. Längst müsste Ken im Bett liegen.

Der Vater war zornig. Er fragte nicht lange. Ken hatte kaum die Wohnungstür hinter sich zu und war von den vier Treppen im Laufschritt noch ganz außer Atem, da hatte er schon eine Ohrfeige abgekriegt. Wortlos. Der Vater zerrte ihn mit hartem Griff ins Kinderzimmer und knallte sogleich wieder die Tür hinter dem Jungen zu. Es würde kein Abendbrot geben. Ken fingerte nach der Gummibärchentüte in seiner Jackentasche. Sie war noch fast voll. Wissend, er würde das Magenknurren beruhigen können, zog er sich aus und kroch unter seine Schlafdecke. Während Ken ausgestreckt lag, schob er ein Gummitier nach dem anderen in sich rein und dachte an Wallo…

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Wallos seltsame Reise

Cover
Cover

Aus diesem Buch habe ich Euch noch nicht wirklich was vorgestellt: „Wallos seltsame Reise”. Die unglaubliche Geschichte einer Baumseele hab ich 1993 geschrieben als ich meinen Liebsten kennenlernte und er nach sechs gemeinsamen Wochen einen schweren Deprischub bekam. Wir waren damals Scherbenkinder der Wende und ihn hatte der Mut verlassen. Ich schrieb dieses moderne Großstadtmärchen im Grunde für ihn, und es ist ihm auch gewidmet. 2006 hat es der Wiesenburg Verlag veröffentlicht. Aber wie es immer ist mit Kleinverlagen – die dort gedruckten Geschichten und deren namenlosen Autoren bleiben unbekannt. Jede Seite hat zu wenig Kraft. Das ist keine Klage, es ist eine Tatsache. Ein paar Auszüge aus dieser märchenhaften Erzählung stelle ich hier nacheinander vor:

… Es war eben wieder Kens Stunde für den Baum. Das ist immer die Zeit, wo das Viertel sein Nachtgewand überstreift. Es scheint dann ganz so, als fiele der dunkle Himmel über die abgetakelten Mietshäuser wie schwarzer Samt. Zu jener Stunde also huschte Ken gleich einem Schatten durch den Park, unglaublich vorsichtig und fast unsichtbar, denn er wollte nicht den Zugang zu seinem Geheimnis verraten. Kurz vor dem Brennnesselstück schoss es dem Jungen urplötzlich in den Sinn, ob nicht schon irgendjemand vor ihm die Baumhöhle entdeckt haben könnte. Vorzeiten. Und womöglich waren von jenem noch Zeichen im Holz aufzuspüren. Angekommen, entzündete er aufgeregt sein Windlicht, um nach Spuren seiner möglichen Vorgänger zu suchen. Nichts. Oder doch? Sein Blick wanderte hoch hinauf. Nein.

Enttäuscht ließ er sich fallen und sprach halblaut vor sich hin: „Baum, ist denn gar nichts in dir zu finden?“

Der schlafende Wallo. Zeichnung: Petra Elsner
Der schlafende Wallo.
Zeichnung: Petra Elsner

Auf einmal war es Ken, als bewege sich seine Höhle leicht, so als würde sie schwerfällig atmen. Dann räkelte sich die Höhle ächzend, als wenn sie einen sehr langen Schlaf hinter sich hätte. Unter Ken schlingerte der Boden, während etwas zu ihm ins Innere der Höhle sprach:

„Du hast doch mich gefunden und nun meine Stimme geweckt,  ist das etwa nichts?“

Die Stimme grummelte das ganz sacht. Trotzdem erschrak Ken. Er sah sich um, prüfte mit den Händen, ob das Teil um ihn wieder fest war. Nun suchte er nach dem, was da sprach.

„Wo bist du, und wer bist du?“, fragte er mit geducktem Kopf. Aber so konnte er nichts entdecken. Vorsichtig schraubte er sich in die Höhe. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er umher. Dort, wo er hockte, war nichts auszumachen. Es musste aber etwas da sein. Er hatte sich die Sache eben doch nicht nur eingebildet. Oder? Der Junge dachte bei sich:

„Ist mir die Fantasie durchgegangen? Es gibt öfter Leute, die meinen, ich spinne zu viel. Na ja, stimmt schon. Nur, das gerade kann ich mir nicht eingebildet haben. Unmöglich!“ Ken suchte weiter und rief dabei den Baum laut an: „Was soll das? Wenn hier wirklich einer ist, dann zeig dich endlich!“

Augenblicklich fuhr den langen Höhlenschlund ein Gebilde aus grünlichem Licht hinab. Das Ganze wirkte wie eine gigantische Gurkennase mit welken Sehschlitzen. Kurz vor Ken bremste das Ding scharf und formte aus dem Nichts einen vollen Mund, der sogleich wieder dröhnte: „Du hast mich eben erst geweckt, was brüllst du so? Da räufeln sich einem ja die Sinne!“

„Ich dich geweckt? Ich wüsste nicht, wie!“, empörte sich Ken. Er war sich keiner Schuld bewusst. Ja, er hatte mit sich gesprochen und wohl ganz, wie nebenher, den Baum dabei angeredet. Nicht laut. Der muss einen sehr seichten Schlaf haben, oder er war eben schon richtig ausgeschlafen, aber dann brauchte er nicht unbedingt so empfindlich zu reagieren.

Wenn Ken morgens erwachte, war er wach, ungeheuer wach, meinte der Vater ständig genervt. Der ist morgens ein Brumm-Monster. Richtig ekelig. Am besten, man weicht dem Mann mit dem eigenen Wachsein aus. Auf den Balkon oder die Straße. Frühaufsteher haben’s schwer. Es irritierte Ken, dass er zu seiner Traumstunde einen Erwachenden um sich hatte. Weniger verwirrte es ihn jetzt, dass es ein Baum war. Traumplätze sind Orte verwunschener Gedanken, darin ist alles vorstellbar.

Inzwischen hatte sich die Höhle noch einmal flach gestreckt, dann wieder aufgerekelt und dabei ganz wundersam gejuchzt. Ken musste in der Flachstreckphase den Kopf einziehen.

So richtig wach geworden, schlängelte sich das Gurkengesicht noch näher hinab zu Ken. Die Sehschlitze hatten sich etwas weiter geöffnet, und es war Ken, als flackerten ihn daraus zwei galaktische Irrlichter an. Warmgelb. Irgendwo auf seinen Traumreisen waren ihm solche schon begegnet. Er wusste nur nicht mehr genau, wo. Aber ihm war gut bei diesem Anblick. Er fürchtete sich kein bisschen mehr.

Ken sah grübelnd in dieses schwimmende Gesicht. Woher kannte er diesen Ausdruck? Wo war er ihm zuletzt begegnet? Es muss dort gewesen sein, wo er seine Mutter traf. Er hatte es so sehr gewünscht, sie noch einmal wieder zu sehen. Und auf einem sehr, sehr fernen und wirklich lichten Planeten traf er sie endlich nach unglaublich langer Suche. Vater erklärte ihm vor drei Jahren, seine Mam sei nun im Himmel und es ginge ihr gut. Ken konnte das erst glauben, als er sie dort antraf. Diese Irrlichter in dem Gurkengesicht hatten etwas davon: milde Wärme, die Ken so vermisste.

Ken staunte sprachlos das grüne Tier an und fragte sich, was es denn sei. Eine Erdschlange vielleicht? Oder ein Lindwurm?

Er hatte noch nie einen gesehen. Er starrte so verwundert auf das Wesen, dass es sich von selbst vorstellte: „Wundere dich nicht, ich bin nur der Geist des Baumes. All deine Träume habe ich miterlebt, wie ich all die anderen kleinen Träumer vor dir auf ihren Reisen begleitet habe. Es waren stets ähnliche Wünsche von Geborgenheit und Glück.“

„Der Geist des Baumes?“, murmelte Ken überrascht. Ein Baumdrache wäre ihm ehrlich gesagt lieber gewesen. Mit dem hätte er gegebenenfalls die Muskelprotze von der Straße vertreiben können. Aber was fängt man mit einem Baumgeist an? „Ich wusste gar nicht, dass Bäume einen Geist haben“, gab Ken ehrlich zu. Hast du einen Namen?“

„Aber ja, jedes Ding hat einen Namen und einen Lebensgeist. Ich heiße Wallo und solange mein Haus, der tote Baum, steht, werde ich in ihm wohnen. Nur gerufen hat mich halt noch keiner und so schlafe ich schon sehr lange in dem alten Holz.“

„Das ist aber eigentümlich“, fand Ken. Geister spuken doch nachts umher und jagen den Leuten gewaltige Schrecken ein.“ Er wusste das aus Gruselfilmen. Die Geister waren meistens ziemlich aktiv und nicht solche verschlafenen Gesellen wie Wallo. Oder sie waren einfach mal eingesperrt, in einer Flasche, damit sie kein Unwesen mehr treiben können. Derjenige, der sie befreite, hatte drei Wünsche frei. Oder wie in der „Unendlichen Geschichte“, worin Fantasien nur durch kindliche Wünsche leben konnten. „Kannst du auch Wünsche erfüllen?“, wollte Ken von Wallo wissen.

„Ich weiß nicht“, gestand Wallo etwas verlegen, weil er bemerkte, dass ihn Ken für so etwas wie ein Spukgespenst hielt. „Vielleicht habe ich mich dir nicht korrekt erklärt.“ Wallo richtete sich gerade, was ihm einigermaßen Mühe bereitete, da er dazu seine schlangenhafte Gestalt, die er um Ken geringelt hatte, aufgeben musste und pfeilartig hinauf in den Baumstamm schoss. Nun stand er und wiederholte richtig offiziell seine Vorstellung: „Ich bin kein Poltergeist, ich bin die Seele des Baumes.“ …

Wallos seltsame Reise, Erzählung von Petra Elsner, Hardcover, 55 Seiten, mit zehn farbigen Illustrationen, 2. Auflage erschienen im Wiesenburg Verlag 2013, ISBN 978-3-939518-02-0
Preis: 16,90 Euro

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