Das Künstlerheft “Hüter der Weisheit”

Es ist viel zu heiß zum Denken, aber vielleicht ist Euch nach Lesen. Ich stelle Euch heute einfach mal den Inhalt zu meinem handgebundenen Künstlerheft “Hüter der Weisheit” vor. Die Reise der Eulen rund um die Welt  hatte ich für Kalenderrückseiten geschrieben. Nur als das Jahr rum war, wanderte die Geschichte mitsamt Kalendarium in der Tonne. Dumm gelaufen. Aber versprochen: Ich schreibe nie wieder ein Kalendermärchen, es ist einfach zu schade drum…

Hüter der Weisheit

Es war eine Eule, die das letzte reife Korn der Weisheit fand und an einem verborgenen Ort dem ewigen Eis überließ. Lange war sie geflogen, durch Wind und Wetter, bis sie jenen Platz fand, von dem sie glaubte, dass hier kein anderes Wesen unverhofft herfände und möglicherweise den Schatz raubte. An einem schmalen Grat, in einem wohlgeformten Eistropfen, wartete fortan das Korn in der Zeit.

Es war schlichtweg notwendig, dass ein Lebewesen diesen letzten großen Schatz der Welt sicherte. Schon lange fruchteten die Samen der Weisheit nicht mehr gut. Weil das Korn nur sehr langsam spross, überwucherten es immerzu schnellwüchsige Emporkömmlinge wie das Faulmoos, die Gierreben oder das Egomanenschlingkraut. Und da unter den Menschen das Pflegen und Hegen aus der Mode gekommen war, verdorrten die Weisheitskörnchen schließlich samt und sonders. Bis auf dieses eine.

Dass eine Eule seine Rettungsmission auf sich nahm, war nicht weiter verwunderlich, gelten doch Eulen seit Urzeiten als Hüterinnen der Weisheit. Klar war auch, es würde eine von den Weltbürgerinnen unter den Eulen sein. Eine Schleiereule eben, deren Sippe auf fünf Kontinenten zuhause ist. Und weil die Eulen mit den Herzgesichtern oft in guter Nachbarschaft mit den Menschen lebten, waren sie es, die zuerst die zunehmende Abwesenheit der Weisheit bemerkten. Und so hat es sich zugetragen:

Eines Nachts kreischte eine Schleiereule gar jämmerlich und rief mit dem Schrei ihre große Familie zusammen. Sie hatte in der Dämmerung auf einem öden Marktplatz das letzte lebende Korn der Weisheit aufgelesen und wusste nicht, was damit werden sollte. Doch auch die nächtliche Eulenversammlung kannte keinen geeigneten Nährboden. So blieb nur, das Weisheitskorn im Polareis einzufrieren, bis die Menschen sich wieder eine klügere Zeit wünschten.  Aber wie sollte das Korn dorthin gelangen? Nicht die Weite des Fluges war das Problem, sondern die große Kälte, die dort herrschte. Keine Schleiereule hatte jemals in der Antarktis gelebt.

Die Schleiereule Novatrix

Dennoch begab sich im Morgengrauen die besonders weitsichtige und warmherzige Schleiereule namens Novatrix auf den ungewissen Weg. Sie musste einfach der großen Verpflichtung, die die Eulengilde von Anbeginn der Zeit in sich trug, folgen. So flog Novatrix tapfer viele nur dämmernde Tage und stockfinstere Nächte, bis sie halb erfroren endlich den schmalen Grat mit dem funkelnden Eistropfen erreichte. Keiner sah die stille Freude dieses Augenblicks, in dem die Eule wie lichter Glanz erstrahlte, obgleich sie ihr nahes Ende schon spürte. Auf dem Rückflug geriet der müde Vogel sehr bald in einen wilden Sturm, der ihn schließlich zu Boden drückte. Zwei Schneeeulen sahen den Absturz zwar, aber sie konnten die Eulenschwester nicht mehr retten. Mit letzter Kraft verriet Novatrix den weißen Eulen nur noch, wo sie das Weisheitskorn verwahrt hatte. So wurden die Schneeeulen zu Hüterinnen des schlafenden Schatzes, und da die weißen Eulen wirklich sehr schweigsame Gesellen waren, blieb das Versteck auch lange geheim …

Im Land der Schneeeulen tickte die Zeit noch nach dem uralten Werden und Vergehen. Hier kreuzte kein Fischfangschiff, waren keine Forscher zugange. Unberührt vom Wandel in der Welt lebten die Tiere ihren ehernen Rhythmus des Seins. So war die Schneeeule Heri auch nicht sonderlich erstaunt, dass sich Novatrix für das Leben anderer opferte. Sie wusste einfach, ohne solche Gaben überdauert keine Gemeinschaft. Heri hatte inzwischen schon viele Kinder bekommen, aber keines war wie ihr jüngster Sohn, der lebhafte Clarus. Kristallklar war seine Seele. Er kannte keine Furcht, spielte mit jungen Walrossen und Eisbären, neckte die Robben und segelte mit Adlern wie Schneegänsen durch die Lüfte. Clarus liebte alles, was ihn umgab. Die Eulenmutter war nicht mehr die Jüngste, als sie mit ihrem Sohn in einer leisen Nacht aufbrach. Sie sagte nur: „Komm, es ist soweit, ich muss dir mein Geheimnis zeigen.“ Sie starteten aus der weiten Ebene. Schneeflocken tanzten und deckten wieder die vom Wind blank gefegten Eisfelder zu. Bald erreichten die Vögel jene bizarre Bergwelt, die fantastisch türkis-blau im fahlen Mondlicht schimmerte. Als die zwei Eulen auf dem schmalen Grat am äußersten Rand des Eislandes landeten, ahnte der junge Clarus, in dieser Nacht würde seine Kindheit enden.

Die Schneeeulen Heri und Clarus

Heri wedelte mit ihren Flügeln den immer noch wohlgeformten Eistropfen vom Schnee frei und sprach: „Sieh, Clarus, das ist das letzte Weisheitskorn der Welt. Novatrix, eine Schleiereule aus Feuerland, hat es gerettet. Es muss hier verborgen bleiben, bis eine Eule kommt und es zurückfordert. Von nun an bist du der Wächter dieses Schatzes. Du musst hierbleiben, denn die Zugvögel berichten, die Menschen und ihre Maschinen rücken unserem Land immer näher. Man weiß nie, wann sie eintreffen.“  Der junge Vogel schaute sich ernst um: „Ich wusste ja, dass wir Eulen die Hüter der Weisheit sind, aber in dieser Einsamkeit?“ „Weisheit sprießt nur in einer gedeihlichen Stille. Aber die gibt es auf der Erde kaum noch“, erklärte Heri. „Dennoch, die Welt kann sich ja ändern. Wir müssen diese gefrorene Chance für sie bewahren.“ Mit diesen Worten nahm die Mutter Abschied von ihrem Sohn. Clarus spähte hellwach, aber sehr verlassen in die Nacht. Kein Laut war vernehmbar, nur der Wind pfiff mal leiser, mal lauter.

Bei Lichte betrachtet, sah der Ort wunderschön aus. Der schmale Grat bog sich wie eine Brücke über ein weites Wasser. Auch hier erwachten mit den ersten Sonnenstrahlen die Robben, Wale, Vögel, und ein listiger Schneefuchs schaute gelegentlich vorbei. Clarus war erleichtert, er musste nicht wirklich einsam sein, sondern nur ein neues Leben beginnen. Aber weil er ein Geheimnis zu hüten hatte, umwehte den Vogel nun etwas Ungewisses, was die Tiere seiner neuen Umgebung witterten. So erfreute sich Clarus, der Wächter, zwar an der Gegenwart seiner Nachbarn, lebte aber in sich gekehrt. Irgendwann beobachtete er nur noch tagein, tagaus den Lauf der Sterne, der Gezeiten und des Windes und bedachte das Leben an sich. Er konnte bald Stürme voraussagen und wie stark die Eisschmelze sein wird. Das rettete manchem Getier das Leben. Und wenn seither die Tiere im Eisland über Clarus redeten, dann nannten sie ihn nur noch den weißen Weisen vom Grat …

Am anderen Ende der Welt schmolz gerade der Schnee. Zaghaft erwachte der Frühling und stimmte mit seiner pastellenen Blütenpracht alles Leben heiter. Es schien, als zauberte der Urquell des Wachsens jedem Wesen ein Lächeln ins Antlitz. Selbst die Tiere der Nacht blinzelten jetzt länger in den mild-sonnigen Tag.

Ninox und die große Buscheule

Im immergrünen Land unter der weißen Wolke hatte nächtens der kleine Buschkauz Ninox das Palaver der großen Buscheulen belauscht. Sie erzählten sich die alte Legende von Novatrix und befragten einander, ob die Zeit für die Rückkehr des letzten Weisheitskorns endlich reif sei. Aber keine wusste es genau zu sagen. So riefen die Buscheulen den uralten Mondgott Thoth an: „Wohuhp, wohuhp, Gott der Weisheit, Wächter der Sterne und Herr über die Zeit, sage uns, was zu tun ist, denn es beunruhigt uns, dass die Menschen nicht nach Weisheit fragen.“ Aber Thoth sandte ihnen keine Zeichen. Vielleicht war seine Wahrnehmung getrübt, weil sich schon ewig niemand mehr für ihn interessierte.

Ninox grübelte also an diesem Morgen über die Frage der großen Buscheulen. Dabei wurde ein Gedanke in ihm immer lauter: Bei einer Flugreise über die Kontinente könnte man es herausfinden, ob der Zeitpunkt gekommen sei. Aber könnte er die Weltenmeere überqueren? Von Neuseeland bis Australien ist es nicht weit. Das könnte er womöglich mit etwas Training schaffen. So flog der kleine Kauz aus dem Regenwald hinunter zur Küste und sah den großen Albatrossen und Sturmvögeln zu, wie sie über der Brandung des Pazifiks mit dem Wind hoch über der Weite des Ozeans segelten. Er wusste, nur von ihnen konnte er den weiten Flug lernen, denn auf dieser Insel kannten die Vögel des Waldes keine Feinde und waren so lieber zu Fuß unterwegs.

Jeden Tag flatterte Ninox nun den Strand entlang. Endlose Kilometer. Mit dem Wind kam er bald weiter, als er je geflogen war. Gegen die scharfe Brise aber stand der kleine Vogel in der Luft auf der Stelle und stürzte gleich darauf wie ein Stein zu Boden. Mutlos lugte er dort ziemlich derangiert aus den Federn. Ein Sturmvogel hatte die eigenwilligen Streckenflüge der kleinen Eule beobachtet und sich gewundert. Schließlich trieb ihn die Neugier zu dem seltsamen Bruchpiloten: „Was treibst du für ein zerstörerisches Spiel?“ Ninox sortierte sich und stammelte respektvoll: „Ich muss zu Erkundungen hinüber nach Australien.“ Der Sturmvogel kicherte herablassend: „Du Winzling?“

Ninox schaute etwas ratlos unter seine kleinen Flügel. Längst wusste er, niemals könnten sie ausreichend Wind für ein endloses Gleiten unter sich versammeln. „Aber es ist eine wichtige Mission“, trotzte er dem Spott. Das rührte den großen Vogel an: „Musst du sie allein vollbringen?“ Ein knappes, aber eigensinniges „Nein“ war die Antwort. Ninox staunte nicht schlecht, als er den Sturmvogel sagen hörte: „Na, dann wirst du vielleicht meine Hilfe brauchen? Du könntest ja auf meinem Rücken mitreisen.“

Die großen Augen des kleinen Buschkauzes wurden noch größer, als sie eh schon waren. Und sie leuchteten vor Freude, so könnte sein Plan wirklich gelingen. In der nächsten Vollmondnacht war es soweit …

Die Zwei nahmen die Route über den Tasmansee hinüber nach Australien. Aber auch dort hatten die Kuckuckskäuze, Erd- und Buscheulen in den Eukalyptuswäldern keine Neuigkeiten. Also überquerten die ungleichen Flieger den Timorsee und versuchten anderswo ihr Glück. An der Küste von Sumatra trennten sie sich. Ninox flatterte über Vulkangebirge, heiße Quellen und dichten Dschungel landeinwärts. Irgendwo dort, in einem blauen Licht aus strahlendem Himmel und glasklarem Wasser, traf er den Fischuhu Ferrus bei der Jagd.

Fischuhu Ferrus

Die kleine Eule landete unsanft, weil erschöpft, dicht neben ihm auf einem morschen Baumstumpf und japste nach Luft. „Hey! Mach’ nicht so einen heißen Wind, du gerupfter Federball! Du verscheuchst mir ja mein Abendmahl“, schnauzte ihn der Fischuhu an. „Ich versteh’ nichts vom Fischen“, entschuldigte sich Ninox kleinlaut bei dem Gevatter. „Das merkt man“, blubberte Ferrus, was nur noch wie ein schwaches Echo seines flüchtigen Ärgers klang. „Was verschlägt dich dann in diese Gegend?“, wollte Ferrus jetzt wissen. „Kennst du die Legende von Novatrix?“, flüsterte Ninox. „Oh, gewiss! Jede Eule auf der Welt kennt sie“, dozierte der Uhu. Daraufhin fragte Ninox, was er auf seinem weiten Weg bei jeder Eulensippe erkundet hatte: „Dann kannst du mir vielleicht sagen, ob die Zeichen der Zeit gut stehen für die Rückkehr des allerletzten Korns der Weisheit?“

Ferrus trat erregt von einem Bein aufs andere. Seine Federohren sträubten sich wie vibrierende Fächer: „Um Himmels willen! Die Menschen wandern wieder. In so einer bewegten Zeit geht viel verloren.“ Die kleine Buscheule sah in die Weite des blauen Landes und fand: „Es ist doch wunderschön hier, wieso wandern die Menschen fort?“ Der Fischuhu antwortete tonlos: „Sie gehen nach Brot, hier gibt es zu wenig davon.“ „Aber brauchen sie nicht Weisheit für ihren Weg?“, überlegte Ninox hörbar. „Weißt du, kleiner Bruder“, erklärte  Ferrus, „sie ziehen ratlos und mit gekappten Wurzeln in eine ungewisse Zeit. Das Weisheitskorn aber benötigt inneren Frieden und Ruhe, um zu gedeihen.“

Ninox ließ die Flügel hängen und seufzte: „Aber irgendwo muss doch die rechte Zeit wohnen.“ Der Fischuhu schaute lange sinnierend dem sachten Lauf der Wellen nach, die hinüber in einen Mangrovenwald schwappten. Dann räusperte er sich: „Vielleicht an einem stillen Ort, in einem wachen Herzen.“ Ferrus sah zu Ninox. Dem Winzling perlte die Müdigkeit aus jeder Feder.  „Ach, kleiner Held“, sprach nun der Uhu. „Du trägst schwer an deiner Mission. Aber die könnte keine Eule, nicht einmal die größte und stärkste, allein bewältigen. Bedenke: alle in der großen Eulenfamilie sind Hüterinnen der Weisheit. Du bist die Eule, die aufgebrochen ist. Lass mich die Mission übernehmen, soweit mich meine Flügel tragen. Und sei unbesorgt, sie wird zu einem guten Ende gebracht.“

Über dem Gespräch der Eulen hing inzwischen eine silbrige Nacht mit betörenden Düften. Frösche quakten, und der Fischuhu wurde wieder zum Jäger, bis er sich satt und stark genug fühlte.  Sodann erhob sich Ferrus, um entlang der Ozeanküste die große Suche der Eulen fortzusetzen …

Ferrus flog über die Länder des goldenen Lichts. Er war hoffnungsvoll gerade hier, wo die Menschen die Gelassenheit einer weichen Teestunde lebten, einen Ort für das Korn zu finden. Es war ein Wolkenbruch, der den reisenden Vogel Unterschlupf suchend in einen verwunschenen Tempelgarten trieb. Die kleine Pagode in seinem Innern schien schon lange verlassen, doch noch immer leuchtete das Blattgold ihrer Kuppel sehr heilig. Ferrus erinnerte sich, dass Gold die Farbe der Weisheit ist. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen, und so betrat er neugierig das alte Gemäuer. Im Halbdunkel öffnete sich ein runder Raum von dessen Wänden blasse Figuren schauten. Sonst war hier nichts und niemand, nur müdes Laub raschelte über den Lehmboden. So hockte sich der Uhu in die Stille und wartete auf das Ende des Regens, als er unvermittelt hinter sich einen Windhauch spürte. Ferrus drehte blitzschnell seinen Kopf um 270 Grad und erspähte zwei blitzende Augen, die ihn aus einem dreieckigen Gesicht anblickten: „Hast du dich verirrt?“, herrschte ihn die Tempeleule an. Der Fischuhu staunte: „Ah, welch’ seltene Begegnung, eine Maskeneule.“ Die schaute den Eindringling argwöhnisch an und verrenkte sich bei ihrer Betrachtung derart eigenwillig, dass es aussah, als trüge sie schwer an einem Buckel. Ferrus dachte bei sich, jetzt weiß ich, weshalb man diese Schwestern auch Fratzeneulen nennt, aber er verkniff sich seine spitze Zunge und erklärte sich höflich.

Die Maskeneule Noctula

Die Maskeneule Noctula war Gesellschaft nicht gewohnt. Seit Ewigkeiten hauste sie in einer nahen Baumhöhle und empfand sich als Nachtwächterin des Tempels. Dabei hatte sie manchem unwillkommenen Wesen das Fürchten gelehrt. Aber einen Artgenossen konnte sie nicht beeindrucken. So saßen die zwei bald einträchtig beieinander und sprachen lange über den Wandel der Zeiten und menschliche Irrwege.

Noctula raunte dann sehr skeptisch: „Schau, statt ihre inneren Gärten zu kultivieren, rauchen sie lieber Rauschwerk und halten Halluzinationen für Geistesblitze.“ Die Maskeneule zeigte dem Fischuhu geheime Plantagen, wo der Stoff dafür spross. „Sieh nur, welch’ gigantische Ausmaße! Kriege werden darum geführt. Sie nennen das Zeug ‚Pflanze der Weisheit’, doch sie stimuliert nur irrsinnige Sucht. Was kann dagegen schon unser letztes Korn der Weisheit ausrichten“, haderte Noctula. „Den Trug entschleiern“, gab Ferrus klarsichtig zurück. „Zweifele nicht, denn es ist unsere Aufgabe, eine weise Weltenwende herbeizuführen. Du musst wieder der inneren Kraft des Lebens vertrauen.“

Ferrus Worte verscheuchten langsam den Missmut der Tempeleule. Ein paar Nächte jagten und tafelten sie zusammen, dann war Noctula bereit, ihr Eremitendasein aufzugeben. Viel zu lange war sie der dunklen Seite des Eulenmythos’ gefolgt. Plötzlich war die einst machtvolle Lust, als unheimliche Nachtgestalt die menschliche Angst zu schüren, in ihr erschöpft. Da sie sich aber nützlich machen konnte, strotzte der Nachtvogel vor ungeahnter Unternehmensfreude. Ferrus war sich sicher, diese listreiche Eule würde mit ihren runden, kräftigen Schwingen den Weg bis nach Afrika schaffen, um auf dem schwarzen Kontinent nach dem Rechten zu schauen …

Noctula überquerte unermüdlich den Indischen Ozean und steuerte nun von der Savanne herkommend auf den Regenwald zu. Nie zuvor sah sie einen so weiten, schier endlosen Himmel und darunter gigantische Affenbrotbäume, aus denen ein vielstimmiges Gezwitscher vom prallen Leben sang. Erst im schwülen Dunkel der afrikanischen Nacht hörte Noctula plötzlich Trommelschläge. Aber irgendwo aus dem Dickicht vernahm sie auch bekannte Rufe. Die konnten nur von einer Verwandten stammen, der Bindenfischeule Sanusa.  Als Noctula sie fand, geriet sie in ein sonderbares Treffen:

Die Bindenfischeule Sanusa, der kleine Perlkauz Timentus und der Woodfordkauz Facilius

Die große Sanusa hockte mit dem kleinen Perlkauz Timentus und dem Woodfordkauz Facilius zusammen. Timentus wisperte gerade besorgt: „Afrika ist ein Moloch des Sterbens“, als die Maskeneule in das  Gespräch platzte. Sie zupfte sich ihr Gefieder zurecht und begrüßte die drei etwas verwundert: „Ich dachte, hier im Paradies der Vogelwelt würde es fröhlicher zugehen.“ Sanusa und Timentus senkten bestürzt die Blicke. Das Perlkäuzchen wandte sich sogar völlig ab und zeigte dem Gast nur noch seine schwarzen Flecken am Hinterkopf, die wie ein Scheingesicht anmuteten. Schließlich durchbrach die Großeule das betretene Schweigen: „Wir warten schon einige Tage und Nächte auf dich, Kundschafterin der Eulen aus den Ländern des goldenen Lichts. Doch wir haben hier keinen guten Ort für das letzte Korn der Weisheit zu bieten“, erklärte Sanusa unumwunden. „Kriege haben die Menschen geschwächt, und eine bösartige Seuche rafft ganze Jahrgänge dahin. Hör’ nur, wie verzweifelt ihre Trommeln klingen. Gestern flehten sie ratlos Ea-Enki, ihren Wasser- und Weisheitsgott, an. Und heute begehen sie im Dorf ein rituelles Fest, um die alten Geister ihrer Ahnen zu befragen.“ Facilius schüttelte sich respektlos: „Ich halte nichts von Orakeln. Ein afrikanisches Sprichwort besagt: Wissen und Weisheit sind wie ein Garten, ohne Pflege gibt es keine Ernte.“ „Ja“, erregte sich Timentus,  „und Sippen- wie Glaubenskämpfe führen direkt ins Chaos.“ Noctula fröstelte und baute sich auf ihrem Rücken wieder einen schrägen Buckel, als wollte sie alle Sorgen darin verstecken: „Die Welt ist so schön und doch arg zerrissen. Werden wir Eulen jemals einen menschlichen Hort für das Weisheitskorn finden?“ Alte Zweifel nagten an ihr.

Die Nacht ging, und goldgelb färbte sich der Himmel mit dem ersten Sonnenlicht. In den Morgengesang der Vögel mischte sich das klangvolle Spiel eines Daumenklaviers. Timentus stieß Facilius an: „Sieh nur, dort unten, die schwarze Schöne spielt wieder.“ Die zwei bekamen glänzende Augen. Noctula stichelte: „Ihr kommt aber leicht ins Schwärmen.“ „Ach, was weißt du schon“, ärgerte sich Facilius. „Sie ist die erste junge Frau, die dieses Instrument beherrscht. Da das Daumenklavier die Seelen der Ahnen ehrt und ihm Heilkraft zugesprochen wird, war es den Frauen seit jeher strikt verboten, ihm Töne zu entlocken. Wir sind einfach stolz auf diese Künstlerin, die aus sich selbst heraus mutig uralte Fesseln abstreift.“ Noctula schmunzelte gerührt und sah in dem Lichtblick Hoffnungsfunken. Auch für die Mission der Eulen. Für deren Fortgang brauchte die Weitgereiste nicht um Ablösung zu bitten. Facilius war schon bereit, das nächste Staffelstück zu übernehmen. Der kecke Waldkauz mag einfach Menschen und wird furchtlos ihre Nähe suchen. Als es dämmerte, brach der Eulenvogel Richtung Norden auf …

Die Waldohreule Risuna und der Steinkauz Cuderus

Über Attika schien ein großer, runder Mond so hell, dass das Meer vor Piräus silbrig an Land schwappte. Der Steinkauz Cuderus war mondsüchtig und deshalb besonders agil in dieser Nacht. Er flog hinüber zu dem dürren Pinienwäldchen, um die plauderfreudige Waldohreule Risuna zu treffen. Er war ihr im Morgengrauen eine Antwort schuldig geblieben. Während der Eulerich wellenartig dahinschwebte, grübelte er noch: Was denn nun wirklich Weisheit mit Geld zu schaffen habe? Solche Fragen stellten ihm die Eulenfrauen immer, wenn sie auf seinen Ahnherren anspielten, der das Rückbild einer alten Münze zierte. Berühmte Verwandte sind manchmal eine Last. Risuna lächelte bis in die Spitzen ihres Federkranzes, als sich Cuderus bei ihr einfand. „Na, mein Guter, hast du dich rechtschaffend bedacht,“ säuselte sie spitzfindig. Der Kauz duckte sich wie ein mürrischer Kobold und schwieg. Das gefiel der Eulendame gar nicht daher schmeichelte sie ihm: „Ich weiß ja, dass dein Vorfahr Liebling unserer griechischen Weisheitsgöttin Athene war. Auch, dass diese Vorliebe unsere ganze Sippe zu Weisheitsvögeln adelte. Eine schöne Fügung. Geradezu göttlich! Aber bis heute finden sich Eulenbilder auf den Silberdrachmen, da muss man doch mal fragen dürfen …“  „Schon gut,“ unterbrach sie Cuderus. „Erzähl mir nicht, was ich schon weiß! Er strich sich bedächtig über sein Haupt und stellte seine schwefelfarbenen Augen scharf: „Ich denke, schlussendlich schöpfen die Menschen aus der Pflege der Weisheit auch Reichtum. Wenn einer aus seinem Wissensschatz heraus erkennt, dass beispielsweise eine üppige Olivenernte heranreift, sollte er alle Ölpressen aufkaufen. Kommt dann die Ernte, wird er reich, weil die Bauern nur mit seinen Pressen ihre Oliven in Öl verwandeln können. Verstehst du, was ich meine?“ Risuna verstand. Doch etwas anderes vernahmen gerade ihre Sinne. „Jemand ist im Anflug,“ flüsterte sie. Und schon wippte Facilius auf dem Ast neben ihnen.

„Man soll ja nicht Eulen nach Athen tragen, aber mein Kommen ist ganz und gar nicht überflüssig“, schnaufte das Eulchen aus Afrika. „Ich komme wegen der großen Mission. Wisst ihr Bescheid?“ Die attischen Vögel nickten, doch schauten sie irgendwie verschwörerisch. „Und, gibt es hier an diesem Ort des Lichts und der Wiege abendländischer Kultur einen Hort für unser allerletztes Weisheitskorn?“ Risuna und Cuderus späten stumm wie Pokerspieler, die sich nicht in die Karten blicken lassen wollten. Lange, bis Facilius entnervt kreischte: „Was ist euch so peinlich, dass ihr euch so bedeckt haltet? Redet endlich!“ „Na ja, weißt du, wir sind hier Fremdem gegenüber etwas misstrauisch geworden. Sie überschwemmen unser Land“, tuschelte Risuna. „Häh? Auch die Eulen?“ Facilius konnte es nicht fassen. Cuderus druckste. „Nein, nicht die Eulen, die Menschen. Aber das ist es nicht allein. Ihr bescheidener Wohlstand ist ins Wanken geraten. Das macht eng. Und weil die Sorge vor dem nächsten Lebensschritt wächst, spüren sie nicht mehr den weisen Atem dieses Bodens, auf dem sie wohnen.“

Facilius war schlechte Nachrichten leid und klagte: „Nie ist ein kleiner Kauz so weit wie ich geflogen. Meine Kraft neigt sich, aber es ist kein Ankommen in Sicht. Doch die Suche der Eulen muss weiter gehen.“ Mit diesen Worten übermannte den wackeren Flieger ein heilsamer Schlaf. Cuderus und Risuna palaverten leise, und bald wussten sie, dass nun ihr Part gekommen war …

Uhu Oculus

In diesem tiefen Wald wohnte der Uhu Oculus nun schon bald 60 Jahre. Er hatte viele Zeiten kommen und gehen gesehen, und wusste die Zeichen zu deuten. Immer schon spuckte die nahe Großstadt Menschen aus, die Schutz im Wald suchten, um jenseits aller Zwänge zu sein. Und weil Uhus als ewig Gejagte auch das Versteck lieben, respektierte Oculus deren Nähe. Auch Liesas Großmutter gehörte zu jenen Stadtflüchtern. Seit dem Unfalltod der Eltern lebte nun das Enkelkind auf ihrem entlegenen Waldhof. Am liebsten hockte Liesa unter der freistehenden Fichte, einem mächtigen Mutterbaum, der ihr Trost und gute Gedanken spendete, während die Großmutter Figuren aus Holz schnitt. Winzig kleine und mannshohe. Überall auf dem Gehöft standen ihre Skulpturen und erzählten stumm Geschichten über das Wunder des Seins.  Oculus gefiel es, wie Liesa den alten Kräutergarten pflegte. Dabei nannte das Mädchen ihre Pflanzenfreunde: Lebewesen mit Wurzeln. Beifuss, Eisen- und Johanniskraut, Lavendel, Rosmarin – Liesa kannte alle ihre Namen und Wirkungen. Doch besonders hatte es ihr der Salbei angetan. Großmutter hat ihn ihr als ein bedeutsames Kraut der Weisheit und als Schutzpflanze vorgestellt. Mit der magischen Kraft des Salbeis heilte die Frau nicht nur ihren Husten, sondern weihte jede ihrer Holzfiguren mit einem Räucherritual, auf dass sie langlebig Weisheit verströmen.

Oculus wartete schon einige Wochen auf die Ankunft der griechischen Eulenboten. Endlich vernahm er ihr nahendes Gezeter. Cuderus schnaufte: „Hast du diese Gesichter gesehen?“ „Ja, ellenlange – kilometerweit“, hechelte Risuna. „Und diese wirre Hektik – gruselig!“ Cuderus wunderte sich indes: „Aber nur ein paar Flügelschläge hinter diesem Chaos herrscht blanke Stille. Und dieser weit geöffnete Himmel – wunderschön!“ Am Randes des Waldes raunte der Steinkauz: „Irgendwo hier soll der alte Oculus hausen.“ Bald schon hörten sie seinen markanten Ruf. „Uhu, uhu, hierher meine Freunde. Ihr kommt spät!“ Cuderus krächzte: „Wir Südländler leben eben den Moment und nicht nach Fahrplan wie ihr Deutschen! Schließlich mussten wir uns doch erst einmal genau umsehen.“ Er zupfte sich pikiert sein Gefieder glatt und fragte dann skeptisch: „Bist du sicher, dass just in diesem frustigen Land der Hort für das allerletzte Korn der Weisheit gedeiht?“ Der alte Uhu wiegte bedächtig sein Haupt und sprach weitsichtig: „Gerade hier, wo die Menschen mit den Schmerzen des Wandels am meisten hadern, reifen auch die Chancen. Ganz in der Nähe lebt ein kindliches Wesen, in dem keimt eine bessere Zeit. Aber seht selbst.“ Die drei Eulenvögel bezogen sodann einen Beobachtungsposten in den sattgrünen Wipfeln hoch über dem eigenwilligen Anwesen.

Zuweilen durchschritten Besucher den Gleichmut der Waldzeit, um sich im Skulpturengarten der Bildhauerin umzusehen. Liesa beantwortete gerne ihre Fragen: „Warum die Figuren alle Seele heißen? Großmutter meint, alles hat eine Seele, auch Pflanzen. Das hier ist die Baumseele einer verstorbenen Linde. Unseren Vorfahren kannten sie als Baum der Liebe und der Weisheit. Ebenso wie die Fichte als heiliger Baum des Lebens und des Todes ihnen als Weisheitssymbol galt. Die Skulpturen sollen auch daran erinnern und zeigen, wie zerbrechlich Seelen sind. Man muss behutsam mit ihnen umgehen …“ Die herzwarmen Worte des Kindes rührten sowohl die Besucher als auch die drei wachenden Eulen an. Der Uhu hatte zweifelsfrei die richtige Wahl getroffen. Oculus aber war zu alt, um die frohe Kunde an den Ausgangspunkt der großen Suche zu tragen. So entschwebten mit ihr Cuderus und Risuna auf den langen Weg zurück gen Süden …

Der Sommer schaute bereits aus mildwarmen Altweiberaugen dem Flug der Eulen zu. Die Ernte auf den Feldern neigte sich, und die Menschen kamen in Feierlaune. Auch Risuna und Cuderus glitten erleichtert durch die Lüfte. Schließlich war ja der Nährboden für das Korn der Weisheit gefunden. Hinter den Alpen, in einem moorigen Gebirgswald, trafen die Eulenboten die schöne Sumpfohreule Rarita und den Rauhfußkauz Conarius. Die waren gerade beim Nachtkonzert. Der kleine Kauz klang dabei, als spielte jemand melancholisch auf einer Okarina, während Rarita elegant über ihm kreiste und mit den Flügelspitzen auf ihrem Bauch den Takt dazu klatschte. Obwohl die griechischen Gesandten von ihrer Reise fix und fertig waren, mussten sie vor lauter Wonne nach dieser besonderen Herbstmelodie erst einmal tanzen, bevor sie von ihrem Auftrag erzählten. Die zwei munteren Musikanten staunten, wer da Gast ihres kleinen Erntefestes war. „Und ihr wollt jetzt noch weiterfliegen? Können wir euch nicht ablösen?“, fragte Rarita aufgeregt. „Wir wären stolz, Teil der Mission zu sein.“ Conarius plusterte sich dick auf: „Ja, ihr flattert mal ganz entspannt heimwärts und erzählt unterwegs allen Eulenbrüdern und Eulenschwestern von dem kindlichen Wesen im märkischen Wald. Wir werden derweil die wunderbare Neuigkeit dem Hüter des allerletzten Korns der Weisheit überbringen.“ „Kein schlechter Gedanke“, fand die lächelnde Risuna. „Immerhin muss die große Eulenfamilie mit dem Korn aus dem ewigen Eis den Weg bis Deutschland noch einmal zurücklegen. Da ist es hilfreich, wenn alle Eulen ganz genau Bescheid wissen, so dass jede an der Strecke bereitwillig eine Etappe auf sich nimmt. Schließlich sind wir Nachtgestalten nicht wirklich die besten Langstreckenflieger.“

Gesagt, getan. Die griechischen Eulen entschwebten bald in heimatliche Gefilde, während Rarita und Conarius im Tiefflug bis hinunter nach Gibraltar sausten. Auf den Felsen vor der Brandung des Atlantiks hielten sie jedoch inne. Ehrfürchtig schaute Conarius auf die offene See: „Ob wir das bis hinüber nach Amerika schaffen?“ „Bestimmt, kleiner Freund“, ermunterte ihn Rarita. „Die Botschaft muss einfach über den großen Teich. Dort können sie ja die Verwandten weiter bis Feuerland befördern. Denn an diesem fernen Zipfel der neuen Welt hat die Legende von Novatrix ihren Ursprung. Nur einer ihrer Nachfahren kann wissen, wohin genau sie einst aufbrach.“ Doch auch Rarita fürchtete sich natürlich vor dem ungeheuerlichen Wagnis. Sie brauchten also dringend Beistand.

Die Sumpfohreule Rarita und Rauhfußkäuzchen Conarius

„Komm, Conarius, lass uns nach einer Hund-Rose suchen“, flüsterte die Sumpfohreule bedeutungsschwer. „Sie ist seit jeher unser Sinnbild für ewige Weisheit und geheime Lebenskräfte. Sie kann uns vielleicht beschützen.“  Im Morgendämmern standen zwei hoffnungsvolle Vögel auf einer Klippe über der brodelnden See.  Nacheinander warfen sie einen Rosenzweig in die schwarzen Wellen und riefen wie aus einer Stimme den Gott des Meeres an: „Poseidon, lass ein Wunder geschehen und uns dieses Wasser unbeschadet überqueren!“ Von Land her kam urplötzlich ein gewaltiger Sturm auf. Der riss die Eulenboten mit sich und trug sie pfeilschnell dem unendlichen Horizont entgegen. Tagelang segelten sie auf dieser Sturmspitze ohne wirkliche Anstrengung. Nur ihre schönen Federn waren in gar keiner guten Verfassung, als sich der Wind legte und sie an einem nächtlichen Sandstrand landeten …

Der dampfende Dschungel schaute mit unzähligen neugierigen Augen auf die geflügelten Ankömmlinge. Eulen gelten seit jeher in diesem Teil der Welt als Glücksboten und göttliche Wesen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass das Eintreffen von Rarita und Conarius den Regenwald in Aufregung versetzte. „Zwei Eulen sind über das große Wasser zu uns gekommen“, raunten sich die Tiere im Dickicht erwartungsvoll zu. Und die Hoffnung auf eine gute Zeitenwende eilte mit der Nachricht bis zu dem Fuß eines grauen Vulkans, an dem Nuntius, der Kaninchenkauz, wohnte. Den langbeinigen Gesellen überkam sogleich eine unbestimmte Ahnung. Seit Jahren flackerten in den Anden bald hier, bald dort wüste Kämpfe auf. Doch als Zugvogel sah es der Kauz schon ein Weilchen: Die Menschen ersehnen Frieden und beklagen endlich den Mangel an Weisheit. Sollte die Zeit wirklich reif sein?

Kaninchenkauz Nuntius und der Streifenkauz Tutur

Nuntius flog hinunter in den Dschungel, um sich mit dem schwerfälligen, aber sehr weisen Gevatter Tutor zu treffen. Der Streifenkauz blinzelte launig: „Na, du Grasländer! Was treibt dich in die grüne Hölle?“ „Die Legenden, du furchtloser Bleiflügel“, grüßte Nuntius keck zurück. Er spielte darauf an, dass sein Busenfreund im Streifenrock zwar ein begnadeter Jäger war, aber nicht wirklich gleiten und ansteigen konnte.  Um überhaupt zu fliegen, muss diese große Eule wahrlich hart arbeiten. „Kannst du dich aufraffen, mit mir an den Strand zu flattern? Ich würde gern wissen, was die zwei Eulen über den Ozean getrieben hat“, lockte das Käuzchen den großen Kauz. Auch Tutor war sehr gespannt und ließ sich nicht lange bitten.

Rarita und Conarius hatten gerade ihr Gefieder gerichtet, da trafen schon Eulenverwandte aus jedem Winkel des Waldes ein. Sperbereule und Gnomenkauz, auch der winzige Sägekauz – alle waren gekommen und erfuhren nun von der großen Mission der Eulen. Die Runde der einheimischen Vögel seufzte erleichtert. Nuntius hatte also recht und fühlte seine Stunde gekommen: „Lasst mich nach Feuerland aufbrechen, ich kenne den Weg dorthin genau und habe da viele Freunde. Mit ihnen werden wir gewiss die Nachfahren von Novatrix aufspüren.“

Tutor rechnete: „Du wirst mindestens fünf, sechs Wochen unterwegs sein. Das ist gut. Denn, wenn du dort Ende November eintriffst, beginnt die Zeit der langen Nächte, in denen unser Tiertotem stark wird.“ Rarita schaute fragend: „Unser Tiertotem?“ „Ja, die alten Indianer haben nach uns Eulen sogar ein Sternzeichen benannt.  Es entspricht etwa dem Schütze-Zeichen in der alten Welt“, erklärte Tutor und meinte noch: „Es kann doch nicht schaden, wenn auch die Sterne für die Mission günstig stehen.“ Die Eulengemeinschaft benickte einstweilen seine Worte stumm.  Dann aber plauderten sie mit ihren Gästen über alte Mythen. Als „Heilige der Nacht“, Götterboten und Wächterin der Brücke zwischen Himmel und Erde war die Eule einst hier berufen. Währenddessen verging die Nacht. Genährt mit uraltem Stolz, verließen bei Sonnenaufgang die Nachtfalter den Schauplatz, um Nachricht vom gefundenen Hort der Weisheit auf dem ganzen Kontinent zu verkünden. Nuntius verabschiedete sich von seinem behäbigen Freund und segelte allein Richtung Kap Hoorn, um eine gut versteckte Legende auszugraben …

Kaktuskäuzchen Jurando und Elfenkäuzchen Parvula

Irgendwo in den Wolkenwäldern rastete Nuntius. Als er mit dem Dämmerlicht wieder erwachte, fixierten ihn zwei helle Augen: „Schläfst du noch oder tust du nur so?“ Nuntius blinzelte die kleine Gestalt an, aus deren koboldartigem Gesicht wirr abstehende Federhaare wuchsen. „Hast du noch nie ein Kaktuskäuzchen gesehen?“, wisperte das aufgeregte Flatterwesen. Nuntius verneinte. „Kein Kunststück. Es gibt nur wenige von uns Elfenkäuzchen. Ich bin gewissermaßen der Struwwelpeter unter den Eulen. Mein Name ist übrigens Jurando und, wenn ich vorstellen darf: das ist meine zauberhafte Freundin Parvula. Sie ist auch ein Elfenkäuzchen, aber ihre Sippe stellt die kleinsten Eulen auf Erden. Wir werden dich fortan begleiten.“ „Das ist nicht euer Ernst“, wehrte sich Nuntius und rieb sich den Blick scharf. „Ich fliege doch nicht mit Eulenzwergen bis ans Ende der Welt!“ „Bilde dir nicht ein, erfolgreich wären nur die Großen und Starken. Die Kleinen sind zäher!“, gab Jurando weise zurück und ließ keinen Widerspruch mehr gelten. Alsdann flogen sie zu dritt. Bald lag die tropische Landschaft hinter ihnen, sie kämpften sich gegen die kalten Winde der Hochgebirge und schwebten weiter über endlos anmutendes Ödland und moosbedeckte Torfsümpfe.

Im Land des Rauches trafen die Gesandten im Zeichen der Eule rechtzeitig ein. Sie irrten lange durch karge, fast verwaiste Siedlungen, besprachen sich mit euligen Freunden und Anverwandten, aber sie bekamen keine rechte Spur zu fassen.  Ratlos suchten die Eulen nach einem geeigneten Schlafplatz. Vor ihnen lag der letzte Ort auf Feuerland, durch den nur Wind jammerte. Im Gebälk eines maroden Kirchturms wollten sie Quartier nehmen. Doch kaum drinnen, fauchte sie etwas katzenartig an: „Packt euch! Hier ist mein Revier.“ Dem Dunkel entsprang wild und stark Adventus, der aber verdutzt sogleich seinen Angriff stoppte: „Was grinst ihr denn so entgeistert?“ Im lieblichen Dreiklang antwortete es: „Eine Schleiereule!“ „Ja, und?“, herrschte Adventus zurück, was bringt euch darüber so in Verzückung?“ Jurando fasste sich als Erster: „Kennst du Novatrix?“

Schleiereule Adventus

„Wer will das wissen?“, murrte der Hausherr. „Die große Eulenmission,“ zirpte Parvula.  Adventus musterte die staubigen Gestalten. Nuntius spürte seinen Zweifel und erklärte: „Die Zeit für das allerletzte Korn der Weisheit ist reif. Die Eulenwelt hat nach langer Suche einen kindlichen Hort gefunden. Aber wir wissen nicht, wohin genau Novatrix einst aufbrach, um es für eben jene Zeit aufzubewahren.“ Adventus atmete tief: „Solange ich denken kann, hat niemand mehr nach Weisheit gefragt und nach den Opfern dafür erst recht nicht.“ „Kanntest du diese tapfere Eule? Dann musst du uns helfen!“, forderte Nuntius nun eindringlich. „Meine Großmutter hat sich damals geopfert. Ja, ich weiß, in welche Gegend sie wollte, aber keine Eule kehrt zurück aus dem ewigen Eis, und ob sie jemals dort ankam“, sprach Adventus traurig. Die Eulenboten blickten sich erleichtert an, und die sanfte Parvula hauchte: „Eine Eule allein nicht, aber wir vier zusammen, werden es schaffen.“ Adventus blickte ungläubig hinab auf die Handvoll Federn, holte dann aber doch ein dünnes Leinen. Darauf hatte Noxatrix vor Zeiten ihre Reiseroute notiert und sie der Tochter hinterlassen. Jetzt sollte also die Reihe an ihrem Enkel und seinen Gefährten sein, diesen ungewissen Weg auf sich zu nehmen. Vor Kap Hoorn türmten sich gewaltige Wellenberge. Ein Seemann schrie tief unter ihnen von einem schwankenden Schiffsdeck: „Eine Eule fangen!“ Parvula zuckte im Flug zusammen, doch Adventus beschwichtigte sie: „Er meint damit nur: plötzlicher Wind von vorn.“ Sturmgepeitscht öffnete sich vor  ihnen die Pforte zur Antarktis …

Das Eulenquartett hatte Glück, denn der Wind über dem offenen Meer hatte das gleiche Reiseziel.  Um der Kälte zu trotzen, hielten sie sich dicht beieinander, dass es aussah, als flöge da nur ein einziges, großes Wesen.  Uferlos, tage- und nächtelang.  An einem Morgen unter blanken Himmel erreichten sie das weiße Land im ewigen Eis. Gigantische Tafelberge empfingen die Eulen im Silberglanz. Geblendet von der Pracht, kneistete Adventus mit seinen dunklen Augen, die auf die Leinenkarte gerichtet waren: „Wir müssen noch sehr weit. Bis zum Pol der Unzugänglichkeit. Das ist der Punkt der Antarktis, der am weitesten entfernt von der Küste liegt.“ „Unzugänglich – hm, das gilt nur für Laufende, wir fliegen ja“, ermunterte Jurando seine Gefährten. Und wirklich, sie kamen gut voran. Denn während der Frost die nördliche Welt umklammerte und nur die Freude auf das Weihnachtsfest die Dunkelheit erhellte, war es hier gerade Sommer. Dabei nicht wirklich warm, aber erträglich.  Lange waren die Eulen noch unterwegs. Erst am Silvestertag erreichten sie den anvisierten Ort. „Und nun“, fragte Nuntius in die Runde. „Wonach sollen wir suchen? Nach einer Grotte, einem Berg, einer Höhle?“ Sie durchspähten die blendende Weite. „Seht doch, dort, vor dem lichten Bogen über dem See hockt eine Schneeeule“, rief Adventus. „Vielleicht weiß sie Näheres.“

Clarus hatte die exotischen Verwandten längst ausgemacht. Aber der Weise vom Grat wartete geduldig, worauf er sein Leben lang gehofft hatte. Der alte Schatzwächter hatte keine Nachkommen und war deshalb schon sehr in Sorge, wem er am Ende seiner Tage das Geheimnis anvertrauen könnte. Nun nahte seine Erlösung, und ein mildes Lächeln schönte Clarus für diesen Augenblick. Er strahlte derart, dass die Eulengesandten sogleich wussten – wir sind angekommen. Deshalb verneigte sich Adventus vor Clarus förmlich: „Seid gegrüßt, weißer Gevatter!  Wir sind die Eulen, die gekommen sind, den Menschen das allerletzte Korn der Weisheit zurückzugeben. Kann es sein, dass du sein Wächter bist?“ Clarus verneigte sich ebenso würdevoll, und wedelte daraufhin wortlos den schneebedeckten Eistropfen frei. Der funkelte still sein lichtes Lied des Lebens.

Dann fiel alle Last von den Eulen ab. Sie umarmten einander, lachten und tanzten vor Freude. Und die Tiere der Nachbarschaft wunderten sich. Alle kamen, um den Grund der ansteckenden Heiterkeit zu erfahren. Clarus durfte endlich sein Schweigen brechen. So erzählte er von Novatrix, Heri, seiner Schatzwache, und Adventus besprach die große Mission der Eulen.

Darüber neigte sich das Jahr, und ein neues Zeitalter begann. Jeder spürte, es würde ein weises, lebenswertes sein. Noch aber hatten die Eulen ihr Werk nicht zu Ende geführt. Doch es kam, wie vorgenommen. Von Eulenvogel zu Eulenvogel wanderte das Korn durch die halbe Welt seinem neuen Hort entgegen. Dort wohnt es nun in einem kindlichen Wesen und wächst leise und gut beschützt durch die Zeit. Denn in den hohen Baumwipfeln jenes Waldes wachen noch immer die Eulen.

Die Schneeeule und das andere Gefieder zeichnete Petra Elsner

©  Petra Elsner, “Hüter der Weisheit” erschienen 2006 im Messner Verlag als Kalendermärchen – Ringbuch mit der ISBN 3-934309-11-9.
Als handgebundenes Künstlerheft ist es bei mir für 10 Euro zzgl. Versand zu haben.

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1006. Blogbeitrag

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Morgenstunde (78. Blog-Notat)

Handproduktion für die Kurtschlager Editionen – Juli 2018.

Gestern hatte ich begonnen, aus den losen Blättern der letzten Tage ein neues Künstlerheft für meine „Kurtschlager Edition“ zu gestalten. Das „handgeschnitzte“ Layout im Word-Programm ist immer eine Herausforderung, weil auf jedem Blatt die vordersten und die hintersten Teile der Geschichte zusammentreffen. Man muss wirklich konzentriert bei der Sache bleiben, sonst hat man später nur noch ein wirres Text-Durcheinander. Aber, wahrscheinlich weil es nach der Regennacht so ein schöner, kühler Tag war, kam ich damit gut voran. Inzwischen hab‘ ich 26 Bändchen gefaltet, geschnitten und gebunden. Nach „Das kleine Rabenbuch“, „Auf den Gabentisch“, „Ottilies Nachtwanderung“ und „Die Mohnfee und die verschwundene Zeit“, ist es der fünfte kleine Band in der handgefertigten Reihe – ein kleines Sammelobjekt, das Stück für moderate 7 Euro… Die ersten Bestellungen sind eingegangen – schön!
Habt alle miteinander einen frohen Sommertag,
Eure Petra

Die ersten fertigen Exemplare.

 

Mailpost zum handgefertigten Bändchen “Die Hitze unter dem Sonnenhut”:

Meine Liebe, hab gerade Deine kleine Sommergeschichte  „Die Hitze unter dem Sonnenhut“ gelesen und bin so berührt. Du hast es raus, so besonders zu schreiben. Ich bin immer wieder begeistert !!! Weiter so, die Idee solch kleinen Büchleins ist toll und auch Deine dezenten Illustrationen, sehr stimmig. So das musste ich erst einmal schnell loswerden .
Heute ist es kühler und ich kann auch wieder in meiner Werkstatt arbeiten
Liebe Grüße von Petra am See

 

Liebe Petra, da ich leider ein Leser bin, der schlecht warten kann – wenn mir etwas gefällt verschlingen ich die Seiten- habe ich mit dem Lesen der Geschichte gewartet.
Ich bin reich belohnt worden. Vielen Dank für diese schöne Geschichte! Ich habe mit geschwitzt, mich an dem kleinen Gast erfreut und den Geschmack der Nussbissen auf der Zunge gehabt. Schon das es dich und deine Geschichten und zauberhaften Bilder gibt
(und das Sommerlich, welches dir das Schreiben der Geschichte erlaubt hat).
Ich wünsche dir einen schönen Tag. Liebe Grüße, Heide

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