Das Schneeglöckchenlicht

„Wo die Schneeglöckchen blühen, wohnt das Licht,“ sprach die Mutter ins Winterdunkel der Hütte. Sie war schwermütig, darum bat sie ihr Töchterchen, es möge doch in den Wald gehen und ihr ein paar dieser strahlendweißen Blüten bringen. Das Mädchen schlüpfte in seinen Mantel und stiefelte auf einem verschneiten Weg in den Wald.  Es war Februar und ein klirre-kalter Tag. Hinter dem dunklen Tannenwald öffnete sich ein Auenwald mit Eschen und Erlen. Es gab keinen festen Weg durch die morastige Senke. So stieg und rutschte das Kind über gefallene Bäume, um an einen Schneehang zu gelangen, der heller als die anderen Schneefelder am Horizont leuchtete. Raben kreischten im Wolkengrau. Dem Mädchen war es unheimlich zumute, aber es wollte unbedingt der Mutter diese zarten Glöckchen bringen, die mit so viel Lebensenergie der Winterkälte trotzten. Flocken fielen und überzuckerten das Moor, das nun wie unberührt wirkte. Die Tierspuren verschwanden und langsam auch die Furcht des Kindes. Doch das war voreilig. Umso näher es dem Schneehang kam, desto lauter vernahm es ein bedrohliches Knurren. Und schließlich sah das Mädchen, woher es kam: Wölfe patrouillierten vor dem Hang. Wie sollte sie nur an ihnen unbeschadet vorbeigelangen? Für einen Moment stand das Kind wie angefroren, als eine Schleiereule über ihr schwebte und rief: „Was wagst du dich an diesen gefährlichen Ort? Die Wölfe werden dich zerreißen, wenn du weitergehst. Sie sind die Wächter der zarten Schönheit und lassen niemanden zum Schneeglöckchenlicht. Würden sie es nicht beschützen, es wäre längst geplündert.“
Das Mädchen war vollkommen ratlos. Das sah die Eule und landete vor dem Kind. Es erzählte vom Wunsch der kranken Mutter und die Eule befand: „Ja, wenn das so ist, dann halte dich an meinen Schwingen fest, ich kann dich lautlos über die Wölfe tragen.“ Sie schwebten unbemerkt wie ein Hauch. Als die Eule das Kind am Schneehang absetzte, waren beide verzaubert von dem herrlichen Leuchten. Tausende Blütenköpfchen streckten sich aus dem Schnee und verströmten einen milden Honigduft. Als das Kind ganz verzückt eine Blüte pflücken wollte, trat ihm eine strenge Glöcknerin entgegen: „Tu‘ das nicht! Du nimmst dem Schneeglöckchen das Leben!“  „Oh, das will ich auf gar keinen Fall“, sprach das Mädchen erschrocken, „aber wie soll ich sonst meiner schwermütigen Mutter das Schneeglöckchenlicht bringen?“ „Mit der ganzen Pflanze,“ antwortete die Glöcknerin und gab ihr drei Glöckchen mit bewurzelter Zwiebel. „So kannst du sie ihr bringen. Suche eine feuchte, fruchtbare Stelle in eurem Garten und pflanze sie dort ein. Sie werden sich vermehren und euch Jahr für Jahr das Schneeglöckchenlicht schenken, das den Trübsinn vertreibt.“

© Petra Elsner, 2. Klausur-Text, 2. Februar 2023, Lichtmess

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Morgenstunde (770. Blog-Notat)

Manchmal braucht man einen Schubser. Als ich gestern das erste Klausurstück – das kleine Kammerstück „Die verlorene Geschichte“ – online stellte, meinte der singende Micha auf Facebook:

Liebe Petra, das ist der Anfang eines Romans. Den will ich lesen!
Und ich antwortete: Lieber Micha, sollte eigentlich eine Kurzgeschichte sein…
Er erwiderte: Ich weiß. Aber da wabert was. Da wird ein Bogen gespannt. So wie es jetzt ist, wird der Bogen wieder abgesetzt. Aber schieß mal den Pfeil! …

Hm, da er hat wohl meine Abkürzung bemerkt und ja, ich wüsste, wie es weitergeht… werde die letzten zwei Sätze streichen, stattdessen den Gedanken weiterführen und nun wohl monatelang daran weiterschreiben (ohne einen passenden Verlag zu haben, versteht sich) … das Märchen vom Schneeglöckchenlicht, das ich eigentlich als 2. Klausurstück erfinden wollte, muss warten. Oh je, das kann ja heiter werden…, aber Micha hat mir ja zum Trost eine Kiste Wein versprochen. Trockenen Weißen bitte 😊
Tschüss alle miteinander, ich tauche wieder ab in meine Winterklausur.

Fotoprojekt „Vier Jahreszeiten“

Bild 2: Kopfweide im FEBRUAR 2023
Meine Beteiligung am  Projekt von Royusch

Das Fotoprojekt „Vier Jahreszeiten“ betrachtet fotografisch immer das gleiche Motiv im Jahresverlauf. Allein die Verwandlung durch die Zeit ändert es. Ich habe mich für meine Kopfweide entschieden. Sie ist der erste Blickfang in unserem 140 Meter langen Landschaftsgarten.

Der Weidenschnitt im Februar.

Ja, man hat mich schon oft belehrt: So beschneide man Kopfweiden aber nicht. Ist mir egal, denn so beschnitten, ergibt sie auch in der kahlen Jahreszeit eine gute Figur als eine Art Baumskulptur. Sie unterstreicht, das mystische Wesen der Weiden. Den Legenden nach, boten sie Elfen und Kobolden Lebensraum. Erst sehr viel später wurde die Weide als Hexenbaum beschimpft, wegen der Wünschelruten und all dem heilenden Zauber, der in ihr steckt. Weidenrinde galt als Schmerzmittel, Weidenblüten helfen gegen Verbitterung. Weidenspäne benutzt man zum Räuchern. In der Mythologie steht die Weide für Demeter, der Göttin der Erde.  Die Ahnen glaubten, dass die Weide für Widergeburt der Natur steht und Inspiration und Heilkraft symbolisiert und auch, dass sie dem Menschen Krankheiten abnehmen könne. Dieser Baum schenkt Kraft und Harmonie.

Und nun: Fortgang der KLAUSUR 2023

KLAUSUR 2023

Das 1. Klausurstück:

Die verlorene Geschichte

Der Traum war greifbar. Elias Kühn wälzte sich verstört durch seine Bettlandschaft. Er war sich ganz gewiss, dass diese Geschichte, die eben noch seinen Traum berührte, irgendwo vergessen auf seinem Schreibtisch lag. Eine abgelegte Geschichte. Aber warum? Noch war ihm so, als müsste er nur tief genug in dem Stapel loser Blätter kramen, dann würde er sie wiederfinden. Worum ging es doch gleich? Der Traum hatte ihn mit einer Zeile verlassen, einer Zeile, die diese Geschichte vervollständigen würde. Aber sie war flüchtig, und der Zettel für Nachtgedanken auf dem Tisch neben dem Bett war leer. Das gibt es doch nicht, so eine wunderbare Zeile war das. Er spürte sie noch, aber wie lautete sie doch gleich? Ähm, er raufte sich die Haare und grübelte: irgendwas mit VERÄNDERUNG. Oh je, dachte Elias Kühn, VERÄNDERUNG konnte so vieles bedeuten. Wo anfangen, wo aufhören? In seinen 60 Lebensjahren hatte sich andauernd etwas verändert, und meistens war dieser Wandel nicht Verbesserung, sondern meist nur schriller, lauter, greller. Er kam aus der grauen Zeit, und heute spürte er, es waren seine goldenen Jahre. Ob seine Geschichte in jenen Tagen spielte? Doch wo war sie? Er schlurfte zu seinem großen Schreibtisch, der seit Einzug des Computers nur noch als Ablage diente, so gewaltig, dass sie mit dem Turmbau zu Babel durchaus mithalten konnte. Davor stand er nun und wuchtete die Stapel umgedreht vom Tisch auf den Fußboden und nahm mit dem ältesten das erste Blatt und las:

2. Januar 1979. Meine Goldfische sind erfroren. Alle. Auch die Guppys. Mutter hat das Aquarium vor die Haustür getragen und umgedreht, da rutschte der Inhalt als Eisblock in den Schnee. Sah schön aus, ist aber traurig. Als wir aus den Bergen zurückkehrten, waren die Wasserleitungen zugefroren und das Klo geborsten. Vor unserer Haustür lag eine mannshohe Schneewehe. Mutter und ich schippten mit knurrendem Magen, denn wir hatten eine 16stündige, verpflegungslose Heimfahrt hinter uns. Es dauerte, bis das Holzfeuer im Küchenofen den Raum erwärmte und Mutter eine Schneewasserbrühe mit eingeschlagenem Ei kochte, die besänftigte das Knurren…

Elias Kühn schmunzelte in seinen Graubart, er hatte schon als Junge alles und jedes aufgeschrieben und dabei gelernt, die Worte zu setzen. Und ja, das war der verrückteste Winter, den er jemals erlebte. Die Küstenorte waren wochenlang eingeschneit, es gab Tote, und in der Kohle liefen die Bagger heiß. Aber das war nicht die gesuchte Geschichte, und deshalb legte er das Stapelblatt zurück auf den großen Schreibtisch, um nach dem zweiten Blatt zu greifen.

Ein flammendes Liebesgedicht. Liebeshunger sprang aus diesen Zeilen. Ein wildes Beben. Ach herrje, dachte der Mann; der Herzschmerz eines Pubertiers. Fast war es ihm peinlich, dieses Gefühlschaos zu überfliegen. Aber dann fand er, weiter unten, diese kleine Geschichte.

Die roten Schuhe

Sie konnte Stiefeltrinken. Halleluja! Besser als die gesamte Fußball-Clique, die in der Kneipe „Zur Mühle“ immer samstags abfeierte, während im großen Saal die Disko aufheizte. Annelie stolzierte in ihren knallroten Clocks an der Tresenriege vorbei und rief dem Kneiper zu „Durst! Ein Potsdamer, bitte!“. Sie schwang sich in ihren hautengen Jeans auf einen Barhocker und warf ihr hüftlanges Weißhaar über die Schulter. Alle Augen berührten die Schöne. „Du kannst auch beim Stiefelsaufen mitmachen“, lud sie Eberhard, der Trainer ein, aber der erntete nur einen verächtlichen Augenaufschlag. Annelie war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst, doch nie und nimmer würde sie sich mit einem Fußballer abgeben. Sie trank zügig ihr Bier-Fanta-Gemisch und wollte schon wieder zum Tanzen zurück, als sie der lange Jan anstachelte: „Du traust dich bloß nicht, Zuckerpuppe!“ Da hatte er was gesagt! Sie griff demonstrativ nach dem fast leeren Stiefel. Jan stellte noch klar: „Schwappt das Bier aus dem Schaft, zahlste die nächste Runde, und der Letzte vor dem Leertrinker muss einen Schnaps auf Ex schlucken. Alles klar?“ Annelie nickte und setzte die Neige an. Geschickt drehte sie das Bierglas ganz gleichmäßig und hielt so den Unterdruck im Fußbereich des Glases. Aber der Schluck war zu groß, sie musste absetzen und dass bedeutete: doppelter Wodka. Wie viele es wurden hatte schlussendlich nur der Wirt gezählt. Irgendwann waren alle entschwunden in die Sonnabendnacht. Ich schaffte es nur bis in den nächsten frisch gemähten Straßengraben. Als ich dort Sonntag früh erwachte schlich ich leichenblass nach Hause. Vor der Kirche standen zwei rote Schuhe. Ihre Schuhe! Fein säuberlich, wie vor ein Bett gestellt. Hier wird sie doch keiner klauen, dachte sich die betrunkene Schöne als letztes, und dann rannte sie barfuß heimwärts durch die Nacht. Der stille Verehrer trug sie ihr stillschweigend hinterher und stellte die Schuhe unbemerkt vor die Tür.

Ach, jung sein ist schwer – und so ungewiss. Wie schön wir waren, sahen wir erst später, auf den alten Fotos. Um nichts in der Welt wollte Elias Kühn noch einmal jung sein, und heutzutage schien ihm das noch weniger erstrebenswert. Dieser altkluge und genormte Moralismus, den die Jungen kompromisslos flaggen, für ihn unerträglich. Und die paar Schrillen daneben konnte er nicht ernstnehmen. Immer im Daueralarm, als würde ihnen gleich das letzte Stündchen schlagen. Was ist los mit dieser Zeit? Ausgeplündert, geheimnislos, am Ende aller Ziele? Bestimmt nicht. Er wünschte sich, die jugendliche Empörung würde sich in gestaltende Energie verwandeln, aber sie mündet immer nur im Nebel des Vergessens und dekadenter Langeweile.

Seine Gedanken wurden plötzlich schwer. Wie jäh auf wilde Aufbrüche entwürdigende Niedergänge folgen und die Protagonisten nur noch zu Zeitschatten werden. Kaum ein Blinzeln der Zeit dazwischen. Der Mann atmete tief. Auf das dunkelglänzende Holz seines Schreibtisches fiel spärliches Licht. Vorzeiten war das die Stunde der Großmuttergespräche in den Schulferien. Beschützt vom Dämmerlicht waren all seine kindlichen Fragen möglich. Kein Augenkontakt. Die Stille des Raums hörte ihn sagen: „Oma, gibt es einen Gott?“ und sie: „Ich weiß es nicht.“ Die Antwort der Kirchgängerin verblüffte ihn, und seither ahnte er, die Dämmerung ist das Portal zu den großen Rätseln und wundersamen Geschichten. Doch diese frühen Episoden von den welken Stapeln waren es nicht, nach denen er suchte, sie hatten es in keines seiner Bücher geschafft, er behielt sie nur aus Sentimentalität. Elias Kühn überlegte kurz, ob er sie nun endlich entsorgen sollte, doch dann wuchtete er die Stapel zurück auf das alte Möbel und entschloss sich in eine Wirtschaft zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Loslassen, sonst kreiselst du nur, sagte er sich, während er den Kragen hochschlug und in die Winterkälte trat.

Als er die Tür zum „Blauen Licht“ öffnete, schien die Wirtschaft dahinter zu dampfen. Der Abend war noch jung, aber die erste Gästerunde schien schon gut abgefüllt und tönte laut. Die Mädchenschicht, die hier am frühen Abend bediente, meist Studentinnen, kassierte höflich ab. Während die Belegschaft wechselte, torkelten die angetrunkenen Pärchen, die gleich nach ihrem Wochenendeinkauf mitsamt ihren Tüten hier hängen geblieben waren, nach Hause. Ihnen folgten Stunde um Stunde andere Falter nach. Jetzt hatten die Einzelgänger ihren leisen Auftritt, die gehen würden, wenn die Kino- und Theatergänger und die Freiberufler kamen. Ihnen folgten zur Mitternacht die harten Trinker und die Kiffer. Schichten, die sich nie begegneten oder nur streiften, obwohl sie ein- und dieselbe Kneipe besuchten. Elias Kühn kannte sie alle, denn er betrieb hier gerne beim Schoppen Roten seine Milieustudien. Aber heute suchte er einfach einen zum Reden. Er stand noch neben der Tür, bis sich die Szene entleerte und nur einen Menschen zurückließ, und eben der war der Richtige. Der Traumwanderer. Wolf starrte in den Schaum seines frischgezapften Bieres, als wollte er darin etwas Geheimes lesen, eine Botschaft oder was auch immer. Als er aufsah und Elias entdeckte, klarte sein Blick auf und er winkte ihn zu sich. „N‘abend.“  „Lange nicht gesehen“, begrüßtes ihn Elias Kühn und nahm ihm gegenüber Platz. „Wo hast du gesteckt? Hattest du den Schlüssel in deinem Bücherkabuff verlegt?“ Für Elias war der belesene Mann eine unermessliche Quelle zu seltenen Bücherschätzen, die er hortete, kaum dass er unter ihnen noch einen Lebensplatz fand. Wolfs müde Augen begannen hinter seiner Nickelbrille zu leuchten: „Nein. Ich hatte in Sachsen-Anhalt eine Orgel zu reparieren. Das war…“ Er wurde von der Wirtin Frau Graf unterbrochen. „Schoppen Roten?“ Sie blinzelte Elias Kühn dazu an, wie sie alle Männer anzwinkerte, die in ihr Beuteschema passten. Elias wusste, er würde irgendwann darauf zurückkommen, wenn er in Not wäre, heute nicht. Er bestätigte den Schoppen nur mit einem Nicken und sah wieder zu Wolf: „Hast du schon mal eine Geschichte verloren? Weiß du, ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich diese Geschichte überhaut geschrieben oder nur geträumt habe.“
„Worum ging es darin?“ „Ich habe keinen Schimmer mehr.“ Wolf wippte seinen Zopfkopf, wie immer, wenn ihm eine bedenkliche Situation vertraut war, und sagte dann: „Ja, ja – die Wahr-Träume sind wie Kobolde. Es gibt da in Mannheim einen Schlafexperten, der meint: Wenn wir träumen, denken wir, dass wir wach sind und man müsse deshalb die Realität checken. Genauer gesagt: den Inhalt abklopfen.“ „Na fein“, murmelte Elias, „der ist vollkommen flüchtig, aber es ging um irgendeine Veränderung, glaube ich.“ Selbst darin war sich der Mann nicht sicher. „Mann, bist du nicht alt genug, um einfach darauf zu verzichten?“ „Es geht nicht,“ antwortete der graue Schreiber, „diese verschwundene Geschichte blockiert mich. Sie ist wie eine Warnung: Schau genau hin, diese Veränderung könnte dir gefährlich werden. Etwas in der Art.“ Wolf murmelte: „Steckt nicht in jeder Veränderung so eine Warnung, eine unbestimmte Furcht, aber doch auch der beflügelnde Mut des Aufbruchs? Sie bedingen einander, fließen zueinander, miteinander…“ „Schon, schon, aber, was bleibt am Ende wie auch am Anfang? Ein Verlust. Er gehört zum Wandel, wie der Tag zur Nacht. Weißt du noch, wozu wir 1989 aufgebrochen waren, wir Träumer, und was daraus wurde? Kein neues Land, nur ein größeres, mit Heerscharen von enterbten Kostgängern. Sowas brennt sich tief ein. Mir ist manchmal so, als hörte ich seither wirklich das Gras wachsen im politischen Stimmengewirr, als sehe ich vom Rand aus haarscharf ins Zentrum der Kampfzone. Weißt du was ich meine?“ Der Zopfmann blickte nickend in sein leeres Glas und nuschelte: „Menschlicher Seismograph.“ Er bestellte bei Frau Graf die nächste Getränkerunde, während Elias weitersprach: „Hm, ein Gespür für das atmosphärische Bioklima. Es geht um Teilhabe, Lebensglück, Akzeptanz, Stolz, Wohlbefinden…, es ist, als würde nach solchen gesellschaftlichen Beben der Spürsinn der Gescheiterten messerscharf. Eine Art Selbstbewahrung, die allerdings unbeweglich macht. Wenn man das Haus eines Mannes ausplündert, muss man sich nicht wundern, dass der die Schotten dicht macht.“ Die Männer tranken schweigend, und plötzlich wusste Elias Kühn, es gab diese verlorene Geschichte nicht als spezielle, einzelne Geschichte. All diese verstaubten Blätter auf seinem Schreibtisch und in seinem Herzen enthielten sie, seine verloren geglaubte Geschichte.                                                         

© Petra Elsner, 31. Januar 2023

KLAUSUR 2023

Morgenstunde (769. Blog-Notat)

Der neue Chatbot ChatGPT ist der neueste heiße Scheiß. Darin schreibt eine KI auf Wunsch Gedichte und Geschichten… und ich frage mich: Soll sich der Mensch das Denken abgewöhnen? Buchzusammenfassungen serviert zu bekommen, ohne selbst jemals in die Schulschwarte geschaut zu haben? Ich dachte immer, KI sollte das Leben erleichtern, aber nicht das Leben an sich abkürzen. Schon heutzutage lesen immer weniger Menschen, da fragt sich der Autor schon hier und da: Wer wird das noch lesen? Aber wenn ich heute sehe, da spuckt eine KI – eine Art Transformer – in Windeseile eine Geschichte aus (zugegeben, keine wirklich hinreißenden, aber immerhin), brauchen wir dann noch Literaten und Dichter? „network error“ heißt es oft bei der noch kostenlosen Nutzung, weil der Chatbot der Firma OpenAI wegen der weltweiten Zugriffe einfach überhitzt ist. Puh. Nein, ich will und werde in keine Sinnkriese stürtzen. Professoren, deren Klausuraufgaben von ChatGPT brillant und sekundenschnell gelöst werden, stellen sich selbst ja auch nicht infrage. Während die Nutzer mit der KI in den Dialog treten, ziehe ich mich auf den alljährlichen Monolog zurück. Heißt, ich beginne meine  Winterklausur und wünsche Euch derweil eine gute Zeit, Eure Petra

Zwischenrufe:
Nach der 1. Klausur-Woche: Dreieinhalb Seiten sind geschrieben. Trotz Wasserrohrbruch, der uns drei Tage immer wieder aus dem Rhythmus warf. Gestern und heute wurden zwei Schmuckstücke am Zeichenplatz fertig: das Anfangsinitial und eine Textabsatzmarke…

Morgenstunde (768. Blog-Notat)

So, Feierabend! Die letzte Zeichnung ist abgeliefert. FMs Kolumne erzählt hier von einem umtriebigen LKW-Fahrer, der zwei Jahre Koch in einem japanischen Kloster war und nun, im Älterwerden, für sich einen Landsitz und auskömmliche Arbeit sucht. In einem Traum erschien ihm sein ehemaliger Zen-Meister, der ihm „Bokushingusuzume“ zuflüsterte, was so viel wie „Kackende Spatzen“ heißen soll (ich weiß, nicht sehr appetitlich, aber ich hab‘ es nicht erfunden und es stimmt auch nicht, denn der Google-Übersetzer meint: Bokushingusuzume hieße „Boxen Spatz“ – nun denn…). Unter diesem Namen macht der Typ Helmut schließlich einen Gasthof in der Uckermark auf, in dem er gelegentlich auch japanisch kocht. Soweit der Kern der Geschichte. Aber der Autor musste mich beraten, denn es fiel mir einfach nicht das Rechte ein. Nach seinen Tipps kam nun heute dieses Blatt zustande, womit die Schräge-Vögel-Reihe für „Georgs Landleben“ abschließt. Ist auch gut so, mein rechter Arm mault schon wieder, was nach insgesamt 16 Zeichnungen im Januar 2023 nicht so verwunderlich ist. Ich bin gespannt, was aus dem Seitenbündel entstehen wird. Die 14 Blätter sind meinerseits eine reine Option in die Zukunft.
Für die nächsten Tage gilt es, eine neue Geschichten-Idee zu entwickeln. Sie wird vorerst nicht im Blog auftauchen… Ein paar Geheimnisse müssen schließlich sein😊…

Morgenstunde (767. Blog-Notat)

Es ist Freitagabend und eben habe ich diese 13. Zeichnung fertigbekommen. Sie steht zu einem Text von FM, in dem der Held, ein Dichter (was sonst), in Ermanglung eines ruhigen Arbeitszimmers, beim Holzhacken nicht nur Scheite spaltet, sondern auch Textideen und die gewissermaßen wie Scheite stapelt, bis er sie gebrauchen kann… Morgen ist Zeichenpause, Augen ausruhen.
Der Liebste macht Fortschritte. Er ist nicht schmerzfrei, aber seit gestern Nachmittag sitzen wir wieder beieinander, schauen uns in die Augen und spielen zum Nachmittagskaffee Backgammon. Das ist eine echte Verbesserung von Lebensqualität 😊 im jungen Jahr. Womit ich abtauche in den Feierabend. Habt ein schönes Schneewochenende allerseits!

Morgenstunde (766. Blog-Notat)

Foto: Lutz Reinhardt

Eisig draußen. Eine kleine Gartenrunde gedreht, dann rasch wieder ins Häuschen, am Kaffeepott aufwärmen. Eine sehr dichte Zeichenwoche neigt sich. Die 12. Vignette ist eben fertig geworden. Sie erzählt von einem Luftikus, der ständig skurrile, aber alphabetisch geordnete Pläne macht, die sich allerdings sehr schnell wieder in Luft auflösen… Kenn jeder eine/einen 😊. Den zu bebildern hat Laune gemacht. Zwei Motive sind für die Schräge-Vögel-Reihe zu FMs Texten noch zu finden… Wie immer, wenn es gegen Ende geht, fehlt was – der Grafikkarton ist ausgegangen, also bestellen und auf schnellen Versand hoffen, denn ich will fertig werden, mir ist nach eigenen Texten. Ich werde auf meine alten Tage, wohl kein wirklicher Teamplayer mehr werden, auch wenn ich‘s immer mal wieder versuche…

Eine Buchbesprechung

Der Vogel im Preußenkleid des Igels
Gedichte von Eckhard Mieder

Das neueste Buch von Eckhard Mieder ist ein lyrisches Bündel, in dem der Autor selbst Protagonist in seinen Texten ist. Im Chamäleon-Gewand kann er Vogel, auch Igel sein. Seiten voller heiterem Gezwitscher, dann plötzlich stachlige Absurdität – ein echter Mieder also, der für seine Gedichte-Sammlung schon mal ins „Archiv der Albträume“ griff. Dabei begegnet er Ikarus und Sisyphus, um dann, ganz entspannt Orten die Stimmung abzulauschen. Der Leser begegnet mit „Fresslust gendernden Wespen“, von denen die dickste zur Hummel mutiert. Leichtfüßig, auch hadernd spürt der Dichter der „Rätsellast des Lebens“ nach, vergangenen Zeiten und Reisen nach Island, Schweden, Lappland. „Am Ende der Welt spricht Gott mit Gletscherzungen, Fischschuppen im Haar.“ Von der Schönheit der Natur überwältigt, schenkt er uns Wander-Balladen, witzige Sprachbilder, freche Aphorismen, scharfsinnige Verserzählungen, die wenigen vulgären Sprüche hab‘ ich großzügig überblättert. Nicht meins. Aber gleich dahinter freie Lyrik vom Feinsten mit humoristischer Note im Abgang, wie hier:

„Es gibt eine Stille

Schritte. Ein paar Dutzend Meter
in den Wald. Die Blaubeeren sind
geharkt von Menschen aus
Thailand. Die ausgehobenen Bäume,
braun vor Erde um ihre Wurzeln, ähneln
Bären im Stande launischer Scheu. Das Moos
klumpt zu Buckeln der Trolle.

Morgen ist. Bläue ist. Nicht
ein Vogel unterwegs. In der Nähe
gibt es einen See, in dem die Fische
beim Morgentee sitzen und Knäckebrot
essen. Was der Mensch kann, kann
der Rotbarsch seit langem; frag ihn mal.

Und nichts ist zu hören. Nichts.“

Und zwischen all dem expressionistisch Absurden ein Seitenhieb von West nach Ost:
„…Hab Geduld! Mach uns nicht das schöne Land entzwei
so plötzlich…“

In fast allen Notaten schwingt sie mit, die Liebe zu den Wurzeln, dem Land, das verlassen liegt und der Dichter weit weg, wo „die Sonne untergeht“ im Überdruss versinkt. Nur eine schwache Stimmung vielleicht, denn am Ende spricht er von Liebe und kämpft gegen Salomon um die bessere Hymne den Frauen. Da wagt er sich was und gewinnt (mein Lächeln).

Mieders Gedichte in „Der Vogel im Preußenkleid des Igels“ sind im Verlag am Park erschienen. ISBN: 978-3-89793-357-6, 130 Seiten, Softcover, 15 €

© Petra Elsner

Morgenstunde (765. Blog-Notat)

Foto: Lutz Reinhardt

Nörglerischer Sonntag. Nach einer grauen Regenwoche erste Schneeglöckchen und Licht in Sicht. Der Dachs ist auch schon wach, oder hat sich gar nicht erst zur Winterruhe hingelegt. Er stöbert jedenfalls sichtbar herum, aber ich habe ja in „Der wilde Garten“ meinen Frieden mit ihm gemacht. Vielleicht.
Tag 15 im Jahr und der Liebste steht immer noch beim Essen, man könnte wegen der seltsamen Kommunikationspose Genickstarre bekommen. Aber Männer lieben es ja wohl, wenn Frauen zu ihnen aufschauen 😊. Jedenfalls konnte er gestern schon einen ersten Waldspaziergang unternehmen, dennoch, es klemmt irgendwo und der Schmerz mit seinen Einschränkungen macht dumpfe Laune. Wenn die Luft zu dick wird, gehe in Garten harken, das hilft die Fassung und den Sonntagsfrieden zu wahren… Nachmittags werde ich ein Sammelpassepartout für die sechs Märchenzeichnungen aus der ersten Januarwoche schneiden – für eine mögliche Ausstellung, noch unbestimmt.