Sandteufel Nax – ein Sommermärchen

Zum Sommerwochenende
stelle ich noch eins meiner handgefertigten Künstlerhefte vor.

Diese Ostsee-Geschichte ist vor vielen Jahren auf einem Berliner Balkon Ecke Schönhauser/Bornholmer im Hochsommer entstanden. Es war mein erstes freiberufliches Jahr, an Urlaub war nicht zu denken. Die Stadt ächzte unter dem Smog und  tropischen Hitze, da bin ich ein Weilchen im Kopf verreist und hab dazu diesen Sandputzer Nax erfunden…
Das Bändchen kann bei mir im Atelier für 10 Euro zzgl. Versand erstanden werden.

Sandteufel Nax

er nächtliche Sturm hatte sich gelegt, und ein seidenweicher Morgen umfing die Küste. Noch war kein Strandläufer unterwegs. Nur schneeweiße Wolkenberge kreuzten im Helioblau des Himmels. Emma segelte verzückt in ihrem Flug und entdeckte dabei auf ihrem Lieblingssonnenplatz einen frischen Hügel. Sie dachte: Da war aber nächtens eine Menge Flugsand unterwegs. Der hatte sich zu einem Wall getürmt. Meernass begann er nun im Wind zu trocknen und zu zerrieseln. Daran war nichts ungewöhnlich. Die Möwe Emma hatte schon viele haltlose Dünen gesehen. Doch es schien ihr, als kämen aus diesem Sandberg merkwürdige Geräusche. Lauter als der Wellenschlag der Ostsee waren sie allemal.

Emmas Fund

Neugierig tippelte Emma über den warmen Strand. Irgendetwas blinkte auf dem Dünenkamm im Sonnenlicht, und von dort kamen auch die schnorchelnden Töne. Ärgerlich war Emma dann doch, als sie sah, da lugt nur ein grüner Flaschenhals aus dem welligen Sand. Sie kam sich vor wie ein gefoppter Tourist, der Bernstein sucht und wassergeschliffenes Glas aufspürt. Die Möwe hackte missmutig nach der Flasche. Ganz ungewollt traf ihr Schnabel dabei den Korken und saß augenblicklich fest. Emma zerrte und zog. Kraftholend schlug sie hektisch ihre Schwingen bis der Korken fluppte, und der Vogel gleich einem Bruchpiloten von der Düne stürzte. Pu. Da saß sie nun, die Zerzauste, und sortierte sich schnippisch.

Emma zeterte noch, als es, noch lauter aus dem Wall schnarchte. Vorsichtig tippelte die Möwe abermals dem Laut entgegen. Er musste aus der Flasche kommen. Sie klopfte gegen das Glas, aber nichts rührte sich. Ein kleines Weilchen, dann schnarchte es wieder ungeniert weiter. Emma scharrte aufgeregt den Zuckersand um den Glaskörper frei und entdeckte darin eine kleine schlummernde Gestalt. Sandbraun und zottelig.

Sehr verwunderlich. Die Möwe war schon weit herumgekommen, aber derartiges hatte sie noch nie gesehen. Was es wohl sein mag? Emma platzte beinahe vor Spannung. Kein Klopfen störte den Schlaf des zausligen Wesens. Das brachte Emma am meisten in Rage. Es blieb nichts anderes, sie musste es irgendwie zu fassen bekommen, um es wach zu rütteln.

Gedacht, getan. Emma zirkelte ihren Schnabel in den Flaschenschlund und bekam schließlich einen auf- und niedertanzenden Kopfhaarfussel zu fassen. Ein Ruck, und der Winzling baumelte an der frischen Luft.

Emma legte das schnarchende Fundstück ab und hüpfte flügelschlagend und krächzend um es herum: „He, aufstehen du Langschläfer! He, wer bist denn du?“

Ganz gelassen kroch die Antwort aus dem Schläfer: „Nax.“ Es klang wie eine Schnarchsilbe. Deshalb nahm Emma den Laut nicht für eine gegebene Auskunft und kitzelte mit dem Schnabel den Schläferbauch: „He, du! Komm zu dir! Ich will endlich wissen…“ Da kicherte und quiekte schon das Zottelteil: „Aufhören. Nicht Killern. Bitte nicht. Hi, hi, hi, hi. Ich bin ja schon wach.“

Schon ist gut, fand Emma und betrachtete die kleine wundersame Erscheinung, die so herzhaft lachte und zugleich lossprudelte: „Ich bin Nax, ein Sandteufel. Ein Sandvagabund. Nein, bis eben war ich noch ein Seefahrersandteufel oder ein seefahrender Strandteufel? Ein See-Nax-Sandsurfer. Ein fahrender Nax – egal.“

„Emma prustete: „Wohl eher eine teuflische Flaschenpost.“
„Ich bin keine Flaschenpost“, echauffierte sich Nax. „Ich bin nur ganz zufällig darein gerutscht. Wie ich überhaupt ganz unfreiwillig zum Seefahrer wurde. Man hat mich einfach mit samt einer großen Kiesladung gepackt und verschifft. An Deck war es derart stürmisch, dass ich fürchtete, es fege mich womöglich ins Meer. Aber weißt du, ich bin wasserscheu, deshalb bin ich in die erst beste Flasche gekrochen.“

Emma schaute skeptisch. Sie tippelte auf und ab, als Nax zurückfragte: „Hat diese Möwe auch einen Namen?“ Die Möwendame reckte sich und neigte kurz und zackig den Kopf: „Gestatten, Emma, die allwissende Promenadenmöwe von Kühlungsborn.“ Dabei zupfte sie ihr schlohweißes Brustfederkleid, als richtete sie einen edlen Spitzenkragen und klapperte selbstverliebt: „Ich könnte dir ganz unglaubliche Geschichten erzählen.“

Nax fuhr der Schreck in die Glieder: „Ach, du liebe Güte, eine Tratsche. Das hat mir gerade noch gefehlt! Emma, du musst dich unbedingt beherrschen. Kein Mensch darf wissen, dass es uns Sandteufel gibt.“

„Wieso nicht“, wisperte Emma, „für solche possierlichen Gestalten haben die Menschen doch etwas übrig.“

„Ja, ja“, meinte Nax, „so sehr, dass sie uns wie die Affen im Zoo zur Schau stellen würden. Um unsere geheime Aktion wäre es damit geschehen.“

„Geheim?“ Emma wurde hellhörig. Um nichts in der Welt würde sie jetzt noch auf eine Auskunft verzichten. Also schmeichelte sie: „Ich wusste ja gar nicht, dass ich einer so wichtigen Persönlichkeit gegenüberwohne.“

Nax spürte, dass es kein Zurück gab, aber er verpflichtete Emma: „Bei allem, was dir lieb und heilig ist, keinen Schnabellaut über Sandteufel. In Ordnung?“

Die Möwe nickte eilig.

„Also gut: Sandteufel gibt es seit Urzeiten. Vielleicht machen sie allen möglichen windigen Schabernack, aber ihre wichtigste Mission ist es Sand zu putzen. Wir sind gewissermaßen die Sandwäscher der Erde. Die Menschen glauben immer noch, die Natur reinige sich selbst. Wenn die wüssten, wie viele Kobolde, Wichtel und Teufelchen dafür zugange sind. Na, egal. Besser ist, sie bleiben bei ihrem Glauben. Geboren werden wir Sandteufel alle im Tal der Windrosen. Keine Ahnung, in welchem Land das liegt. Es ist sehr heiß dort, und es gibt eine Menge Sand. Es ist ein bewegliches Dünenland. Man ist also immer auf Reisen. Und will man mal schneller und weiter weg, schlüpft man einfach in eine Windhose und düst los. Verschlägt es einen in eine windstille Gegend, so bläst sich ein ausgewachsener Sandteufel mit seinem Hügel selbst davon.“

„Quatsch! Du bist ein aufgeblasener Windbeutel! So etwas gibt es doch gar nicht“, geiferte Emma.

„Doch, ich habe es bei meinem Großvater gesehen. Der wohnt schon seit Jahren in einer gewaltigen Wanderdüne in Südfrankreich. Er mag einfach dieses mediterrane Klima und den langsamen Gang der Dinge. Einen Wirbelsturm hat Großvater schon ewige Zeiten nicht mehr bestiegen.“

Der Großvater

Emma lauschte ungläubig. Sollte es denn wirklich wahr sein, was ihr da dieser kleine sandige Kerl erzählt? Das müsste er erst einmal beweisen. Und so verlangte die Möwe: „Wenn es stimmt, dass Sandteufel Erdwälle bewegen, dann mach diesen Hügel zu einer Wanderdüne.“

Nax räusperte sich verlegen und stammelte dann: „Ich bin aber noch ein ganz kleiner Sandteufel und habe das Dünenverwehen noch nie probiert. Ich weiß nicht, ob meine Kraft dafür schon ausreicht.“

Emma herrschte: „Eine Demonstration bitte! Wir müssen ja nicht gleich mit der Düne an einem Tag bis Rostock.“

„Wo liegt Rostock?“, erkundigte sich Nax. „Östlich. Erst Richtung Heiligendamm und dann ein wenig südlicher. Ungefähr zwei Möwenflugstunden“, schnatterte Emma.

„Östlich ist gut“, fand Nax. Er hatte sich aufgerichtet und erblickte in jener Richtung Windflüchter. Der Wind kam also vorwiegend vom Westen her und würde seinen Startversuch unterstützen. „Aber zwei Stunden? Wir werden Wochen brauchen, um mit dieser Düne dort einzutreffen. Es sei denn, wir finden eine gute Windbruchgasse und es geht mir nicht so schnell die Puste aus, “ sinnierte der kleine Teufel.

Emma sah, dass sich Nax die Sache ernsthaft überlegte und bot ihm an: „Steig auf meinen Rücken. Wir unternehmen einen Erkundungsflug.“

Emmas Flug

Das ließ sich Nax nicht zweimal sagen. Er kletterte über Emmas Schwanzfeder hinauf zu ihrem Nacken. Die Möwe kicherte indes, denn Naxs Aufstieg fühlte sich wie das Rieseln von Zuckersand an. Endlich saß er, und los ging es.

„Siehst du dort unten das Steinband?“ rief Emma schrill gegen den Wind, „Das ist die berühmte Strandpromenade von Kühlungsborn mit ihren eleganten Villen. Hier flanieren die Feriengäste und zeigen ihre frische Bräune und teure Klunkern. Und dort hinten kommt die Steilküste von Heiligendamm in Sicht. Alles beste Badegegend.“

Nax dachte sich: Schön ja, nur etwas menschenvoll. Als sie wieder zurück waren wusste Nax einen Weg. Er legte sich flach auf die Rückfront der Düne, dass hatte er so bei seinem Großvater gesehen und versuchte, den kleinen Gipfel anzupusten. Die feinen Sandkörner flossen wellengleich mit der Luftströmung. Emma staunte, und Nax wunderte sich, dass es wirklich klappte. Auch wenn es langsam ging, die Düne kroch Zentimeter um Zentimeter weg vom Strand. Dabei war es Emma, als ob Nax währenddessen ein klein wenig wuchs. Und genauso war es auch. Das Sandpusten wirbelte unzählige Staubteilchen von den Körnern, und die fraß der Sandputzer einfach auf. Irgendwann stoppte Nax und hielt sich seinen inzwischen kugelrunden Wanst: „Weiter geht es heute nicht. Ich bin so satt, noch ein Stück, und ich zerplatze wie eine übervolle Staubsaugertüte.“

Emma hatte ein Einsehen. Sie erhob sich in die Lüfte, während Nax augenblicklich erschöpft, doch sehr stolz auf sich, in einer Mulde einschlief.

Nax in der Nacht

An nächsten Morgen wehte ein heftiger Westwind. Der setzte die kleine Düne, auch ohne Naxs Zutun, in eine raupenartige Bewegung. Der Sandteufel thronte obenauf und begnügte sich damit, nach einigen aufgewedelten Staubteilchen zu schnappen. Ein nettes, leichtes Frühstück. So ließ es sich gut leben. Er rekelte sich zufrieden, doch da krächzte es von oben:

„Das ist ja unglaublich! Sonntägliche Ruhe auf dem Hügel bei so schönem Wind. Los, du Sandputzer. Ich denke, du willst noch in diesem Leben nach Rostock. Ich habe gleich hinter dem Strandhafer eine sehr schöne Gleitschneise für dich entdeckt.“

Nax fühlte sich angetrieben. Aber gut, wenn der Wind mithalf, könnte er ja einen Sandteufelrekordversuch starten. Und so blies er frisch und munter die Düne an. Jetzt schaffte er einen halben Meter pro Sekunde. Gerade erreichte sein rutschiges Sandkissen besagten Pfad, als urplötzlich der Boden bebte.

Molli

Emma flatterte auf und schrie panisch: „Kopf einziehen!“ Dann schnaufte, ratterte und dampfte es höllisch über Nax hinweg. Ein, zwei – zehn Sekunden lang. Als das Geräusch weiterzog, japste Nax erschrocken: „Was um Himmels Willen war denn das?“

Emma erklärte: „Das war Molli, die alte Schmalspurbahn. Die bringt Badegäste von Bad Doberan nach Kühlungsborn. Wir sind auf ihrem Schienenstrang.“
„Nein“, schüttelte sich Nax: „So ein Ungetüm habe ich in meinen Leben noch nie gesehen. Das ist mir hier zu betriebsam.“

„Ach herrje, da warst du wohl noch nie in einer großen Stadt. Darin ist erst ein hektisches Getöse: Tausende Autos, Straßenbahnen, Busse und eine Menschenflut“, verriet Emma. Langsam pustete Nax die Düne aus dem Gleisbett und hielt daneben lagernd inne. Er saß stumm da und grübelte.

Emma trippelte ihr gewohntes Auf und Ab, bis sie sein Schweigen störte: „Was ist dir?“

Nax seufzte: „Ich weiß nicht wohin. Zurück kann ich nicht. Gegen den Wind komme ich niemals an. Ich bin ein einfacher Strandlandteufel, kein Städter. Ich mag die Stille und ihre friedlichen Bewohner. Wohin soll ich nun? Ich will auch nicht unentwegt wandern. Du weißt ja, es nährt mich zugleich, und es ist nicht meine Absicht ein Riesensandteufel zu werden. Jeder könnte mich so entdecken.“

Naxs Kummer schmerzte Emma. Aber, noch ehe sie ihm eine betuliche Platzsuche vorschlagen konnte, fuhr eine enorme Brise vom Meer her in die kleine Düne und wirbelte sie, samt Teufelchen und Emma, in die Höhe. Die Möwe fing sich und sah wie ihr kleiner Gefährte in der Sandwolke vor Wonne tanzte. Die auffrischende Brise war Vorbote eines urigen Sturms. Nax liebte solche windigen Überraschungen. Wohin wird sie führen?

Emma segelte mit der eiligen Luft der braunen Wolke nach, die weit ins Land trieb. Nur vage entdeckten sie tief unter sich blass-blaue Seen. Je weiter sie flogen, umso mehr schienen es zu werden. „Ein grünes Seenland, wie wunderschön!“ freute sich Nax. Noch nie war ihm derartiges begegnet. Er sah auch, nicht alle Gewässer hatten einen weißen Strand und dachte bei sich, ob es nicht sehr angenehm wäre, an so einem grün umrandeten Kristallwasser zu landen.

Schon bald flaute der Wind ab, und die Sandwolke schwebte hinab in die grüne Waldidylle. Mannshohe Farne umschlossen Naxs Düne, nichts rührte sich mehr, denn die Nacht senkte sich mit dunkler Stille über den dschungelhaften Lagerplatz.

Die Ameisen kommen

Emma hockte am nächsten Morgen noch einbeinig auf ihrem Schlafast in einer dichten Baumkrone. Sie zog den Kopf aus dem Flügel, da traf sie fast der Schlag. Rund um Nax Düne rüstete ein Ameisenkommando zum Angriff. Emma schrie in höchster Not: „Überfall!“

Nax saß pfeilgerade und sah sich von einem Heer Waldameisen umzingelt. Er pustete sich drehend selbst an. Dabei hob es den kleinen Kerl auf die Spitze einer Sandfontäne, die sich kurz auftürmte und wieder in sich zusammenbrach.

Aber jetzt kam Hilfe von oben. Emma setzte zum Sturzflug an, und die Ameisen nahmen vor dem großen Vogel Reißaus.

„Stell dir vor“, prustete Nax, „die wollten mir doch wirklich meine Düne klauen. Ob sie es noch einmal versuchen?“

Emma zuckte ihre Schulterfedern: „Solange ich bei dir bin, glaube ich nicht. Aber weißt du, dieser Wald ist nicht der rechte Ort für eine Möwe. Mich zieht fort es an ein großes Wasser.“

Der kleine Teufel wusste das schon längst, nur wie sollte er seine schöne Düne durch das Dickicht bugsieren.

Emma überlegte ein Weilchen und fragte dann: „Was geschieht, wenn du zu viel Staub nascht? Du wächst und wächst. Wie groß können Sandteufel werden?“

„So groß sie wollen“, erklärte Nax. „Baumhoch und noch viel höher. Sie können sich selbst wie ein Kreisel anpusten, und wenn sie ein Sturm unterstützt, wie ein Tornado über das Land fegen.“

Emma schaute auf Nax und stellte ihn sich als eine Riesenausgabe vor. Schauerlich. Aber vielleicht die einzige Möglichkeit aus diesem Wald an grünes Wasser zu kommen.

„Musst du dann für immer und ewig ein Riese bleiben“, erkundigte sich die Möwe weiter und erfuhr: „Nicht unbedingt. Riesensandteufel können wieder klitzeklein werden, wenn sie einige Zeit völlig reglos liegen und fasten.“

Während die zwei Sprachen, waren abermals die Ameisen zugange. Nicht als große Formation. Einzeln krabbelten sie vorsichtig an die Dünenränder, die eh schon durch das Blattwerk im Unterholz zerstiebt waren, und ergatterten sich Sandkörnchen um Sandkörnchen.

„Sieh mal“, schrie Nax entrüstet, „die Ameisensoldaten plündern! Wenn das so weiter geht, löse ich mich in nichts auf.“

Emma tippelte nervös: „Also – was soll der falsche Stolz. Friss, was das Zeug hergibt und wachse!“

Riesennax

Nax putzte also nicht mehr nur die Sandkörner, er schluckte sie komplett und seine wundersame Verwandlung begann. Erst wuchs sein Bauch zu einer gewaltigen Kugel, dann verteilte sich die Masse im gesamten Körper und schob Arme und Schwanz in eine bedrohliche Länge. Emma suchte gebührlichen Abstand und flog in die Baumwipfel.

Als kein weißer Sandkrümel mehr zu finden war, erhob sich Nax zu einer mächtigen Säule. Emma deutete die Wegrichtung, und Nax begann sich anzublasen. Das klang wie das Heulen eines wütenden Windes. Blätter wedelten auf und Baumstämme bogen sich.

Die örtliche Wetterstation glaubte den plötzlichen Zeichen ihres Radars kaum, gaben aber sicherheitshalber eine Sturmwarnung für den Landkreis Waren-Müritz. So verschlossen die Menschen Türen und Fenster. Und wirklich, ein hier noch nie dagewesener Sandsturm erhob sich aus tiefstem Walde, fegte über Wanderpfade einmal rund um den Müritzsee, dann hinüber zum Kölpinsee. Zwischen dem und Fleesensee drehte er südlich ab und kam an einem winzigen Teich in märchenhafter Mecklenburger Stille zum Erliegen.

Die Menschen wunderten sich. Durch ihre Fensterspalten hatten sie eine enorme Sandsäule an ihren Häusern vorbei jagen gesehen. Aber kein Dach und kein Baum nahm Schaden. Wo hatte man je so etwas erlebt? Einige Wissenschaftler waren sogleich aufgebrochen, um das Phänomen zu erkunden, doch ihre Spurensuche endete ziellos an einem verwunschenen Teich, an dessen Wiesenufer eine schlangenlange Düne ruhte.

Das war zwar selten, aber es kam eben schon einmal vor, dass sich in diese Gegend eine Wanderdüne verirrte. In Wirklichkeit aber war es Nax, der schlafend abspeckte, und viele Tage und Nächte vom Kleinsein träumte.

Für Emma sah es aus, als würde ein langgezogener Wall schrumpfen. 30 Tage lang hörte sie von Nax keinen Mux. Sie flog tagsüber zu den größeren Seen und lauschte, ganz in ihrem tratschsüchtigen Element, dem Geplauder der Dorfbewohner und Badegäste. An diesem Morgen aber sah Nax‘ Lager genauso aus, wie damals an der Küste: Ein ovaler Flugsandhügel auf dem ein winziger Sandteufel schnarchte.

Emma kitzelte ihn, und er quiekte vor Wonne: „Ach, ist das schön! Der grüne Platz, die Stille, nachts spiegeln sich die Sterne im Teichwasser. Und ein klein bisschen heimliche Strandarbeit habe ich auch. Emma, einer von den Forschern kommt jetzt ab und zu vorbei und nennt diesen Ort genüsslich: den lauschigsten Badeplatz der Welt. Hoffentlich erzählt er es nicht so oft weiter.“

„Ach, und wenn schon“, winkte Emma ab. „Ich habe rundherum unzählige solcher versteckten Traumteiche entdeckt. Sollte es dir hier wirklich zu hektisch werden, stürmst du halt ein paar Ecken weiter.“ Und so kam es, dass der Sandteufel Nax sein heimliches Putzgewerbe noch heute im Seenland unterhält.

Sandteufel Nax

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1013. Blogbeitrag

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Das Künstlerheft “Hüter der Weisheit”

Es ist viel zu heiß zum Denken, aber vielleicht ist Euch nach Lesen. Ich stelle Euch heute einfach mal den Inhalt zu meinem handgebundenen Künstlerheft “Hüter der Weisheit” vor. Die Reise der Eulen rund um die Welt  hatte ich für Kalenderrückseiten geschrieben. Nur als das Jahr rum war, wanderte die Geschichte mitsamt Kalendarium in der Tonne. Dumm gelaufen. Aber versprochen: Ich schreibe nie wieder ein Kalendermärchen, es ist einfach zu schade drum…

Hüter der Weisheit

Es war eine Eule, die das letzte reife Korn der Weisheit fand und an einem verborgenen Ort dem ewigen Eis überließ. Lange war sie geflogen, durch Wind und Wetter, bis sie jenen Platz fand, von dem sie glaubte, dass hier kein anderes Wesen unverhofft herfände und möglicherweise den Schatz raubte. An einem schmalen Grat, in einem wohlgeformten Eistropfen, wartete fortan das Korn in der Zeit.

Es war schlichtweg notwendig, dass ein Lebewesen diesen letzten großen Schatz der Welt sicherte. Schon lange fruchteten die Samen der Weisheit nicht mehr gut. Weil das Korn nur sehr langsam spross, überwucherten es immerzu schnellwüchsige Emporkömmlinge wie das Faulmoos, die Gierreben oder das Egomanenschlingkraut. Und da unter den Menschen das Pflegen und Hegen aus der Mode gekommen war, verdorrten die Weisheitskörnchen schließlich samt und sonders. Bis auf dieses eine.

Dass eine Eule seine Rettungsmission auf sich nahm, war nicht weiter verwunderlich, gelten doch Eulen seit Urzeiten als Hüterinnen der Weisheit. Klar war auch, es würde eine von den Weltbürgerinnen unter den Eulen sein. Eine Schleiereule eben, deren Sippe auf fünf Kontinenten zuhause ist. Und weil die Eulen mit den Herzgesichtern oft in guter Nachbarschaft mit den Menschen lebten, waren sie es, die zuerst die zunehmende Abwesenheit der Weisheit bemerkten. Und so hat es sich zugetragen:

Eines Nachts kreischte eine Schleiereule gar jämmerlich und rief mit dem Schrei ihre große Familie zusammen. Sie hatte in der Dämmerung auf einem öden Marktplatz das letzte lebende Korn der Weisheit aufgelesen und wusste nicht, was damit werden sollte. Doch auch die nächtliche Eulenversammlung kannte keinen geeigneten Nährboden. So blieb nur, das Weisheitskorn im Polareis einzufrieren, bis die Menschen sich wieder eine klügere Zeit wünschten.  Aber wie sollte das Korn dorthin gelangen? Nicht die Weite des Fluges war das Problem, sondern die große Kälte, die dort herrschte. Keine Schleiereule hatte jemals in der Antarktis gelebt.

Die Schleiereule Novatrix

Dennoch begab sich im Morgengrauen die besonders weitsichtige und warmherzige Schleiereule namens Novatrix auf den ungewissen Weg. Sie musste einfach der großen Verpflichtung, die die Eulengilde von Anbeginn der Zeit in sich trug, folgen. So flog Novatrix tapfer viele nur dämmernde Tage und stockfinstere Nächte, bis sie halb erfroren endlich den schmalen Grat mit dem funkelnden Eistropfen erreichte. Keiner sah die stille Freude dieses Augenblicks, in dem die Eule wie lichter Glanz erstrahlte, obgleich sie ihr nahes Ende schon spürte. Auf dem Rückflug geriet der müde Vogel sehr bald in einen wilden Sturm, der ihn schließlich zu Boden drückte. Zwei Schneeeulen sahen den Absturz zwar, aber sie konnten die Eulenschwester nicht mehr retten. Mit letzter Kraft verriet Novatrix den weißen Eulen nur noch, wo sie das Weisheitskorn verwahrt hatte. So wurden die Schneeeulen zu Hüterinnen des schlafenden Schatzes, und da die weißen Eulen wirklich sehr schweigsame Gesellen waren, blieb das Versteck auch lange geheim …

Im Land der Schneeeulen tickte die Zeit noch nach dem uralten Werden und Vergehen. Hier kreuzte kein Fischfangschiff, waren keine Forscher zugange. Unberührt vom Wandel in der Welt lebten die Tiere ihren ehernen Rhythmus des Seins. So war die Schneeeule Heri auch nicht sonderlich erstaunt, dass sich Novatrix für das Leben anderer opferte. Sie wusste einfach, ohne solche Gaben überdauert keine Gemeinschaft. Heri hatte inzwischen schon viele Kinder bekommen, aber keines war wie ihr jüngster Sohn, der lebhafte Clarus. Kristallklar war seine Seele. Er kannte keine Furcht, spielte mit jungen Walrossen und Eisbären, neckte die Robben und segelte mit Adlern wie Schneegänsen durch die Lüfte. Clarus liebte alles, was ihn umgab. Die Eulenmutter war nicht mehr die Jüngste, als sie mit ihrem Sohn in einer leisen Nacht aufbrach. Sie sagte nur: „Komm, es ist soweit, ich muss dir mein Geheimnis zeigen.“ Sie starteten aus der weiten Ebene. Schneeflocken tanzten und deckten wieder die vom Wind blank gefegten Eisfelder zu. Bald erreichten die Vögel jene bizarre Bergwelt, die fantastisch türkis-blau im fahlen Mondlicht schimmerte. Als die zwei Eulen auf dem schmalen Grat am äußersten Rand des Eislandes landeten, ahnte der junge Clarus, in dieser Nacht würde seine Kindheit enden.

Die Schneeeulen Heri und Clarus

Heri wedelte mit ihren Flügeln den immer noch wohlgeformten Eistropfen vom Schnee frei und sprach: „Sieh, Clarus, das ist das letzte Weisheitskorn der Welt. Novatrix, eine Schleiereule aus Feuerland, hat es gerettet. Es muss hier verborgen bleiben, bis eine Eule kommt und es zurückfordert. Von nun an bist du der Wächter dieses Schatzes. Du musst hierbleiben, denn die Zugvögel berichten, die Menschen und ihre Maschinen rücken unserem Land immer näher. Man weiß nie, wann sie eintreffen.“  Der junge Vogel schaute sich ernst um: „Ich wusste ja, dass wir Eulen die Hüter der Weisheit sind, aber in dieser Einsamkeit?“ „Weisheit sprießt nur in einer gedeihlichen Stille. Aber die gibt es auf der Erde kaum noch“, erklärte Heri. „Dennoch, die Welt kann sich ja ändern. Wir müssen diese gefrorene Chance für sie bewahren.“ Mit diesen Worten nahm die Mutter Abschied von ihrem Sohn. Clarus spähte hellwach, aber sehr verlassen in die Nacht. Kein Laut war vernehmbar, nur der Wind pfiff mal leiser, mal lauter.

Bei Lichte betrachtet, sah der Ort wunderschön aus. Der schmale Grat bog sich wie eine Brücke über ein weites Wasser. Auch hier erwachten mit den ersten Sonnenstrahlen die Robben, Wale, Vögel, und ein listiger Schneefuchs schaute gelegentlich vorbei. Clarus war erleichtert, er musste nicht wirklich einsam sein, sondern nur ein neues Leben beginnen. Aber weil er ein Geheimnis zu hüten hatte, umwehte den Vogel nun etwas Ungewisses, was die Tiere seiner neuen Umgebung witterten. So erfreute sich Clarus, der Wächter, zwar an der Gegenwart seiner Nachbarn, lebte aber in sich gekehrt. Irgendwann beobachtete er nur noch tagein, tagaus den Lauf der Sterne, der Gezeiten und des Windes und bedachte das Leben an sich. Er konnte bald Stürme voraussagen und wie stark die Eisschmelze sein wird. Das rettete manchem Getier das Leben. Und wenn seither die Tiere im Eisland über Clarus redeten, dann nannten sie ihn nur noch den weißen Weisen vom Grat …

Am anderen Ende der Welt schmolz gerade der Schnee. Zaghaft erwachte der Frühling und stimmte mit seiner pastellenen Blütenpracht alles Leben heiter. Es schien, als zauberte der Urquell des Wachsens jedem Wesen ein Lächeln ins Antlitz. Selbst die Tiere der Nacht blinzelten jetzt länger in den mild-sonnigen Tag.

Ninox und die große Buscheule

Im immergrünen Land unter der weißen Wolke hatte nächtens der kleine Buschkauz Ninox das Palaver der großen Buscheulen belauscht. Sie erzählten sich die alte Legende von Novatrix und befragten einander, ob die Zeit für die Rückkehr des letzten Weisheitskorns endlich reif sei. Aber keine wusste es genau zu sagen. So riefen die Buscheulen den uralten Mondgott Thoth an: „Wohuhp, wohuhp, Gott der Weisheit, Wächter der Sterne und Herr über die Zeit, sage uns, was zu tun ist, denn es beunruhigt uns, dass die Menschen nicht nach Weisheit fragen.“ Aber Thoth sandte ihnen keine Zeichen. Vielleicht war seine Wahrnehmung getrübt, weil sich schon ewig niemand mehr für ihn interessierte.

Ninox grübelte also an diesem Morgen über die Frage der großen Buscheulen. Dabei wurde ein Gedanke in ihm immer lauter: Bei einer Flugreise über die Kontinente könnte man es herausfinden, ob der Zeitpunkt gekommen sei. Aber könnte er die Weltenmeere überqueren? Von Neuseeland bis Australien ist es nicht weit. Das könnte er womöglich mit etwas Training schaffen. So flog der kleine Kauz aus dem Regenwald hinunter zur Küste und sah den großen Albatrossen und Sturmvögeln zu, wie sie über der Brandung des Pazifiks mit dem Wind hoch über der Weite des Ozeans segelten. Er wusste, nur von ihnen konnte er den weiten Flug lernen, denn auf dieser Insel kannten die Vögel des Waldes keine Feinde und waren so lieber zu Fuß unterwegs.

Jeden Tag flatterte Ninox nun den Strand entlang. Endlose Kilometer. Mit dem Wind kam er bald weiter, als er je geflogen war. Gegen die scharfe Brise aber stand der kleine Vogel in der Luft auf der Stelle und stürzte gleich darauf wie ein Stein zu Boden. Mutlos lugte er dort ziemlich derangiert aus den Federn. Ein Sturmvogel hatte die eigenwilligen Streckenflüge der kleinen Eule beobachtet und sich gewundert. Schließlich trieb ihn die Neugier zu dem seltsamen Bruchpiloten: „Was treibst du für ein zerstörerisches Spiel?“ Ninox sortierte sich und stammelte respektvoll: „Ich muss zu Erkundungen hinüber nach Australien.“ Der Sturmvogel kicherte herablassend: „Du Winzling?“

Ninox schaute etwas ratlos unter seine kleinen Flügel. Längst wusste er, niemals könnten sie ausreichend Wind für ein endloses Gleiten unter sich versammeln. „Aber es ist eine wichtige Mission“, trotzte er dem Spott. Das rührte den großen Vogel an: „Musst du sie allein vollbringen?“ Ein knappes, aber eigensinniges „Nein“ war die Antwort. Ninox staunte nicht schlecht, als er den Sturmvogel sagen hörte: „Na, dann wirst du vielleicht meine Hilfe brauchen? Du könntest ja auf meinem Rücken mitreisen.“

Die großen Augen des kleinen Buschkauzes wurden noch größer, als sie eh schon waren. Und sie leuchteten vor Freude, so könnte sein Plan wirklich gelingen. In der nächsten Vollmondnacht war es soweit …

Die Zwei nahmen die Route über den Tasmansee hinüber nach Australien. Aber auch dort hatten die Kuckuckskäuze, Erd- und Buscheulen in den Eukalyptuswäldern keine Neuigkeiten. Also überquerten die ungleichen Flieger den Timorsee und versuchten anderswo ihr Glück. An der Küste von Sumatra trennten sie sich. Ninox flatterte über Vulkangebirge, heiße Quellen und dichten Dschungel landeinwärts. Irgendwo dort, in einem blauen Licht aus strahlendem Himmel und glasklarem Wasser, traf er den Fischuhu Ferrus bei der Jagd.

Fischuhu Ferrus

Die kleine Eule landete unsanft, weil erschöpft, dicht neben ihm auf einem morschen Baumstumpf und japste nach Luft. „Hey! Mach’ nicht so einen heißen Wind, du gerupfter Federball! Du verscheuchst mir ja mein Abendmahl“, schnauzte ihn der Fischuhu an. „Ich versteh’ nichts vom Fischen“, entschuldigte sich Ninox kleinlaut bei dem Gevatter. „Das merkt man“, blubberte Ferrus, was nur noch wie ein schwaches Echo seines flüchtigen Ärgers klang. „Was verschlägt dich dann in diese Gegend?“, wollte Ferrus jetzt wissen. „Kennst du die Legende von Novatrix?“, flüsterte Ninox. „Oh, gewiss! Jede Eule auf der Welt kennt sie“, dozierte der Uhu. Daraufhin fragte Ninox, was er auf seinem weiten Weg bei jeder Eulensippe erkundet hatte: „Dann kannst du mir vielleicht sagen, ob die Zeichen der Zeit gut stehen für die Rückkehr des allerletzten Korns der Weisheit?“

Ferrus trat erregt von einem Bein aufs andere. Seine Federohren sträubten sich wie vibrierende Fächer: „Um Himmels willen! Die Menschen wandern wieder. In so einer bewegten Zeit geht viel verloren.“ Die kleine Buscheule sah in die Weite des blauen Landes und fand: „Es ist doch wunderschön hier, wieso wandern die Menschen fort?“ Der Fischuhu antwortete tonlos: „Sie gehen nach Brot, hier gibt es zu wenig davon.“ „Aber brauchen sie nicht Weisheit für ihren Weg?“, überlegte Ninox hörbar. „Weißt du, kleiner Bruder“, erklärte  Ferrus, „sie ziehen ratlos und mit gekappten Wurzeln in eine ungewisse Zeit. Das Weisheitskorn aber benötigt inneren Frieden und Ruhe, um zu gedeihen.“

Ninox ließ die Flügel hängen und seufzte: „Aber irgendwo muss doch die rechte Zeit wohnen.“ Der Fischuhu schaute lange sinnierend dem sachten Lauf der Wellen nach, die hinüber in einen Mangrovenwald schwappten. Dann räusperte er sich: „Vielleicht an einem stillen Ort, in einem wachen Herzen.“ Ferrus sah zu Ninox. Dem Winzling perlte die Müdigkeit aus jeder Feder.  „Ach, kleiner Held“, sprach nun der Uhu. „Du trägst schwer an deiner Mission. Aber die könnte keine Eule, nicht einmal die größte und stärkste, allein bewältigen. Bedenke: alle in der großen Eulenfamilie sind Hüterinnen der Weisheit. Du bist die Eule, die aufgebrochen ist. Lass mich die Mission übernehmen, soweit mich meine Flügel tragen. Und sei unbesorgt, sie wird zu einem guten Ende gebracht.“

Über dem Gespräch der Eulen hing inzwischen eine silbrige Nacht mit betörenden Düften. Frösche quakten, und der Fischuhu wurde wieder zum Jäger, bis er sich satt und stark genug fühlte.  Sodann erhob sich Ferrus, um entlang der Ozeanküste die große Suche der Eulen fortzusetzen …

Ferrus flog über die Länder des goldenen Lichts. Er war hoffnungsvoll gerade hier, wo die Menschen die Gelassenheit einer weichen Teestunde lebten, einen Ort für das Korn zu finden. Es war ein Wolkenbruch, der den reisenden Vogel Unterschlupf suchend in einen verwunschenen Tempelgarten trieb. Die kleine Pagode in seinem Innern schien schon lange verlassen, doch noch immer leuchtete das Blattgold ihrer Kuppel sehr heilig. Ferrus erinnerte sich, dass Gold die Farbe der Weisheit ist. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen, und so betrat er neugierig das alte Gemäuer. Im Halbdunkel öffnete sich ein runder Raum von dessen Wänden blasse Figuren schauten. Sonst war hier nichts und niemand, nur müdes Laub raschelte über den Lehmboden. So hockte sich der Uhu in die Stille und wartete auf das Ende des Regens, als er unvermittelt hinter sich einen Windhauch spürte. Ferrus drehte blitzschnell seinen Kopf um 270 Grad und erspähte zwei blitzende Augen, die ihn aus einem dreieckigen Gesicht anblickten: „Hast du dich verirrt?“, herrschte ihn die Tempeleule an. Der Fischuhu staunte: „Ah, welch’ seltene Begegnung, eine Maskeneule.“ Die schaute den Eindringling argwöhnisch an und verrenkte sich bei ihrer Betrachtung derart eigenwillig, dass es aussah, als trüge sie schwer an einem Buckel. Ferrus dachte bei sich, jetzt weiß ich, weshalb man diese Schwestern auch Fratzeneulen nennt, aber er verkniff sich seine spitze Zunge und erklärte sich höflich.

Die Maskeneule Noctula

Die Maskeneule Noctula war Gesellschaft nicht gewohnt. Seit Ewigkeiten hauste sie in einer nahen Baumhöhle und empfand sich als Nachtwächterin des Tempels. Dabei hatte sie manchem unwillkommenen Wesen das Fürchten gelehrt. Aber einen Artgenossen konnte sie nicht beeindrucken. So saßen die zwei bald einträchtig beieinander und sprachen lange über den Wandel der Zeiten und menschliche Irrwege.

Noctula raunte dann sehr skeptisch: „Schau, statt ihre inneren Gärten zu kultivieren, rauchen sie lieber Rauschwerk und halten Halluzinationen für Geistesblitze.“ Die Maskeneule zeigte dem Fischuhu geheime Plantagen, wo der Stoff dafür spross. „Sieh nur, welch’ gigantische Ausmaße! Kriege werden darum geführt. Sie nennen das Zeug ‚Pflanze der Weisheit’, doch sie stimuliert nur irrsinnige Sucht. Was kann dagegen schon unser letztes Korn der Weisheit ausrichten“, haderte Noctula. „Den Trug entschleiern“, gab Ferrus klarsichtig zurück. „Zweifele nicht, denn es ist unsere Aufgabe, eine weise Weltenwende herbeizuführen. Du musst wieder der inneren Kraft des Lebens vertrauen.“

Ferrus Worte verscheuchten langsam den Missmut der Tempeleule. Ein paar Nächte jagten und tafelten sie zusammen, dann war Noctula bereit, ihr Eremitendasein aufzugeben. Viel zu lange war sie der dunklen Seite des Eulenmythos’ gefolgt. Plötzlich war die einst machtvolle Lust, als unheimliche Nachtgestalt die menschliche Angst zu schüren, in ihr erschöpft. Da sie sich aber nützlich machen konnte, strotzte der Nachtvogel vor ungeahnter Unternehmensfreude. Ferrus war sich sicher, diese listreiche Eule würde mit ihren runden, kräftigen Schwingen den Weg bis nach Afrika schaffen, um auf dem schwarzen Kontinent nach dem Rechten zu schauen …

Noctula überquerte unermüdlich den Indischen Ozean und steuerte nun von der Savanne herkommend auf den Regenwald zu. Nie zuvor sah sie einen so weiten, schier endlosen Himmel und darunter gigantische Affenbrotbäume, aus denen ein vielstimmiges Gezwitscher vom prallen Leben sang. Erst im schwülen Dunkel der afrikanischen Nacht hörte Noctula plötzlich Trommelschläge. Aber irgendwo aus dem Dickicht vernahm sie auch bekannte Rufe. Die konnten nur von einer Verwandten stammen, der Bindenfischeule Sanusa.  Als Noctula sie fand, geriet sie in ein sonderbares Treffen:

Die Bindenfischeule Sanusa, der kleine Perlkauz Timentus und der Woodfordkauz Facilius

Die große Sanusa hockte mit dem kleinen Perlkauz Timentus und dem Woodfordkauz Facilius zusammen. Timentus wisperte gerade besorgt: „Afrika ist ein Moloch des Sterbens“, als die Maskeneule in das  Gespräch platzte. Sie zupfte sich ihr Gefieder zurecht und begrüßte die drei etwas verwundert: „Ich dachte, hier im Paradies der Vogelwelt würde es fröhlicher zugehen.“ Sanusa und Timentus senkten bestürzt die Blicke. Das Perlkäuzchen wandte sich sogar völlig ab und zeigte dem Gast nur noch seine schwarzen Flecken am Hinterkopf, die wie ein Scheingesicht anmuteten. Schließlich durchbrach die Großeule das betretene Schweigen: „Wir warten schon einige Tage und Nächte auf dich, Kundschafterin der Eulen aus den Ländern des goldenen Lichts. Doch wir haben hier keinen guten Ort für das letzte Korn der Weisheit zu bieten“, erklärte Sanusa unumwunden. „Kriege haben die Menschen geschwächt, und eine bösartige Seuche rafft ganze Jahrgänge dahin. Hör’ nur, wie verzweifelt ihre Trommeln klingen. Gestern flehten sie ratlos Ea-Enki, ihren Wasser- und Weisheitsgott, an. Und heute begehen sie im Dorf ein rituelles Fest, um die alten Geister ihrer Ahnen zu befragen.“ Facilius schüttelte sich respektlos: „Ich halte nichts von Orakeln. Ein afrikanisches Sprichwort besagt: Wissen und Weisheit sind wie ein Garten, ohne Pflege gibt es keine Ernte.“ „Ja“, erregte sich Timentus,  „und Sippen- wie Glaubenskämpfe führen direkt ins Chaos.“ Noctula fröstelte und baute sich auf ihrem Rücken wieder einen schrägen Buckel, als wollte sie alle Sorgen darin verstecken: „Die Welt ist so schön und doch arg zerrissen. Werden wir Eulen jemals einen menschlichen Hort für das Weisheitskorn finden?“ Alte Zweifel nagten an ihr.

Die Nacht ging, und goldgelb färbte sich der Himmel mit dem ersten Sonnenlicht. In den Morgengesang der Vögel mischte sich das klangvolle Spiel eines Daumenklaviers. Timentus stieß Facilius an: „Sieh nur, dort unten, die schwarze Schöne spielt wieder.“ Die zwei bekamen glänzende Augen. Noctula stichelte: „Ihr kommt aber leicht ins Schwärmen.“ „Ach, was weißt du schon“, ärgerte sich Facilius. „Sie ist die erste junge Frau, die dieses Instrument beherrscht. Da das Daumenklavier die Seelen der Ahnen ehrt und ihm Heilkraft zugesprochen wird, war es den Frauen seit jeher strikt verboten, ihm Töne zu entlocken. Wir sind einfach stolz auf diese Künstlerin, die aus sich selbst heraus mutig uralte Fesseln abstreift.“ Noctula schmunzelte gerührt und sah in dem Lichtblick Hoffnungsfunken. Auch für die Mission der Eulen. Für deren Fortgang brauchte die Weitgereiste nicht um Ablösung zu bitten. Facilius war schon bereit, das nächste Staffelstück zu übernehmen. Der kecke Waldkauz mag einfach Menschen und wird furchtlos ihre Nähe suchen. Als es dämmerte, brach der Eulenvogel Richtung Norden auf …

Die Waldohreule Risuna und der Steinkauz Cuderus

Über Attika schien ein großer, runder Mond so hell, dass das Meer vor Piräus silbrig an Land schwappte. Der Steinkauz Cuderus war mondsüchtig und deshalb besonders agil in dieser Nacht. Er flog hinüber zu dem dürren Pinienwäldchen, um die plauderfreudige Waldohreule Risuna zu treffen. Er war ihr im Morgengrauen eine Antwort schuldig geblieben. Während der Eulerich wellenartig dahinschwebte, grübelte er noch: Was denn nun wirklich Weisheit mit Geld zu schaffen habe? Solche Fragen stellten ihm die Eulenfrauen immer, wenn sie auf seinen Ahnherren anspielten, der das Rückbild einer alten Münze zierte. Berühmte Verwandte sind manchmal eine Last. Risuna lächelte bis in die Spitzen ihres Federkranzes, als sich Cuderus bei ihr einfand. „Na, mein Guter, hast du dich rechtschaffend bedacht,“ säuselte sie spitzfindig. Der Kauz duckte sich wie ein mürrischer Kobold und schwieg. Das gefiel der Eulendame gar nicht daher schmeichelte sie ihm: „Ich weiß ja, dass dein Vorfahr Liebling unserer griechischen Weisheitsgöttin Athene war. Auch, dass diese Vorliebe unsere ganze Sippe zu Weisheitsvögeln adelte. Eine schöne Fügung. Geradezu göttlich! Aber bis heute finden sich Eulenbilder auf den Silberdrachmen, da muss man doch mal fragen dürfen …“  „Schon gut,“ unterbrach sie Cuderus. „Erzähl mir nicht, was ich schon weiß! Er strich sich bedächtig über sein Haupt und stellte seine schwefelfarbenen Augen scharf: „Ich denke, schlussendlich schöpfen die Menschen aus der Pflege der Weisheit auch Reichtum. Wenn einer aus seinem Wissensschatz heraus erkennt, dass beispielsweise eine üppige Olivenernte heranreift, sollte er alle Ölpressen aufkaufen. Kommt dann die Ernte, wird er reich, weil die Bauern nur mit seinen Pressen ihre Oliven in Öl verwandeln können. Verstehst du, was ich meine?“ Risuna verstand. Doch etwas anderes vernahmen gerade ihre Sinne. „Jemand ist im Anflug,“ flüsterte sie. Und schon wippte Facilius auf dem Ast neben ihnen.

„Man soll ja nicht Eulen nach Athen tragen, aber mein Kommen ist ganz und gar nicht überflüssig“, schnaufte das Eulchen aus Afrika. „Ich komme wegen der großen Mission. Wisst ihr Bescheid?“ Die attischen Vögel nickten, doch schauten sie irgendwie verschwörerisch. „Und, gibt es hier an diesem Ort des Lichts und der Wiege abendländischer Kultur einen Hort für unser allerletztes Weisheitskorn?“ Risuna und Cuderus späten stumm wie Pokerspieler, die sich nicht in die Karten blicken lassen wollten. Lange, bis Facilius entnervt kreischte: „Was ist euch so peinlich, dass ihr euch so bedeckt haltet? Redet endlich!“ „Na ja, weißt du, wir sind hier Fremdem gegenüber etwas misstrauisch geworden. Sie überschwemmen unser Land“, tuschelte Risuna. „Häh? Auch die Eulen?“ Facilius konnte es nicht fassen. Cuderus druckste. „Nein, nicht die Eulen, die Menschen. Aber das ist es nicht allein. Ihr bescheidener Wohlstand ist ins Wanken geraten. Das macht eng. Und weil die Sorge vor dem nächsten Lebensschritt wächst, spüren sie nicht mehr den weisen Atem dieses Bodens, auf dem sie wohnen.“

Facilius war schlechte Nachrichten leid und klagte: „Nie ist ein kleiner Kauz so weit wie ich geflogen. Meine Kraft neigt sich, aber es ist kein Ankommen in Sicht. Doch die Suche der Eulen muss weiter gehen.“ Mit diesen Worten übermannte den wackeren Flieger ein heilsamer Schlaf. Cuderus und Risuna palaverten leise, und bald wussten sie, dass nun ihr Part gekommen war …

Uhu Oculus

In diesem tiefen Wald wohnte der Uhu Oculus nun schon bald 60 Jahre. Er hatte viele Zeiten kommen und gehen gesehen, und wusste die Zeichen zu deuten. Immer schon spuckte die nahe Großstadt Menschen aus, die Schutz im Wald suchten, um jenseits aller Zwänge zu sein. Und weil Uhus als ewig Gejagte auch das Versteck lieben, respektierte Oculus deren Nähe. Auch Liesas Großmutter gehörte zu jenen Stadtflüchtern. Seit dem Unfalltod der Eltern lebte nun das Enkelkind auf ihrem entlegenen Waldhof. Am liebsten hockte Liesa unter der freistehenden Fichte, einem mächtigen Mutterbaum, der ihr Trost und gute Gedanken spendete, während die Großmutter Figuren aus Holz schnitt. Winzig kleine und mannshohe. Überall auf dem Gehöft standen ihre Skulpturen und erzählten stumm Geschichten über das Wunder des Seins.  Oculus gefiel es, wie Liesa den alten Kräutergarten pflegte. Dabei nannte das Mädchen ihre Pflanzenfreunde: Lebewesen mit Wurzeln. Beifuss, Eisen- und Johanniskraut, Lavendel, Rosmarin – Liesa kannte alle ihre Namen und Wirkungen. Doch besonders hatte es ihr der Salbei angetan. Großmutter hat ihn ihr als ein bedeutsames Kraut der Weisheit und als Schutzpflanze vorgestellt. Mit der magischen Kraft des Salbeis heilte die Frau nicht nur ihren Husten, sondern weihte jede ihrer Holzfiguren mit einem Räucherritual, auf dass sie langlebig Weisheit verströmen.

Oculus wartete schon einige Wochen auf die Ankunft der griechischen Eulenboten. Endlich vernahm er ihr nahendes Gezeter. Cuderus schnaufte: „Hast du diese Gesichter gesehen?“ „Ja, ellenlange – kilometerweit“, hechelte Risuna. „Und diese wirre Hektik – gruselig!“ Cuderus wunderte sich indes: „Aber nur ein paar Flügelschläge hinter diesem Chaos herrscht blanke Stille. Und dieser weit geöffnete Himmel – wunderschön!“ Am Randes des Waldes raunte der Steinkauz: „Irgendwo hier soll der alte Oculus hausen.“ Bald schon hörten sie seinen markanten Ruf. „Uhu, uhu, hierher meine Freunde. Ihr kommt spät!“ Cuderus krächzte: „Wir Südländler leben eben den Moment und nicht nach Fahrplan wie ihr Deutschen! Schließlich mussten wir uns doch erst einmal genau umsehen.“ Er zupfte sich pikiert sein Gefieder glatt und fragte dann skeptisch: „Bist du sicher, dass just in diesem frustigen Land der Hort für das allerletzte Korn der Weisheit gedeiht?“ Der alte Uhu wiegte bedächtig sein Haupt und sprach weitsichtig: „Gerade hier, wo die Menschen mit den Schmerzen des Wandels am meisten hadern, reifen auch die Chancen. Ganz in der Nähe lebt ein kindliches Wesen, in dem keimt eine bessere Zeit. Aber seht selbst.“ Die drei Eulenvögel bezogen sodann einen Beobachtungsposten in den sattgrünen Wipfeln hoch über dem eigenwilligen Anwesen.

Zuweilen durchschritten Besucher den Gleichmut der Waldzeit, um sich im Skulpturengarten der Bildhauerin umzusehen. Liesa beantwortete gerne ihre Fragen: „Warum die Figuren alle Seele heißen? Großmutter meint, alles hat eine Seele, auch Pflanzen. Das hier ist die Baumseele einer verstorbenen Linde. Unseren Vorfahren kannten sie als Baum der Liebe und der Weisheit. Ebenso wie die Fichte als heiliger Baum des Lebens und des Todes ihnen als Weisheitssymbol galt. Die Skulpturen sollen auch daran erinnern und zeigen, wie zerbrechlich Seelen sind. Man muss behutsam mit ihnen umgehen …“ Die herzwarmen Worte des Kindes rührten sowohl die Besucher als auch die drei wachenden Eulen an. Der Uhu hatte zweifelsfrei die richtige Wahl getroffen. Oculus aber war zu alt, um die frohe Kunde an den Ausgangspunkt der großen Suche zu tragen. So entschwebten mit ihr Cuderus und Risuna auf den langen Weg zurück gen Süden …

Der Sommer schaute bereits aus mildwarmen Altweiberaugen dem Flug der Eulen zu. Die Ernte auf den Feldern neigte sich, und die Menschen kamen in Feierlaune. Auch Risuna und Cuderus glitten erleichtert durch die Lüfte. Schließlich war ja der Nährboden für das Korn der Weisheit gefunden. Hinter den Alpen, in einem moorigen Gebirgswald, trafen die Eulenboten die schöne Sumpfohreule Rarita und den Rauhfußkauz Conarius. Die waren gerade beim Nachtkonzert. Der kleine Kauz klang dabei, als spielte jemand melancholisch auf einer Okarina, während Rarita elegant über ihm kreiste und mit den Flügelspitzen auf ihrem Bauch den Takt dazu klatschte. Obwohl die griechischen Gesandten von ihrer Reise fix und fertig waren, mussten sie vor lauter Wonne nach dieser besonderen Herbstmelodie erst einmal tanzen, bevor sie von ihrem Auftrag erzählten. Die zwei munteren Musikanten staunten, wer da Gast ihres kleinen Erntefestes war. „Und ihr wollt jetzt noch weiterfliegen? Können wir euch nicht ablösen?“, fragte Rarita aufgeregt. „Wir wären stolz, Teil der Mission zu sein.“ Conarius plusterte sich dick auf: „Ja, ihr flattert mal ganz entspannt heimwärts und erzählt unterwegs allen Eulenbrüdern und Eulenschwestern von dem kindlichen Wesen im märkischen Wald. Wir werden derweil die wunderbare Neuigkeit dem Hüter des allerletzten Korns der Weisheit überbringen.“ „Kein schlechter Gedanke“, fand die lächelnde Risuna. „Immerhin muss die große Eulenfamilie mit dem Korn aus dem ewigen Eis den Weg bis Deutschland noch einmal zurücklegen. Da ist es hilfreich, wenn alle Eulen ganz genau Bescheid wissen, so dass jede an der Strecke bereitwillig eine Etappe auf sich nimmt. Schließlich sind wir Nachtgestalten nicht wirklich die besten Langstreckenflieger.“

Gesagt, getan. Die griechischen Eulen entschwebten bald in heimatliche Gefilde, während Rarita und Conarius im Tiefflug bis hinunter nach Gibraltar sausten. Auf den Felsen vor der Brandung des Atlantiks hielten sie jedoch inne. Ehrfürchtig schaute Conarius auf die offene See: „Ob wir das bis hinüber nach Amerika schaffen?“ „Bestimmt, kleiner Freund“, ermunterte ihn Rarita. „Die Botschaft muss einfach über den großen Teich. Dort können sie ja die Verwandten weiter bis Feuerland befördern. Denn an diesem fernen Zipfel der neuen Welt hat die Legende von Novatrix ihren Ursprung. Nur einer ihrer Nachfahren kann wissen, wohin genau sie einst aufbrach.“ Doch auch Rarita fürchtete sich natürlich vor dem ungeheuerlichen Wagnis. Sie brauchten also dringend Beistand.

Die Sumpfohreule Rarita und Rauhfußkäuzchen Conarius

„Komm, Conarius, lass uns nach einer Hund-Rose suchen“, flüsterte die Sumpfohreule bedeutungsschwer. „Sie ist seit jeher unser Sinnbild für ewige Weisheit und geheime Lebenskräfte. Sie kann uns vielleicht beschützen.“  Im Morgendämmern standen zwei hoffnungsvolle Vögel auf einer Klippe über der brodelnden See.  Nacheinander warfen sie einen Rosenzweig in die schwarzen Wellen und riefen wie aus einer Stimme den Gott des Meeres an: „Poseidon, lass ein Wunder geschehen und uns dieses Wasser unbeschadet überqueren!“ Von Land her kam urplötzlich ein gewaltiger Sturm auf. Der riss die Eulenboten mit sich und trug sie pfeilschnell dem unendlichen Horizont entgegen. Tagelang segelten sie auf dieser Sturmspitze ohne wirkliche Anstrengung. Nur ihre schönen Federn waren in gar keiner guten Verfassung, als sich der Wind legte und sie an einem nächtlichen Sandstrand landeten …

Der dampfende Dschungel schaute mit unzähligen neugierigen Augen auf die geflügelten Ankömmlinge. Eulen gelten seit jeher in diesem Teil der Welt als Glücksboten und göttliche Wesen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass das Eintreffen von Rarita und Conarius den Regenwald in Aufregung versetzte. „Zwei Eulen sind über das große Wasser zu uns gekommen“, raunten sich die Tiere im Dickicht erwartungsvoll zu. Und die Hoffnung auf eine gute Zeitenwende eilte mit der Nachricht bis zu dem Fuß eines grauen Vulkans, an dem Nuntius, der Kaninchenkauz, wohnte. Den langbeinigen Gesellen überkam sogleich eine unbestimmte Ahnung. Seit Jahren flackerten in den Anden bald hier, bald dort wüste Kämpfe auf. Doch als Zugvogel sah es der Kauz schon ein Weilchen: Die Menschen ersehnen Frieden und beklagen endlich den Mangel an Weisheit. Sollte die Zeit wirklich reif sein?

Kaninchenkauz Nuntius und der Streifenkauz Tutur

Nuntius flog hinunter in den Dschungel, um sich mit dem schwerfälligen, aber sehr weisen Gevatter Tutor zu treffen. Der Streifenkauz blinzelte launig: „Na, du Grasländer! Was treibt dich in die grüne Hölle?“ „Die Legenden, du furchtloser Bleiflügel“, grüßte Nuntius keck zurück. Er spielte darauf an, dass sein Busenfreund im Streifenrock zwar ein begnadeter Jäger war, aber nicht wirklich gleiten und ansteigen konnte.  Um überhaupt zu fliegen, muss diese große Eule wahrlich hart arbeiten. „Kannst du dich aufraffen, mit mir an den Strand zu flattern? Ich würde gern wissen, was die zwei Eulen über den Ozean getrieben hat“, lockte das Käuzchen den großen Kauz. Auch Tutor war sehr gespannt und ließ sich nicht lange bitten.

Rarita und Conarius hatten gerade ihr Gefieder gerichtet, da trafen schon Eulenverwandte aus jedem Winkel des Waldes ein. Sperbereule und Gnomenkauz, auch der winzige Sägekauz – alle waren gekommen und erfuhren nun von der großen Mission der Eulen. Die Runde der einheimischen Vögel seufzte erleichtert. Nuntius hatte also recht und fühlte seine Stunde gekommen: „Lasst mich nach Feuerland aufbrechen, ich kenne den Weg dorthin genau und habe da viele Freunde. Mit ihnen werden wir gewiss die Nachfahren von Novatrix aufspüren.“

Tutor rechnete: „Du wirst mindestens fünf, sechs Wochen unterwegs sein. Das ist gut. Denn, wenn du dort Ende November eintriffst, beginnt die Zeit der langen Nächte, in denen unser Tiertotem stark wird.“ Rarita schaute fragend: „Unser Tiertotem?“ „Ja, die alten Indianer haben nach uns Eulen sogar ein Sternzeichen benannt.  Es entspricht etwa dem Schütze-Zeichen in der alten Welt“, erklärte Tutor und meinte noch: „Es kann doch nicht schaden, wenn auch die Sterne für die Mission günstig stehen.“ Die Eulengemeinschaft benickte einstweilen seine Worte stumm.  Dann aber plauderten sie mit ihren Gästen über alte Mythen. Als „Heilige der Nacht“, Götterboten und Wächterin der Brücke zwischen Himmel und Erde war die Eule einst hier berufen. Währenddessen verging die Nacht. Genährt mit uraltem Stolz, verließen bei Sonnenaufgang die Nachtfalter den Schauplatz, um Nachricht vom gefundenen Hort der Weisheit auf dem ganzen Kontinent zu verkünden. Nuntius verabschiedete sich von seinem behäbigen Freund und segelte allein Richtung Kap Hoorn, um eine gut versteckte Legende auszugraben …

Kaktuskäuzchen Jurando und Elfenkäuzchen Parvula

Irgendwo in den Wolkenwäldern rastete Nuntius. Als er mit dem Dämmerlicht wieder erwachte, fixierten ihn zwei helle Augen: „Schläfst du noch oder tust du nur so?“ Nuntius blinzelte die kleine Gestalt an, aus deren koboldartigem Gesicht wirr abstehende Federhaare wuchsen. „Hast du noch nie ein Kaktuskäuzchen gesehen?“, wisperte das aufgeregte Flatterwesen. Nuntius verneinte. „Kein Kunststück. Es gibt nur wenige von uns Elfenkäuzchen. Ich bin gewissermaßen der Struwwelpeter unter den Eulen. Mein Name ist übrigens Jurando und, wenn ich vorstellen darf: das ist meine zauberhafte Freundin Parvula. Sie ist auch ein Elfenkäuzchen, aber ihre Sippe stellt die kleinsten Eulen auf Erden. Wir werden dich fortan begleiten.“ „Das ist nicht euer Ernst“, wehrte sich Nuntius und rieb sich den Blick scharf. „Ich fliege doch nicht mit Eulenzwergen bis ans Ende der Welt!“ „Bilde dir nicht ein, erfolgreich wären nur die Großen und Starken. Die Kleinen sind zäher!“, gab Jurando weise zurück und ließ keinen Widerspruch mehr gelten. Alsdann flogen sie zu dritt. Bald lag die tropische Landschaft hinter ihnen, sie kämpften sich gegen die kalten Winde der Hochgebirge und schwebten weiter über endlos anmutendes Ödland und moosbedeckte Torfsümpfe.

Im Land des Rauches trafen die Gesandten im Zeichen der Eule rechtzeitig ein. Sie irrten lange durch karge, fast verwaiste Siedlungen, besprachen sich mit euligen Freunden und Anverwandten, aber sie bekamen keine rechte Spur zu fassen.  Ratlos suchten die Eulen nach einem geeigneten Schlafplatz. Vor ihnen lag der letzte Ort auf Feuerland, durch den nur Wind jammerte. Im Gebälk eines maroden Kirchturms wollten sie Quartier nehmen. Doch kaum drinnen, fauchte sie etwas katzenartig an: „Packt euch! Hier ist mein Revier.“ Dem Dunkel entsprang wild und stark Adventus, der aber verdutzt sogleich seinen Angriff stoppte: „Was grinst ihr denn so entgeistert?“ Im lieblichen Dreiklang antwortete es: „Eine Schleiereule!“ „Ja, und?“, herrschte Adventus zurück, was bringt euch darüber so in Verzückung?“ Jurando fasste sich als Erster: „Kennst du Novatrix?“

Schleiereule Adventus

„Wer will das wissen?“, murrte der Hausherr. „Die große Eulenmission,“ zirpte Parvula.  Adventus musterte die staubigen Gestalten. Nuntius spürte seinen Zweifel und erklärte: „Die Zeit für das allerletzte Korn der Weisheit ist reif. Die Eulenwelt hat nach langer Suche einen kindlichen Hort gefunden. Aber wir wissen nicht, wohin genau Novatrix einst aufbrach, um es für eben jene Zeit aufzubewahren.“ Adventus atmete tief: „Solange ich denken kann, hat niemand mehr nach Weisheit gefragt und nach den Opfern dafür erst recht nicht.“ „Kanntest du diese tapfere Eule? Dann musst du uns helfen!“, forderte Nuntius nun eindringlich. „Meine Großmutter hat sich damals geopfert. Ja, ich weiß, in welche Gegend sie wollte, aber keine Eule kehrt zurück aus dem ewigen Eis, und ob sie jemals dort ankam“, sprach Adventus traurig. Die Eulenboten blickten sich erleichtert an, und die sanfte Parvula hauchte: „Eine Eule allein nicht, aber wir vier zusammen, werden es schaffen.“ Adventus blickte ungläubig hinab auf die Handvoll Federn, holte dann aber doch ein dünnes Leinen. Darauf hatte Noxatrix vor Zeiten ihre Reiseroute notiert und sie der Tochter hinterlassen. Jetzt sollte also die Reihe an ihrem Enkel und seinen Gefährten sein, diesen ungewissen Weg auf sich zu nehmen. Vor Kap Hoorn türmten sich gewaltige Wellenberge. Ein Seemann schrie tief unter ihnen von einem schwankenden Schiffsdeck: „Eine Eule fangen!“ Parvula zuckte im Flug zusammen, doch Adventus beschwichtigte sie: „Er meint damit nur: plötzlicher Wind von vorn.“ Sturmgepeitscht öffnete sich vor  ihnen die Pforte zur Antarktis …

Das Eulenquartett hatte Glück, denn der Wind über dem offenen Meer hatte das gleiche Reiseziel.  Um der Kälte zu trotzen, hielten sie sich dicht beieinander, dass es aussah, als flöge da nur ein einziges, großes Wesen.  Uferlos, tage- und nächtelang.  An einem Morgen unter blanken Himmel erreichten sie das weiße Land im ewigen Eis. Gigantische Tafelberge empfingen die Eulen im Silberglanz. Geblendet von der Pracht, kneistete Adventus mit seinen dunklen Augen, die auf die Leinenkarte gerichtet waren: „Wir müssen noch sehr weit. Bis zum Pol der Unzugänglichkeit. Das ist der Punkt der Antarktis, der am weitesten entfernt von der Küste liegt.“ „Unzugänglich – hm, das gilt nur für Laufende, wir fliegen ja“, ermunterte Jurando seine Gefährten. Und wirklich, sie kamen gut voran. Denn während der Frost die nördliche Welt umklammerte und nur die Freude auf das Weihnachtsfest die Dunkelheit erhellte, war es hier gerade Sommer. Dabei nicht wirklich warm, aber erträglich.  Lange waren die Eulen noch unterwegs. Erst am Silvestertag erreichten sie den anvisierten Ort. „Und nun“, fragte Nuntius in die Runde. „Wonach sollen wir suchen? Nach einer Grotte, einem Berg, einer Höhle?“ Sie durchspähten die blendende Weite. „Seht doch, dort, vor dem lichten Bogen über dem See hockt eine Schneeeule“, rief Adventus. „Vielleicht weiß sie Näheres.“

Clarus hatte die exotischen Verwandten längst ausgemacht. Aber der Weise vom Grat wartete geduldig, worauf er sein Leben lang gehofft hatte. Der alte Schatzwächter hatte keine Nachkommen und war deshalb schon sehr in Sorge, wem er am Ende seiner Tage das Geheimnis anvertrauen könnte. Nun nahte seine Erlösung, und ein mildes Lächeln schönte Clarus für diesen Augenblick. Er strahlte derart, dass die Eulengesandten sogleich wussten – wir sind angekommen. Deshalb verneigte sich Adventus vor Clarus förmlich: „Seid gegrüßt, weißer Gevatter!  Wir sind die Eulen, die gekommen sind, den Menschen das allerletzte Korn der Weisheit zurückzugeben. Kann es sein, dass du sein Wächter bist?“ Clarus verneigte sich ebenso würdevoll, und wedelte daraufhin wortlos den schneebedeckten Eistropfen frei. Der funkelte still sein lichtes Lied des Lebens.

Dann fiel alle Last von den Eulen ab. Sie umarmten einander, lachten und tanzten vor Freude. Und die Tiere der Nachbarschaft wunderten sich. Alle kamen, um den Grund der ansteckenden Heiterkeit zu erfahren. Clarus durfte endlich sein Schweigen brechen. So erzählte er von Novatrix, Heri, seiner Schatzwache, und Adventus besprach die große Mission der Eulen.

Darüber neigte sich das Jahr, und ein neues Zeitalter begann. Jeder spürte, es würde ein weises, lebenswertes sein. Noch aber hatten die Eulen ihr Werk nicht zu Ende geführt. Doch es kam, wie vorgenommen. Von Eulenvogel zu Eulenvogel wanderte das Korn durch die halbe Welt seinem neuen Hort entgegen. Dort wohnt es nun in einem kindlichen Wesen und wächst leise und gut beschützt durch die Zeit. Denn in den hohen Baumwipfeln jenes Waldes wachen noch immer die Eulen.

Die Schneeeule und das andere Gefieder zeichnete Petra Elsner

©  Petra Elsner, “Hüter der Weisheit” erschienen 2006 im Messner Verlag als Kalendermärchen – Ringbuch mit der ISBN 3-934309-11-9.
Als handgebundenes Künstlerheft ist es bei mir für 10 Euro zzgl. Versand zu haben.

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1006. Blogbeitrag

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Geschenktes Wort

Wäre sie nicht in diese süße Wolke geraten, bestimmt hätte Frieda pünktlich den Bus genommen und ihr altes Leben weitergeführt. Aber mitten in dem berauschenden Fliederduft erwachte ihre Sinnlichkeit. Die hatte den ganzen Winter geschlafen, vielleicht auch länger, aber jetzt, Mitte Mai spürte sie sie wieder, wie ein Kitzeln im Bauch. Als der Wind die Duftwolke aufnahm und mit sich trug, lief Frieda ihr nach. Durch die Gärten, die Straße entlang bis ein Wald den Asphalt verschlang und sich der Duft im Dunkelgrün der Tannen fast verlor. Dort, wo Frieda Gefahr lief, sich zu verirren, stand plötzlich ein Mann am Wegesrand. Er hielt die Arme wie ein Wegweiser, auf denen sich erstaunlicherweise rot-grüne Lettern wanden. Auf dem Einen stand kurzweilig „Zum rechten Weg“ und auf dem Anderen: „Zum schönen Leben“. Frieda staunte und indem verloschen die farbigen Buchstaben wieder. Führt der rechte Weg nicht auch zum schönen Leben, frage sich Frieda. Offenbar gab es da einen Unterschied. Aber welchen Pfad sollte sie nun wählen? Der Mann stand dort noch einen Gedanken lang, dann war er verschwunden. Wohin? Frieda hatte es nicht gesehen, aber es war ihr, als hätte sie noch eine winzige Woge des Fliederdufts dort wahrgenommen, wo der linke Weg hinführte.  Man soll dem Leben entgegen gehen, sagte ihre Großmutter immer. Die Mutter wollte hingegen, dass sie stets auf dem rechten Wege bleibe. Was war richtig und gut für sie? Frieda musste sich entscheiden. Schwer, denn die Wege weckten keine Erinnerung in ihr, nur der schwache Duft lenkte sie nach links. Unter schütteren Kronen und einem glasblauen Himmel säumten Hundsrosen den Weg, der zu einem stillen Pavillon führte. Darin grübelte ein Mann an einem Tisch über einem weißen Blatt. Ein Schmerzlied umwehte seine dürre Gestalt. Der Mann blickte nicht auf, als ihn Frieda fröhlich grüßte. Sie sah indem, es hatte keinen Sinn, den Erstarrten zu stören, aber sie ahnte, dass sie dem Grübler ein Wort schenken musste, bevor sie ihn zurückließ. Leise trat sie neben ihn, grifft in seine Stifte-Schatulle und schrieb die Aufforderung „lebe“ auf das Papier. Dann lief sie weiter. Der Mann hob seinen leeren Blick und rief ihr nach: „Tue ich das nicht?“ Frieda drehte sich noch einmal um, zuckte mit den Schultern und schüttelte verneinend ihren Kopf. „Aber ich schreibe doch, also lebe ich!“, sprach er verwundert. Er hatte sich wieder über seinem Blatt versenkt, da lief Frieda noch einmal auf ihn zu und flüsterte über die Schulter: Ich sehe nicht, dass du etwas schreibst.“
„Ich bin einfach zu müde“, gestand der Mann und schaute sie aus stumpfen Augen an.
„Aber du wohnst doch am Weg „Zum schönen Leben“, da muss es doch etwas geben, das dich erfreut und ermutigt?“ Sie setzte sich zu ihm, er nickte und erzählte: „Das habe ich auch gedacht, als ich diesen Weg einschlug, aber ich bin ihn wohl nicht weit genug gegangen.“ „Willst du mich ein Stück begleiten?“, fragte ihn Frieda. Ich bin fröhlich und kann etwas von deinem Schmerz tragen. Der Mann erhob sich, rollte sein weißes Blatt zusammen und steckte seine Stifte in seine Jackentasche. Nun folgten sie beide der Spur des Fliederdufts. Der Mann wurde mit jedem Schritt leichter und die Frau mit jedem Schritt gebeugter. Sie trug schwer an seiner Last, nur was auf ihren Schultern lag, konnte sie nicht benennen. Viele Jahre liefen sie so miteinander durch die Zeit, bis Frieda erschöpft bei einem Fliederbusch niedersank. Sie war so traurig und leer, dass es einen jammern konnte. Aber sie sah auf einen lebensfrohen Mann, der sich zu ihr setzte, die weiße Rolle Papier aus seiner Jacke zog und langsam die Geschichte vom geschenkten Wort aufschrieb.

© Petra Elsner
1. Juni 2018

Zeichnung: Petra Elsner

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Das Raureiftöpfchen

Raureifpoesie

Das Raureiftöpfchen

Eine Gute-Nacht-Geschichte

Ein scharfer Ostwind schlug gegen das Raureiftöpfchen und weckte seinen Gesang. „Klirr, klar, Sternenweiß liegt das Land. Klirr, klar, unterm Eis ruht die Zeit ganz lang. Klirr, klar stoß‘ mich an, dann sing‘ ich vom Zauberreif…“
„Habe ich richtig gehört: Zauberreif?“, fragte sich die vorbeihuschende Haselmaus Fine. Aber das Töpfchen schwieg augenblicklich und so konnte das Mäuschen nicht erkennen, wer da so schön gesungen hatte. Kaum später stieg die Sonne über die Baumwipfel und der weiße Kristallschleier schmolz dahin. Aus dem Raureiftöpfchen wurde wieder ein einfacher umgestülpter Blumentopf. Kein Mensch ahnte von seinen zauberhaften Talenten. Nur Fine hatte noch lange die Melodie im Ohr und konnte sie nicht vergessen.
Das Jahr verging. Die kleine Haselmaus war gerade in ihrer Baumhöhle in einen tiefen Winterschlaf versunken, als sich ein mächtiger Sturm erhob. Der wetterte und wütete eine Nacht lang. Bäume brachen und stürzten in den Böen. Auch Fines Quartier zersplitterte vollkommen. Wie durch ein Wunder flog dabei die Haselmaus im hohen Bogen in den weichen Schnee. Das Tierchen zitterte vor Angst und Kälte. Schnell musste es einen Unterschlupf finden, denn sonst würde es sein Leben verlieren. Fine lief und lief bis sie schließlich an den alten Blumentopf gelangte. Er lehnte kopfüber an einem Mauerstein. So konnte der kleine Nager in sein Inneres krabbeln und hockte nun etwas geschützt in dem kahlen Töpfchen. Fine schlotterte und sang sich leise Mut zu: „Klirr, klar, Sternenweiß liegt das Land. Klirr, klar, unterm Eis ruht die Zeit ganz lang. Klirr, klar stoß‘ mich an, dann sing‘ ich vom Zauberreif…“ Sein Atem beschlug zu Reif an der braunen Tonwand und das Töpfchen erwachte: „Kleine Haselmaus warum singst du mein Lied?“
Fine staunte: „Ich habe es letztes Jahr gehört, aber wusste nicht dass es dir gehört? Mir ist so Bange, ich wollte mich mit dem Lied nur trösten.“
Der Topf räusperte sich: „Es ist ein Zauberlied, dass nur bei Raureif erklingt, dann kann ich für einen Augenblick Wünsche erfüllen. Sag‘ schnell, wie kann ich dir behilflich sein, sonst ist der Zauber wieder verwirkt.“
Das Haselmäuschen wisperte bescheiden: „Ich brauche keinen Zauber, wenn ich einfach in dir bis zum Frühling wohnen darf.“
Das Töpfchen lachte: „Aber gewiss doch!“ Es drehte sich einmal links herum, dann einmal rechts herum. Es füllte sich dabei mit trockenem  Moos und krausen Blättern, gerade richtig für ein wärmendes Nest. Ein paar Beeren und Nüsse entdeckte Fine auch, danach schliefen Haselmaus und Töpfchen tief und fest den ganzen, dunklen Winter lang.

© Petra Elsner
2. April 2018

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Der Weihnachtsapfelbaum

Hinter dieser  Tür wohnt ein Sack voll Märchen… Ich weiß, die Tür müsste mal wieder gestrichen werden, vielleicht schaffe ich das ja 2018 :).

Alle Jahre wieder schreibe ich eine Weihnachtsgeschichte und wünsche damit meinen Liebsten und Freunden eine frohe Weihnacht. So auch dieses Jahr: Ich denke fest an Euch und wünsche Euch allen Gesundheit und Glück, Mut zur Lücke und Freude am Leben, Eure Petra

Scharfer Novemberwind wehte einen Hauch von Schnee in den kahlen Apfelhain. Josefine fröstelte und sorgte sich. Die Obsternte war nach den späten Frösten im Frühjahr komplett ausgefallen. Trotzdem kamen seit Oktober Kunden auf ihren Hof und fragten nach Weihnachtsäpfeln, den Purpurroten Cousinots, der Ingrid-Marie und der Roten Sternrenette. Bedauernd schüttelte Josefine Kannengießer ihren Kopf und wiederholte die Worte „Alles im Frühling erfroren, keine Chance dieses Jahr.“ wie ein Mantra. Die enttäuschten Blicke der Leute nagten an Josefines Ehre. Schließlich versorgten die Kannengießers schon seit  Generationen die Leute in der Gegend mit knackigen Weihnachtsäpfeln. Die Tanne in der Mitte des  Dreiseitenhofes wurde stets zum Weihnachtsfest mit Nüssen, Strohsternen und roten Äpfeln geschmückt. In Ermangelung von echten hatte die junge Landfrau Deko-Äpfel via Internet geordert. Was für eine Schande, dachte sie währenddessen.  Der Urgroßvater würde sich im Grabe umdrehen.

Der Sturm rüttelte arg an dem alten Fachwerkhaus. Die Frau trat ans Fenster und lauschte ihm nach. Es war ihr, als fegte der Wind ihre Gedanken in eine Zeit, als ihre Urgroßeltern lebten. Dunkel erinnerte sie sich, dass ihr Urgroßvater immer im Spätherbst von einem geheimen Ort im Wald tiefrote, spritzig-süße Äpfel holte. Die lagerte der alte Köhler sorgsam ein und polierte am Weihnachtsabend die schönsten für den großen Weihnachtsteller der Familie.  Alle Jahre ging das so, bis der Alte verstarb. Der Weihnachtsapfelbaum im Wald geriet in Vergessenheit. Schließlich wusste ja niemand so genau, wo er stand. Das war auch nicht weiter schlimm, da die Familie inzwischen einen großen Apfelhain geschaffen hatte. Aber keiner dieser Äpfel hatte dieses feine Weihnachtsaroma, wie jene, die der Urgroßvater verschenkte. Was das nur für eine Sorte war? Josefine suchte nach dem alten Familientagebuch ihrer Großmutter und blätterte darin. Ziemlich weit hinten waren zwischen den handgeschriebenen Zeilen kleine quadratische schwarz-weiße Fotos geklebt. Auf einem dieser Bilder entdeckte sie sich selbst als Fünfjährige neben ihrem schon sehr, sehr alten Urgroßvater. Sie standen vor einem mächtigen Apfelbaum. Im Hintergrund rauchte ein Kohlenmeiler. Darunter stand: „Der letzte Brand.“ Das musste doch der Standort des alten Baumes sein und sie war sogar schon einmal dort. Irgendetwas trieb die Frau an, diese Lichtung im Wald zu suchen.

Am nächsten Morgen brach sie auf. Mit dem Kleintransporter fuhr  sie bis zum Wuckerweg tief in der Schorfheide. Eine Kiepe auf dem Rücken stapfte sie los. Auf dem Foto im Familientagebuch war unten links im Grauschleier ein Jagenstein erkennbar, der eine verwitterte Nummer trug. Josefine entzifferte die Zahl als 230. Diese Markierung könnte sie bei ihrer Suche leiten. Bei dem Jagen 228 war sie schon angelangt. Sie pirschte sich weiter Richtung Süden. In der Stille der Waldluft fühlte sich die Frau frei und stark.  Es dämmerte schon als sie bei ein paar alten Fichten, rechts beim Weg einen großen Findling erblickte, auf dem „Märchenwald“ geschrieben stand. Josefine dachte bei sich, dass passt zu diesem verwunschen-schönen Ort und ihrer Absicht. Kaum später gelangte sie auf einen schmalen Wildacker und entdeckte im Waldsaum ein rotes Leuchten. Die Augen der Frau strahlten: Geschützt vor Wind und Wetter stand dort der mächtige Urgroßvaterbaum voll behängt mit prächtigen Winteräpfeln.
Tagelang machte sich nun Josefine zu dem Baum im Wald auf und erntete die wundervollen Früchte. Und weil sie nicht dahinterkam, wie diese alte Apfelsorte hieß, schrieb sie sie einfach auf ihr Angebotsschild am Hofladen: „Köhlers Märchenapfel – perfekt zum Weihnachtsfest“.                                                                                                                                                               Petra Elsner, 2017

Nachtrag
Den Findling mit dem Namen “Märchenwald” gibt es wirklich in der Schorfheide. Keiner weiß, weshalb der so heißt.  Aber nun gibt es diese Geschichte für ihn… Sie erschien  gestern im Barnim-Echo der Märkischen Oderzeitung.

Der Stein ist u.a. in dem Bändchen “Gedenksteine und Forstorte in der Schorfheide” von Joachim Bandau vermerkt.
Der gelbe Punkt Nummer 6 markiert seinen Standort. Die Karte stammt aus dem Buch von Joachim Bandau. Um dort hin zu gelangen, benutzt man nicht wie im Märchen den “Wuckerweg” (ich musste im Text die Frau ja auf einen weiteren Weg schicken…), sondern läuft dort, wo der Wildauerdamm von der L100 abgeht, den Waldweg parallel zu den beiden Radangseen. Dort werdet ihr dem Stein begegnen, dem Apfelbaum sicher nicht. Es ist eben ein Märchen, kein Reiseführer…

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Der Spuk in der Tanne – der 6. und letzte Akt

Am Morgen des 24. Dezembers hastete Leons Mutter Eleonore von Stand zu Stand. Sie war wohl die Letzte, die hier noch Geschenke suchte. Den ganzen Monat über hatte sie im Krankenhaus Doppelschichten arbeiten müssen, weil viele Kollegen wegen Erkältungen ausgefallen waren. Die Frau drückte ein schlechtes Gewissen, denn für Leon war da kaum noch Zeit gewesen. Und wer war nur dieser Rudi Sonne? Auf Leons Zettel stand „Es kann später werden, bin bei Rudi Sonne, Am Markt 4.“ Als die Händler langsam mit dem Abbau ihrer Stände begannen, trat Eleonore voll beladen mit Einkaufstüten vor das Haus hinter der Tanne. Sie klingelte bei „Sonne“. Aus dem Lautsprecher flüsterte es: „Wer da?“ „Eleonore Winter! Leon?“ „Pssst, ja, komm rauf Mama, aber leise“, wisperte das dünne Stimmchen aus dem Messingschild. Zugleich summte die Eingangstür und sprang auf. Im Treppenhaus duftete es aus allen Ritzen nach Braten und Süßspeisen. Hier tönte fröhliche Weihnachtsmusik bis auf den Flur, dort ein Orgelkonzert. Die Atmosphäre knisterte vor feierlicher Spannung. Im vierten Stock stand eine Wohnungstür offen. Eleonore Winter trat in den Flur, legte alle Beutel und Pakete ab und schnaufte etwas außer Atem. Dann suchte sie nach Leon. Der starrte gemeinsam mit Rudi Sonne aus dem Fenster. Stocksteif saßen sie beieinander, nur Leons Zeigefinger deutete ihr  an, dass sie näher kommen soll. Sie schlich sich auf den freien Stuhl und schaute ebenfalls aus dem Fenster hinaus. Draußen auf dem Balkontisch lag ein großer Sack und in dessen Mitte eine Nuss. Eleonore sah Leon fragend an, der ihr zutuschelte: „Das ist meine Zaubernuss, es wird bestimmt gelingen!“ Die Frau nickte zustimmend, wusste nur nicht, was ihr Sohn meinte. Sie saß wie auf Kohlen: Kein Braten im Ofen, kein Geschenk eingepackt. Sie fühlte sich festgenagelt und wurde unruhig. „Psst, Mama!“, ermahnte sie das Kind, als endlich Fridolin erschien. Schon einige Tage hatte er sein Futter auf diesem Stoff vorgefunden, aber diesmal zog Rudi Sonne an einer Schnur,  und der Sack schnellte blitzartig mitsamt dem Tier in die Höhe. „Geschafft!“, jubelten der kleine und der große Mann.

Friedolin kehrt heim.

Leon erzählte nun seiner Mutter von den 300 Goldnüssen, dem diebischen Eichhörnchen, den unzähligen Fangversuchen und von der einen Zaubernuss, die den Fridolin nun in den Sack befördert habe. Dann telefonierte der Maler wie vereinbart mit dem Naturbeamten.

Eine Stunde später startete Bodo Grünlich seinen Jeep und rüttelte und schüttelte mit Fridolin im Sack, Leon, Rudi und Eleonore über altes Kopfsteinpflaster und Sandstraßen zu Willi und Frieda am Waldrand. Die beiden Alten warteten schon, denn Grünlich hatte sie informiert und streng nachgefragt, ob denn alles gut vorbereitet sei. „Gewiss, doch! Der Willi hat sogar die Höhle im Pflaumenbaum mit dem Kompressor ausgepustet und dann darin ein weiches Moosnest bereitet“, erzählte Frieda noch und der Beamte klang zufrieden. Als Bodo Grünlich den zappelnden Sack leicht geöffnet vor den Höhleneingang hielt und der kleine Nager in sein neues Quartier entschlüpfte, schaute Leon hinauf in die dürre Baumkrone. Unzählige Nüsse und Tannenzapfen hingen an dünnen Fäden im Geäst. „Das ist ja ein richtiger Weihnachtsbaum für Fridolin“, freute sich das Kind. Es dämmerte langsam,  und die Schritte der kleinen Gesellschaft knirschten durch den Schnee davon. Alle waren sehr erleichtert und konnten nun ihren Heiligen Abend beginnen.

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Der Spuk in der Tanne – der 5. Akt

Fridolin von der Tanne

Die Tage vergingen und Weihnachten rückte heran. Rudi Sonne und Leon hatten seit jener abendlichen Begegnung dem kleinen Eichkater täglich drei Nüsse spendiert. Ohne goldene Farbe, versteht sich. Fridolin besuchte sie immer zur gleichen Stunde. Es tönte dazu ganz leise, weil an seinem Sprungast zwei Weihnachtsglocken hingen, die natürlich mit der Bewegung läuteten.

An diesem Abend standen die Jungs von der Kinderfeuerwehr vor Rudi Sonnes Tür. Sie waren extra zum Revierförster gefahren, bei dem in dieser Jahreszeit auch Eicheln für die Waldtiere lagerten. Längst war es stadtbekannt, dass  Leon und der Maler 200 Nüsse vergoldet hatten, die Fridolin samt und sonders vom Baum gepflückt und versteckt hatte. Den jungen Kameraden war ihre Unterstellung wirklich peinlich, und sie baten Leon mit einer großen Schüssel Eicheln in den Händen um Verzeihung. „Schwamm drüber!“, meine der nur großzügig. Alles schien gut, denn auch die Händler hatten den kleinen  flauschigen Kerl tief in ihr Herz geschlossen und verwöhnten ihn mit schönsten Früchten. Die Nachtwächter wurden abbestellt. Fridolins akrobatische Aktionen brachten die Menschen auf dem Platze oft zum Lachen, es schien fast, als gehörte er für immer an diesen Ort.

Nur was sollte werden, wenn der Markt am Heiligen Abend schloss und der Weihnachtsbaum  nach den Feiertagen abgeschmückt und zu Kompost verarbeitet werden würde? Gewiss, die Bewohner am Markt würden Friedolin auch weiter füttern. Aber auf dem Marktplatz standen keine Bäume, und es gab auch keinen schönen Stadtpark. Wo sollte er eine Höhle finden, wo einen Fluchtpunkt und sicheren Ort? Und sollte dieses Eichhörnchen immer ohne Gefährtin leben? Leon und Rudi rauften sich die Haare über diesen Gedanken, denn ihnen wurde klar: Sie mussten etwas unternehmen.

Zuerst fragten sie den Ortsbrandmeister Lemke, wer denn den Baum der Stadt geschenkt hätte. Lemke wusste das nicht. Er habe den Baum doch nur aufstellen lassen und geschmückt: „Da müsst ihr wohl den Bürgermeister fragen.“ Doch auch Conrad Lob konnte keine Auskunft zu geben: „Sprecht einmal mit der Unteren Naturschutzbehörde, der Bodo Grünlich ist dort der Baumexperte.“

Besagter Sachverständige und Baumfreund wusste, von welchem Haus am Wald die Tanne stammte: „Nicht  wahr? Der Baum war viel zu schön zum Fällen. Aber wenn es um einen Weihnachtsbaum geht, drücke ich alle Augen zu. Was? Der Fridolin von der Tanne ist nicht rechtzeitig ausgezogen und hockt nun auf den öden Stadtsteinen?  Das ist ja furchtbar!“, rief Grünlich aufgebracht.

Der Maler und der Junge saßen noch lange bei dem Naturbeamten und hörten sich geduldig an, was so ein Tier frisst und was nicht, wie es artgerecht gehalten wird und was geschehen könnte, wenn nicht. Eines war gewiss, Fridolin von der Weihnachtstanne musste dorthin zurück, wo er herkam ….

 

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Der Spuk in der Tanne – der 4. Akt

Der Spuk.

Die kleine Stadt erwachte langsam. Flocken wirbelten. Ein Mann schlich um die Tanne und lauschte, ob sich darin etwas regte. Es war ihm, wäre etwas in ihr Unterholz gehuscht, schnell wie ein Luftzug. Fridolins Augen suchten hellwach die Dunkelheit ab. Dort, bei den Blumenkübeln, entdeckte er einen zweiten Wachmann. Und weiter hinten noch einen und dahinter noch einen. Bewegliche Schatten, die offenkundig den Marktplatz beobachteten. Die Schritte knirschten nicht mehr im Schnee.  Der Mann in Fridolins Nähe blieb stehen. Klein und kahlköpfig. Just dort, wo gestern das Eichhörnchen seine Vorräte vergraben hatte. Fridolin wartete, aber der Wächter bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Er  passte auf, dass niemand mehr unbemerkt über das Marktgelände spazierte.

Gut, dass in dem Baum noch andere Leckereien hingen. Fridolin kletterte von Astetage zu Astetage, knabberte hier an Schockladenplätzchen, dort an roten Äpfeln, ganz unten fand er Leons goldene Nüsse: Oh, wie wunderbar, dachte der kleine Nager und knackte eine Schale nach der anderen. Die übrigen versteckte  Fridolin diesmal in den Balkonkästen des Hauses gleich hinter der Tanne. Es war mit einem kleinen Eichkatersprung locker zu erreichen,  ohne  dass er auf das Steinpflaster hinabsteigen musste.

Am Nachmittag schlenderte Leon mit seinen Freunden von der Kinderfeuerwehr über den Adventsmarkt. Von Tag zu Tag kamen immer mehr Händler mit weihnachtlichen Waren. Darunter auch Handwerker, die ihre Künste vorführten. Auch Rudi Sonne, war unter ihnen und bot sich als Porträtzeichner an. Leon wollte ihm dabei zusehen.  Als die Kindergruppe bei der Tanne ankam, fragte jemand: „ Habt ihr  wirklich alle hundert Nüsse neu vergoldet und angehängt, du und der Maler, ganz allein?“ Leon nickte. Sein Blick suchte jetzt die Tanne ab. Wo waren sie nur. Aufgeregt lief er um den ganzen Weihnachtsbaum herum. Nein, nicht eine einzige konnte er noch finden. Leon stand und prustete: „Jemand hat meine Nüsse geklaut!“ Alle Augen richteten sich nun auf das Kind. Die Blicke fragten: Wer? Wo? Was? Warum? Aber als sie Leon, den Tollpatsch,  entdeckten, lächelten die Leute nur milde. Gewiss hatte er sie nur wieder verloren.  Die Feuerwehrkinder aber schauten nicht so entspannt: „Erst lässt du unsere Goldnüsse vom Laster zermalmen, und dann schwindelst du uns obendrein noch an“, sprach  einer aus, was alle dachten. Leon drehte sich blitzartig ab und rannte zu Rudi Sonne: „Jemand hat unsere Nüsse gestohlen!“ Der Maler hob die Brauen: „Wie jetzt, unsere Goldnüsse, alle?“ „Alle hundert, wer macht denn  so was?“, schluchzte das Kind. „Und meine Kameraden glauben mir kein Wort mehr!“ Leon sah den Malerfreund so herzergreifend an, dass jener vorschlug: „Komm heute Abend zu mir, wir zaubern zusammen noch einmal neue Goldnüsse und hängen sie morgen Nachmittag mit deinen Freunden gemeinsam auf!“

Diesmal ging alles viel schneller, denn der Maler hatte einfach flüssige Goldfarbe auf den Tisch gestellt, in die er mit Leon Nüsse tauchte. Wieder waren es genau hundert Stück, nur nicht ganz so leuchtend und edel wie jene, die mit Blattgold belegt waren. Die trockneten sehr bald draußen auf dem Balkon. „Hoffentlich stibitzt die nicht wieder jemand!“, wünschte sich Leon.

Fridolin beim Nüsse mausen.

Die Beiden saßen zufrieden beim Tee und schauten hinaus in das Winterdunkel, als plötzlich Fridolin auf dem Balkon auftauchte. Zwischen seinen Zähnen hielt er eine Nuss, natürlich eine  goldene …

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Der Spuk in der Tanne – der 3. Akt

Fridolins Herz raste,  und die ganze kleine haarige Gestalt zitterte.  Noch immer saß ihm der Schock in den Knochen, selbst als der Baum zur Ruhe kam. Was war geschehen? Das kleine Eichhörnchen schlief fest in seiner Höhle, als die Holzfäller nächtens Flutlicht auf die Tanne richteten. Alles ging blitzschnell: Eine Motorsäge jaulte auf,  sie schnitt einen Keil in den Fuß des Baumes, dann legte sich Fridolins allerschönste Tanne krachend um. Im Fallen dachte der Eichkater noch, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch er konnte sich vor Schreck nicht rühren. Und so kam es, dass er mitsamt der Tanne auf dem Tieflader an diesen fremden Ort geriet.

Fridolin. Zeichnung: Petra Elsner

Jetzt sortierte und putzte Fridolin sein Fell über den unzähligen blauen Flecken. Seine Schlafstatt hatte sich komplett aufgelöst und hing nun wie Spagetti an der rauen Höhlenwand. Fridolin sammelte von ihr die Heu-, Stroh- und Moosteile ab und baute sich daraus ein neues Lager. Darauf sank er erschöpft nieder und grübelte: Da hat es Opa Willi doch wahrgemacht. Schon seit Wochen sprach er zu Oma Frieda, die Tanne müsse weg, sie überschatte ihr kleines Häuschen am Waldesrand. Oma Frieda schimpfte: „Das kannst du doch nicht machen,  Willi! Die Tiere im Baum haben hier ihr Winterquartier, sie werden ohne Obdach umkommen!“ Doch der alte Mann meinte nur, wenn kein Licht ins Haus fiele, koste es zu viel Strom. Er werde die Tanne einfach der Stadt als Weihnachtsbaum spendieren, dann habe man auch mit dem Fällen keine Mühe. Zwar hörte Fridolin das Gespräch der beiden Alten, doch er konnte sich nicht  recht  vorstellen, was das bedeuten würde.

„Nun, ich hab es ja überstanden“, murmelte er sich Mut zu. Doch  erst  als der kleine Nager wieder Hunger verspürte, wurde ihm klar, dass ihm seine Wintervorräte abhandengekommen waren. Der unfreiwillige Umzug hatte gefährliche Folgen. Schließlich trug das flinke Tier den ganzen Herbst über sein Futter zusammen. Fridolin rieb sich die Wintermüdigkeit aus den Augen. Er musste neue Nahrung heranschaffen  –  rasch! So lockerte er das Aststück vor seiner Höhle und lugte vorsichtig hinaus. Hui, was war das für ein Lichtermeer, es schien ihm weiter, als das der himmlischen Milchstraße, und wie bunt sein Baum aussah. Beinahe verzückt lauschte er der Marktmusik und dem herzhaften Kinderlachen. Fridolin wunderte sich über all das muntere Treiben. Das letzte Lachen hatte  er in der Pilzzeit gehört, als Ferienkinder den Wald durchstreiften. Und wie er hinter dem Stern in der Tannenspitze in seine neue Welt linste, gefiel ihm, was er sah.

Als die Nacht kam und kein Mensch mehr unterwegs war, kletterte Fridolin durch die Tanne. Oh, hier fand er viele Leckereien, doch er brauchte etwas Handfestes, um der Kälte gut trotzen zu können. So griff er sich eine der Solar-Laternen und balancierte tänzelnd erst über die Hüttendächer der Händler, über die Stromleitungen, Verkehrsschilder und Litfaßsäulen, bis er sein neues Revier erkundet hatte. Er schien in ein kleines Paradies geraten zu sein. Überall duftete es lecker und nahrhaft. Bald schon hatte er einen Futterberg zusammengetragen. Nur wo sollte er seine neuen Vorräte verstecken? Der Boden war hier überall mit Steinen belegt, nur in den großen Blumenkübeln konnte er etwas einlagern. Als der Morgen graute und erste Autos Ware auf de m  Markt anlieferten, huschte Fridolin wieder in seine Höhle zurück…

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Der Spuk in der Tanne – der 2. Akt

Beim Vergolden. Zeichnung: Petra Elsner

Leon hockte an Rudi Sonnes blank gescheuertem Küchentisch und tupfte mit ihm vorsichtig Blattgold auf die frischen Walnüsse. Der Maler konnte die Traurigkeit des Jungen einfach nicht mit ansehen und  hatte das Kind noch am gleichen Abend zu sich   eingeladen. Dort saßen sie nun. Das Küchenfenster gab den Blick zum Markt frei, wo die Weihnachtstanne ihr glanzvolles Licht über den inzwischen leisen Ort warf. Rudi zeigte dem Jungen  noch einmal, wie man mit dem Pinsel eine hauchdünne Blattgoldlage zu fassen bekam. Nämlich,  indem er zuvor leicht mit dem Pinselhaar über seine Wange strich und es so mit Hautfett haftfähig machte. „Es sind die kleinen Tricks, die ein gutes Handwerk zu  Stande bringen“, kommentierte der Mann sein Tun. Dann goss er Tee in zwei Becher und schob den Teller mit Schmalzstullen wortlos in die Mitte des Tisches. Er wusste, Leons Mutter hat Nachtschicht, ein gemeinsames Abendbrot konnte dem Kind nur willkommen sein. Der Junge balancierte noch ein Goldblatt auf seine Nuss. „Jetzt nur nicht niesen“, warnte Rudi mit einem Augenzwinkern. Leon musste sich schwer ein prustendes Lachen verkneifen. Dann aßen sie erst einmal in aller Ruhe. Sechs Nüsse hatten sie inzwischen bezogen,  und  sie wussten, sie würden Morgen auch noch Zeit damit zubringen.

Leon schärfte seinen Blick auf die Tanne. „Schau’ mal,  Rudi, irgendetwas bewegt sich in dem Baum. Sieh’ nur, jetzt hüpft ein kleines Licht über die Marktstände. Und nun tänzelte  es dort oben auf der Stromleitung entlang. Was ist das nur?“ Der  Mann stutzte ebenso und wusste keine Antwort. Die  Zwei schauten dem seltsamen Wanderlicht nach, bis es entschwand. Ratlos zuckten die Beobachter mit ihren Schultern und wandten sich wieder dem Vergolden zu.

Am nächsten Morgen hing ein Geschrei und Gezeter über dem Marktplatz. „Bei mir hat einer den Sack mit Sonnenblumenkernen aufgerissen“, brüllte verärgert der Mann vom  Bio-Stand. „ Bei mir fehlen zwei Duftkissen“, rief die Blumenfrau. „In meiner Hütte hat auch jemand stibitzt“, raunte der Mandelbäcker. Und die üppige Frau vom Gemüsestand entdeckte: „Von meiner Auslage hat jemand Aprikosen und Trockenpflaumen geklaut!“ An anderer Stelle waren Esskastanien und ein Lebkuchenherz angeknabbert. Es war nicht wirklich viel, was jedem fehlte, aber die Händler fühlten sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass nächtens jemand frech durch ihre Hütten spazierte und sich heimlich bediente.

Bürgermeister Conrad Lob hatte die ärgerlichen Rufe durch das offene Fenster seiner Amtsstube vernommen. Jetzt trat er in die aufgebrachte Runde und versicherte, nein, Ratten gäbe es in seiner sauberen Stadt wirklich nicht. Doch was oder wer könnte dann der nächtliche Besucher sein? Auf jeden Fall forderte Herr Lob sicherheitshalber einen Wachschutz an, damit der schöne Adventsmarkt seiner Stadt nicht in Verruf geriet.

Als abends Rudi Sonne und der kleine Leon mit ihren Goldnüssen vor die Tanne traten, war der Ärger unter den Marktleuten längst verraucht. Keiner sprach mehr von den nächtlichen Vorkommnissen. Gern wäre Leon jetzt auf die Feuerwehrleiter gestiegen, um rund um die große Weihnachtstanne seine schönen Schmuckstücke zu platzieren. Doch die rückte wegen solcher Kleinigkeiten nicht extra an. Auch nicht für Mitglieder der Kinderfeuerwehr. So hängten die Zwei ungesehen ihre Goldnüsse nur ins  Erdgeschoss des Baumes. In der Tüte der Gemüsefrau war nur noch eine einzige unverzierte Walnuss verblieben. Der Maler zog seine buschigen Augenbrauen hoch und drückte  die Nuss dem Jungen mit den Worten in die Hand: „Es ist eine Zaubernuss! Öffne sie nur, wenn dir gar nichts  Anderes mehr einfällt.“ Dann zog der Mann seinen schwarzen Schlapphut und ging. Leon schaute hinauf in den prachtvollen Weihnachtsbaum. Aber seltsam, irgendetwas schien ihn von dort oben aus zu fixieren…

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