ALTERN – eine Buchbesprechung

Wenn eine wie Elke Heidenreich über das Altern schreibt, dann ist das nicht ein schlichtes Nachsinnen, sondern das Ausgießen des Füllhorns der Bücherwisserin. Störrisch und kämpferisch, wie sie eben ist, die Heidenreich, erzählt sie uns von sich und ihrem zum Thema Gelesenen. Darüber entsteht ein fiktiver Dialog über Zitate. Spannend ja, aber zuweilen auch schwergewichtig wie ein Gesellschaftsvortrag. Mir sind die Passagen am liebsten, in denen sie über sich selbst schreibt. Wie zu viel Energie, für andere bedrohlich wirken kann. Sie ist eine, die sich mit 81 Jahren immer noch ein Arbeitspensum zumutet, dessen Preis „Erschöpfung und oft eine gewisse Einsamkeit…“ ist. Sie will für sich ein bisschen „Ruhe in eine Welt bringen, in der es keine Ruhe mehr gibt,“ indem sie „weniger, aber alles zu Ende“ liest, hört, sieht. Nicht weglegt, wegzappt, eben ruhig bei der Sache bleibt.
Heidenreich reflektiert über Herkunft, Glück, Lebenssinn, Schuld und (sehr wichtig!), dass man sich vor der „Enteignung“ im Alter nur durch Selbstbewusstsein schützen kann. Sie schreibt über selbst gewählte „Einsamkeit als Technik der Leidensabwehr – nicht als Dauerzustand.“ Und unterscheidet zwischen Einsamkeit als Verzicht und Vereinsamung als Verlust. Sehr wahr. Am Ende spricht sie vielen Lesern aus dem Herzen, wenn sie das „Grundgefühl der Überforderung“ der Alten benennt, die uns ab und zu in eine tiefe Niedergeschlagenheit führt. Da muss man sich wieder rausrappeln, auch um wieder gesehen zu werden. „ALTERN“ ist ein reiches, gedankenanstiftendes Essay zum Thema Altwerden in dieser unserer Zeit. (pe)

ALTERN von Elke Heidenreich, Hanser Berlin Verlag,
ISBN: 978-3-446-27964-3

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Eine Buchbesprechung

KAIROS von Jenny Erpenbeck

War es Glück, dass sich ihre Blicke im Bus berührten, oder stolperten Katharina und Hans am 11. Juli 1986 geradewegs in eine Tragödie? Sie ist Lehrling und 19 Jahre alt, er ist Schriftsteller und Ende 50. Verheiratet und eine Geliebte hat er, aber das interessiert Katharina noch nicht, sie verliert sich in ihrer Liebe zu Hans und er verliert sich in seiner Liebe zu Katharina. Wir schreiben die bleierne Zeit in der DDR. Man hat viel Zeit füreinander, sehr viel Zeit für Musik und Theater, für kultivierte Gespräche mit reichlich geistigen Getränken. Aber Hans ahnt, das wird nicht ewig halten und er würde auch nie seinen gutbürgerlichen Ehestand verlassen. Aber die Lustbarkeiten eines Geheimnisses hat immer zwei Seiten: Licht und Schatten. Bei einem Praktikum in einer anderen Stadt wird Katharina von Hans überraschend verlassen. Er kommt nach Frankfurt an der Oder nur zu ihr, um ihr das in den zehn Rangierminuten der Lok zu offenbaren. Danach fährt er mit dem gleichen Zug zurück nach Berlin. Sie heult sich auf dem Bahnhofsklo die Augen aus. In ihrem Weltenschmerz wird es diese eine Nacht mit einem anderen Mann geben. Doch  Hans entschuldigt sich und nimmt die grundlose Trennung zurück. Nur das Schlachtfeld ist schon angerichtet und die Obsessionen beginnen. Das Paar steckt bald im schlecht bewohnbaren Unglück. Hans verlangt ein vollständiges Überein, doch das kann es nicht geben. Er malträtiert die junge Frau regelrecht mit Worten und schlägt mit seinem Gürtel zu. Da möchte man als Leser durchaus austeigen, aber die Autorin zieht einen tief hinein in diese sonderbare Liebesgeschichte, die das Zeitgeschehen zugleich mit messerscharfen Konturen skizziert. Hier nimmt die Handlung dramatische Fahrt auf, als der Spielboden des Landes auseinanderfällt. Am Ende sind alle nur noch frei…
Jenny Erpenbeck zieht ungewöhnlich klar, oft nur mit wenigen Sätzen komplexe Erinnerungen aus dem Schlamm der Geschichte. Besonders dafür kann man ihr wirklich dankbar sein. (pe)

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Heimatlos

Fast vier Millionen Menschen sind zwischen 1991 und 2017 aus dem Osten in den Westen gegangen

„Kosakenberg“, dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, denn es erzählt die Geschichte einer Frau, die Anfang der 90er, wie tausendfach andere junge Menschen, ihre alte Heimat verlassen hat. Nur nicht umsehen – dieses Spannungsfeld interessierte mich. Doch ich war enttäuscht von der Heldin Kathleen, einer vollkommen zerrissenen Person, die sich vornehmlich am Statusdenken des Westens orientiert und sich für ihre Herkunft schämt. Ihre belehrenden Auftritte bei Heimreisen verstören und assoziieren ein Fremdsein auf vertrautem Terrain – beiderseits. Es ist, als ob ein allseitiger Vorwurf in jedem Gespräch im Heimatdorf mitschwingt. Und während sich die Fortgegangene als Verräterin fühlt und eine Rückkehr als Niederlage ansieht, schaffen sich die Zurückgebliebenen neue familiäre Ersatzbündnisse. Da ist diese alte Schulfreundin, die nicht mit hinüberwuchs ins Erwachsensein und zur rätselhaften Heileier-Händlerin mutierte. Bauernschlau, patent, rücksichtslos und irgendwie Ersatztochter für Kathleens Mutter. Misstrauisch und eifersüchtig beargwöhnt Kathleen diese neue Beziehung… Hier ist am Ende nicht alles gut. Über den Tod der Mutter hinaus, bleiben die zwei Frauen sich wesensfremd. Ein Haus ist wie eine dritte Haut weiß die leibliche Tochter, und das Elternhaus, das Nadine billig kaufte, trägt seither einen Wasserfleck, als würde es weinen.
Die Autorin Sabine Rennefanz schildert uns eine Heldin in der Ferne ohne Mutterboden, die sich ihre Wurzeln wie einen Feind auszureißen versucht, aber darin jämmerlich scheitert. In meinem Magen hinterließ sie nur ein ungutes Gefühl. (pe)

 

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Bevor ich mich morgen wirklich in die KLAUSUR mit dem Altersmonolog zurückziehe, dies noch:

Über die wahre Bienen-Königin im Imkerhaus

Ich liebe spitzfindige Kolumnen, die süffisant menschliches Alltagschaos betrachten. Das kann erheitern und Erleichterung aufkeimen lassen: „Gott sei Dank, ist es bei uns nicht so!“ Aber was, wenn doch? Wenn also eine gestandene Imker-Frau vom Leder zieht und das Geheimste vom Imker und sin Fru seziert? Ui, da schlägt das Herz höher und lauter. In „Hier spricht die wahre Bienen-Königin“ erzählt die Journalistin und Imkergattin Steffi Pyanoe von den tonlosen Stoßgebeten, den romantischen Irrtümern und den wüsten Verwünschungen, die das Leben mit einem Imker flankieren. Alles, beinahe alles, wovon sie spricht, habe ich exakt so erlebt und ohne Selbsthilfegruppe nicht schadlos durchlitten. Das „raumgreifende Hobby“ ihres Imkergattens wird so anschaulich präsentiert, dass selbst die leiderfahrene Leserin in Lachsalven gerät. Der beste Weg zur heilenden Gelassenheit. Das fein illustrierte Bändchen gleicht einer herrlichen Lästerschrift! Unterhaltsam, lehrreich und desillusionierend zugleich.  Ineinem ist die Autorin konsequenter als ich, sie hat wenigstens ihr Schlafzimmer von frisch gefirnissten Zagen, drachenkopfartigen Honigeimern und Gläserkistenstapeln frei gehalten… Mir ist das nicht gelungen, wenn ich erwache, schaue ich auf ein gut gefülltes Honiglager und so manch anderes noch…😊

© Petra Elsner

Kredits zum Buch:
Steffi Pyanoe: „Hier spricht die wahre Bienen-Königin“, mit Illustrationen von Heike Isenmann, ISBN: 978-3-9823126-7-5, Preis: 14,90 €

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Eine Buchbesprechung

Die im Regenbogen wohnten
von Eckhard Mieder

Gut 30 Jahre nach dem Sommer 1989 stieg der Autor Eckhard Mieder noch einmal hinab in das „labyrinthische Denkgelände“ jener Tage, um mit Abstand diese Zeit zu betrachten. Das war gewagt. Denn natürlich war die Gefahr gegeben, dass eine neuerliche Draufsicht altklug daherkommt. Aber das wäre nicht Mieder, der sich herumquält mit dem Leben und Authentizität herausschälen will. Sein neuer Roman „Die im Regenbogen wohnten“ schafft das perfekt. Er erzählt auf 360 Seiten aus dem Leben einer Ostberliner Abiturklasse und von der Liebe zwischen Vera und dem neuen Mitschüler. Dem bemerkenswerten Gadji, Sohn eines sowjetischen Offiziers. Doch die Zeit und all ihre Gewissheiten geraten mit der Wende ins Wanken. Für Vera, die die Veränderungen eher verstören, sprechen die alten und neuen politischen Akteure mit gleichem Vokabular. Sie ist skeptisch, fast ablehnend gegenüber dem Engagement der Mutter. Ihre Denkunterschiede werden erst später eine neue Sprachmelodie bekommen. Aber dann werden ihr Land und Gadji schon für immer verschwunden sein.

Nicht schon wieder „Wende“, wird der eine oder andere abwehren. Aber es lohnt sich, in den Sog des spannenden Buches zu geraten. Allein deshalb, weil diese dichte Zeit ganz genau aufgebröselt wird. Der Autor hält sich streng an Fakten und so gelingt es ihm, ein neu akzentuiertes Kapitel deutscher Geschichte aus der Sicht junger Erwachsener aufzuschlagen.

©Petra Elsner

Credits:
Eckhard Mieder
Die im Regenbogen wohnten
erschienen im Verlag am Park
Roman, 362 Seiten, Taschenbuch, 23 €
ISBN 978-3-89793-381-1

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Druckfrisch: Der wilde Garten

Foto: Lutz Reinhardt

„Der wilde Garten“ ist eingetroffen. Wie schon vermutet, steckt auch er  im leichten Softcover, als Folge der gestiegenen Produktionskosten. Dennoch, wer das Bändchen aufschlägt, wird ganz sicher von seinem stillen Zauber berührt. Im Rücktiteltext heißt es begleitend:

„Gute Märchen machen stark, weil sie uns zu leben lehren.“, meint die Geschichtenerfinderin. Ganz in der Tradition alter Hausmärchen sind Petra Elsners Erzählungen für die Familie gedacht. Magisch ziehen die Geschichten, die mit den Jahreszeiten wandern, in ihren Bann. Begegnen Sie dem Schneeglöckchenlicht, stöbern Sie einen Wetterkobold und den kleinen Blattträger im wilden Garten auf. Im Schattenwald erzählen Holzmann und Birkenfrau von den Geheimnissen des Waldes. Vielleicht treffen Sie unterwegs den Regenmann, die Heideelfe, den Grasflüsterer, das Sonnenmädchen, den Dunkelgnom und viele andere Bewohner der Uckermark, des Barnims und der Schorfheide. Denn wenn sie nicht gestorben sind…
Die fiktiven, regionalen Märchen, die aus der Moderne stammen und den Zeitenwandel in sich tragen, erzählen vom Glück, den Tücken des Lebens und seinen Festen. Sie knüpfen einen klaren Bezug zur Realität, wobei meist ein winziger Initialfunke das Märchenhafte anknipst wie eine magische Lampe, indem sich augenblicklich für den Helden neue Chancen auftun. Dabei bleiben Petra Elsners Fantasiegestalten dicht bei dem aufrechten Menschenschlag des Brandenburger Nordens …“

Die Credits: Petra Elsner: „Der wilde Garten“, Taschenbuch, ISBN: 978-3-949557-17-0, 98 Seiten, mit Illustrationen von Petra Elsner und Fotos von Lutz Reinhardt. Erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder. Das Buch kostet 20 €, zzgl. Versand und ist überall im Buchhandel erhältlich, bzw. bestellbar.

Abends im Atelierfenster…

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Neuer Besuch im Kinderzimmer

Nach den zwei Emotionen „Wut“ und „Angst“ besucht diesmal die „Liebe lange Weile“ das Kinderzimmer. Eine seltsame Stimmung bringt sie mit, die verunsichert und schlechte Laune verbreitet. In dieser bezaubernden Vorlesegeschichte erfahren die kindlichen Zuhörer etwas über das große Nichts. Wieder hat die Autorin und Malerin Kerstin Undeutsch dem diffusen Unbehagen eine treffliche Gestalt gegeben, die zu so gar nichts Lust hat und kein guter Begleiter ist. Aber die Autorin findet einen einfachen Weg, diese gähnende Emotion zu überlisten. Und urplötzlich ist sie wieder weg, die „Liebe lange Weile“. Es ist das dritte kluge und spannend illustrierte Kinderbuch von Kerstin Undeutsch, dass der Verlag Tasten & Typen herausgegeben hat. Wie schon die Bilderbücher „Keine Angst vor der Angst!“ und „Wut zu Besuch“ wurde auch „Liebe lange Weile“ außerordentlich stimmig inszeniert. Eltern werden das klare und hilfreiche Buch lieben, weil es ihr Kind stark für das Leben macht. (pe)

Kerstin Undeutsch: „Liebe lange Weile“
Hardcover, Fadenheftung
ISBN 978-3-945605-50-9
Preis: 16,80
Erhältlich hier:

 

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Das Café ohne Namen
von Robert Seethaler

Die Handlung beginnt 1966 in Wien im ärmlichen Viertel um den Karmelitermarkt. Der Tagelöhner Robert Simon hört davon, dass der Pächter der heruntergewirtschafteten Kneipe am Markt aufgibt. Er erfüllt sich einen Traum und verwandelt das schäbige Quartier in ein gepflegtes Café. Von diesem Ort erzählt der Autor Lebensgeschichten. Knapp und konzentriert wie beste Kurzgeschichten, die für sich stehen, aber zusammen eine wunderbare Milieu-Skizze jener Zeit ergeben. Mit Leichtigkeit und einem Schuss Melancholie erzählen all diese menschlichen Auftritte von der Schwere des Lebens. Bittersüß.
Ein Roman über das Werden und Vergehen zu etwas Neuem. Empfohlen wurde er mir der Bestseller von meiner Freundin Ines, mir bescherte er wirklich wohligen Lesegenuss. (pe)

Erschienen ist es hier.

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Vorgestellt

Hier ist mein Land – gute Unterhaltung aus dem Norden Brandenburgs

@HierIstMeinLand ist ein neues Format auf YouTube, das seit Juni 2023 schon Tausende Zuschauer in seinen Bann zog. Der Macher – Micha Seidel aus Ringsleben – hatte es satt, für abgehobene TV-Konzepte zu produzieren, die zusehends dominant für schillernde Falter und Minderheiten das Wort ergreifen. Den Entertainer, Musiker und Filmer interessiert hingegen das bodenständige Leben auf dem flachen Lande und um nichts anderes geht es bei „Biertrinken mit…“. Gäste sind Typen aus der Gegend mit denen Seidel unverstellt über deren Lebenswelt plaudert. Immer freitags um 18 Uhr startet eine neue Folge. Beim Reinschauen könnte Sie das Gefühl beschleichen, Sie säßen mit am Stammtisch. Denn da fragt einer, wie Sie vielleicht auch fragen würden und der Gast antwortet offen und natürlich. Ja, Promis gibt’s auf diesem privaten Kanal auch gelegentlich, aber im Grunde geht es Seidel um Einblicke ins Regionale. Produziert wird das Ganze nicht billig mit der Handykamera, sondern mit richtiger Filmtechnik. Ein Jahr hat sich das kleine Dreh-Team um Micha Seidel gegeben, um dieses Regionalformat auszuprobieren. Ich muss Sie allerdings vorwarnen: Sie könnten süchtig werden. (pe)

 

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Seidel sang ziemlich beste Lieder

Jeder Takt floss in eine geschmeidige Bewegung. Der ganze Mann klang und swingte auf der Bühne, kaum, dass mir ein scharfes Foto gelingen konnte. Bis in die letzte Fingerspitze ist dieser Musikpoet eine herrliche Rampensau und seine Zwischentexte – eine Salve spitzer Ironie. Das anderthalbstündige Konzert „Seidel singt – ziemlich beste Lieder“ wurde unterm weiten Altlüdersdorfer Himmel vor 130  mitwippenden Zuschauern inszeniert. Ich fühlte mich dabei umarmt, seelenverwandt und gut mitgenommen. Micha Seidel ist ein Klangzauberer, einer, der mit dem Wort spielt, es dreht und wendet, bis aus dem Brandenburger Hinterland die große Politik spritzt. So war das kleine und große weltschattierte Konzert von „Seidels Volkskunst Kollektiv“ nicht nur musikalisch eine Offenbarung. Ich danke dafür.

PS: Die CD-Produktion „Seidel singt ziemlich beste Lieder“ hatte ich im Blog bereits letztes Jahr besprochen, siehe hier. Ich will mich nicht wiederholen…

„Seidels Volkskunst Kollektiv“: Micha Seidel, Sänger, Musiker und Entertainer; André Kuntze, Keyboard; Matthias „Felix“ Lauschus, Gitarre, Percussion, Trompete und Mario Rühl, Kontrabass und Gezupftes.

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