24 Tage im Advent

Das waren sie, die 24 bebilderten Tage im Advent 2023.
Allen Lesern von schorfheidewald.de wünsche ich mit dieser  Weihnachtsgeschichte eine besinnliche und friedliche Weihnacht
und eine stimmungsvolle Festzeit. 

Eure Petra

Das Wunderweiß

Der Wind pfiff um das dunkle Waldhaus. Karl schlug den Kragen hoch und warf sich missmutig den leeren Jutesack über die Schulter. Wie kann man nur am Heiligen Abend schlapp machen, dachte er grummelnd. Der Rentner war lange Jahre Chef der Weihnachtsmannzentrale gewesen und sprang inzwischen nur noch ein, wenn Not am Manne war. Doch das geschah neuerdings regelmäßig. Karl fühlte sich ausgenutzt. Sein Weihnachtsmannkostüm war ihm längst zu eng geworden und kniff unter der Winterjacke. Er stieg in sein Auto und steuerte die Zentrale an, um dort die Geschenke für seine Vertretungstour zu übernehmen.
Am Waldrand winkte ein gebeugter Mann und gab ihm zu verstehen, doch bitte anzuhalten. „Ist was geschehen?“ fragte Karl, als er hielt. „Verzeihung, können Sie mir den Weg nach Hause zeigen? Ich hab ihn leider vergessen.“ „Ach herrje“, antwortete Karl und öffnete die Beifahrertür: „Steigen Sie nur ein, ich bringe Sie.“ Er ahnte, dass der alte Mann aus dem Feierabendheim am Stadtrand kam und ihn die Weihnachtsstimmung in eine längst vergangene Zeit gerufen hatte, deren Spur sich aber im Nichts verlief. Ein Weilchen später hielt Karl vor dem Altenheim und zeigte auf das festlich erleuchtete Portal: „Könnte es hier sein?“. Der Alte nickte froh und ließ sich bis ans Haus begleiten. Als er sich von Karl verabschiedete, drückte er ihm eine winzige Schachtel in die Hand und verschwand im Haus. Der Rentner legte sie auf den Rücksitz und sputete sich, denn er war spät dran. Vor der Zentrale trat der neue Chef von einem Bein aufs andere: „Wo bleibst du denn, Karl?“ Der lud ruhig die Geschenke in den Jutesack, nahm den Adresszettel an sich und fuhr mit einem „Frohe Weihnachten noch!“ vom Hof der Zentrale.
Wo auch immer er an diesem Abend in seinem Weihnachtsmannkostüm erschien, freute man sich auf den Mann mit den Geschenken. Dennoch beschwerten sich auch einige: „Schnee hast du uns wieder nicht gebracht!“ „Der Klimawandel!“, antwortete er stets entschuldigend und dachte bei sich: Mach ich das Wetter? Aber einmal dieses herrliche Wunderweiß in die Heilige Nacht zu bringen, das wäre doch was. Nachdem er den letzten Auftritt hinter sich hatte, stieg er müde in sein Auto und erinnerte sich an die kleine Schachtel des Alten. Er fingerte nach ihr, bekam sie aber nicht zu fassen. Also stieg er noch einmal aus und holte die Schachtel vom Rücksitz. Sie sah ein wenig schmutzig und abgegriffen aus, aber Karl war dennoch neugierig, was sie verbarg. Den ganzen Abend hatte er Geschenke ausgetragen; an ihn hatte leider niemand gedacht.  Oder vielleicht doch? Er hob den Deckel an und fand darunter etwas Weißes, Stoffliches. Es leuchtete ganz magisch, und es sah aus, als würde es atmen. Vorsichtig zupfte Karl daran, und plötzlich entfaltete sich blitzschnell ein wehender Mantel, der in der Nacht hing. Ein weißer Weihnachtsmantel, dachte der Mann verwundert. Er zog ihn an und staunte. Dort, wo er stand, rieselte augenblicklich echter Schnee aus dem Gewand! Helle Freude stieg in Karl auf, der nun in die Nacht schlenderte, um der Stadt das strahlende Wunderweiß zu bringen.

©Petra Elsner

24 Tage im Advent

Der Brezelzwerg war lange Zeit nur als weihnachtliche Textmarke gedacht. Doch heute bekommt er eine kleine Geschichte spendiert:

Die Zauberbrezel

In der Weihnachtsbäckerei hing über der Tür eine große Laugenbrezel in der ein Weihnachtszwerg stand und über das heilige Naschverbot vor dem Fest wachte. Die Versuchung war für alle Gesellen groß. Seit Wochen wuchsen Berge von Plätzchen, Stollen, Pfefferkuchen und Schokoladenherzen durch ihr handwerkliches Geschick. Und ein Duft hing in der der großen Backstube, der tagein, tagaus die Naschversuchung anstiftete. Es war wirklich schwer zu widerstehen. Aber wem das nicht gelang, den warf der Bäckermeister ohne Lohn aus seiner Anstellung. Das wusste der kleine Brezelzwerg. Als wieder einmal ein Nascher ertappt und auf die Straße geworfen wurde, regte sich Mitleid in ihm. Er überlegte, wie er den emsigen Gesellen beistehen könnte. Als die Nacht kam stieg er hinunter in die stille Backstube und rief alle Weihnachtszwerge zusammen: „Lasst uns Zauberbrezeln backen! Sie sollen den Gesellen helfen, das Naschverbot einzuhalten, damit keiner mehr vor dem Fest seinen Job verliert.“ Gesagt, getan. Die Zwerge buken herzhafte Brezeln, die winzig klein und unsichtbar waren und einfach schmolzen, wenn man sie auf die Zunge legte. Mit dem Schmelz war aller Appetit verschwunden. Anderntags sah der Brezelzwerg wie sich einer der Gesellen kaum noch beherrschen konnte. Er sprang ihm bei und drückte ihm eine Zauberbrezel in die Hand. „Leg sie auf die Zunge und dein Heißhunger wird verschwinden.“ Doch der Meister sah die Übergabe. „Zeig her, was hältst du in deiner Hand!“, schrie er und eilte herbei. Der Geselle zögerte, denn er spürte ja, dass er etwas in der Hand verbarg. Schließlich öffnete er sie und staunte ebenso wie der Meister. „Nichts? Willst du mich foppen?“ „Nein, nein, der Zwerg hat mir nur einen Morgengruß in die Hand gegeben,“ flunkerte er erleichtert. Als der Meister sich abkehrte, legte sich der Geselle die Zauberbrezel auf die Zunge und alles war gut. Fortan, brauchte es nur einen bittenden Blick hinauf zum Brezelzwerg, um eine helfende Zauberbrezel zu bekommen.

© Petra Elsner, am 20. Dezember 2023 geschrieben

Creas Funkenspiel

Sie lag im Laub der Zeit. Wie lange wusste sie nicht. Doch jetzt kitzelte Sonnenlicht ihre grünen Haarspitzen – und da war noch etwas. Jemand hatte sie gerufen? Seit Jahren fragte niemand mehr nach Inspirationen, denn es herrschten Einfalt und strenge Gebote. Crea schob ihr wirres Haar aus der Stirn und erhob sich verschlafen aus den Knisterblättern: „Ist da einer, der das furchtlose Denken sucht? Das genüssliche Gedankenspiel, das aus dem Gleichklang ausschert, um Neues zu entdecken? Dann will ich aufstehen und dir zuhören.“ Crea suchte mit stechendem Blick nach dem Rufer, sah aber nichts. Sie wollte sich schon zurück in den Blätterteppich fallen lassen, da trat ein Mädchen mit dünner Stimme aus der Deckung einer dicken Eiche. „Ich suche die singende Lebensschönheit. Es muss sie einst gegeben haben, wo ist sie hin, weißt du das, wilde Crea?“ „Wieso nennst du mich ‚wild‘?“ „Weiß nicht, die Leute sprechen so von dir. Sie sagen noch anderes über dich, was ich mich nicht traue, auszusprechen.“ „Ach so, die Leute, die braven, fügsamen. Sie werden sich niemals aus der festen Umarmung des Gleichmaßes lösen. Nie können sie erleben, was für ein schönes Funkenspiel das ist. Aber ihr habt ja jetzt die Künstlichen, die für euch dichten und singen.“ „Ja, stöhnte das Mädchen, „alles ohne Seele, ohne Mitgefühl und vor allem ohne Überraschung.“ „Oho, da steht ein kluges Mädchen vor mir!“ Crea zwinkerte ihm zu und klopfte sich dabei die letzten Blätter aus dem Kleid. Dann hob sie drehend ihre Hände, und plötzlich tanzten Feuerfunken in der Luft. Das Mädchen staunte, und Crea sprach: „Man kann Inspiration nicht lernen. Es braucht einen berührenden Anstoß, und etwas wird in dir klingen. Was das ist, wirst du spüren, und dem musst du nachgehen, es pflegen, wie eine Zimmerpflanze. Crea drehte sich nun mit ausgestreckten Armen, und aus den Funken wurde ein Feuerkreis und schließlich eine Fontäne, aus der die Funken wie Tropfen zu Boden fielen. Einige trafen das Mädchen, das sich dabei seltsam offen fühlte, als würde es tiefer in die Welt blicken können. Das war der Moment, in dem Creas Spiel erlosch und sie zurück in den Blätterteppich sank. Das Mädchen ging auf einem anderen Weg nach Hause, und auf einmal trug es eine wundersame Idee mit sich.

Niesel im Regenbogenlicht

Er sprang über den Feldweg und blieb ungesehen. Das war der Gestalt aus unzähligen Tröpfchen wichtig. Niesel war ein Wetterkobold, der nur erwachte, wenn es nieselte. Doch Niesel fühlte sich ungeliebt und manchmal gar verachtet. „Es ist Ostern und schon wieder dieser Niesel!“, hörte er die Wanderer murren. Da duckte er sich weg und fühlte sich schlaff und schmutzig. „Fiese Suppe!“, schimpfte ein anderer, und Niesel wurde noch grauer als er ohnehin schon war. Warum die Leute immer so eine schlechte Laune bekamen, wenn er es so fein regnen ließ. Er liebte seinen sanften Sprühregen, der das Leben vorsichtig betupft und streichelt, doch offenbar war der Tröpfchen-Kobold ganz allein mit dieser Freude. Eines Tages ergab es sich, dass durch die Wolkendecke ein Windstoß fuhr und aus dem Grau ein Sonnenstrahl stach, der just den Niesel auf der Wiese traf und all seine Tröpfchen in Regenbogenfarben zum Leuchten brachte. Und wie der da so stand in all diesen Farben, wurde er gesehen, und wirklich jeder bemerkte auf einmal, wie schön der Niesel war. Das geschah nur ein einziges Mal, doch seither wissen jene, die diesen Zauber erlebt hatten; der Niesel kann leuchten, wenn ein Licht auf ihn fällt.

© Petra Elsner

Die Wolkenflüsterer

Die Wolkenflüsterer

Im Dunkel der Zeit, weit hinter den Sternen der Milchstraße, liegt ein Land im Nirgendwo. Es ist ein heller, friedlicher Ort. Hier singen die Stimmen jener, die die Erde verlassen haben, das erlösende Lied. Auf Ewigkeit. Nur die Wolkenflüsterer kennen den Weg dorthin. Das wusste Lilly vom Vater, der ihr auch sagte, wenn sie der Mutter etwas übermitteln wolle, sollte sie es den Wolkenflüsterern erzählen. Sie würden die Nachricht zu ihr tragen. Aber die Wolkenflüsterer schwiegen. Vielleicht war ihre Stimme nicht laut genug, deshalb stieg Lilly hinauf auf das Flachdach des Mietshauses. Es war ein grauer Regentag, man glaubte die Wolken mit der Hand greifen zu können. Da stand sie nun und rief so laut sie konnte: „Wolkenflüsterer! Ich habe eine Nachricht für meine Mutter im Land hinter den Sternen der Milchstraße, sie fehlt mir so. Sie soll nach Hause kommen!“
„Ist nicht das richtige Wetter“, raunte eine Stimme hinter ihrem Rücken. Auf der Sonnenbank des Dachgartens hockte ein alter Mann im Regencape und rauchte Pfeife.
Lilly ging neugierig auf ihn zu: „Wie meinst du das? Es ist doch wolkengrau, soweit der Himmel reicht.“
„Eben. Kein Wolkenzug. Nur in denen verstecken sich die Wolkenflüsterer. Komm wieder, wenn die Haufenwolken bei Schönwetter ziehen.“
„Ach, ich glaube, es gibt sie gar nicht – die Wolkenflüsterer,“ murmelte Lilly und hockte sich neben den alten Mann. „Wolken fliegen doch nicht durchs All ins Land hinter den Sternen der Milchstraße. Sie umkreisen nur unsere Erde.“
Der Mann nickte bedächtig: „Das stimmt schon, aber sie sind ja keine Wolken, sie sind ihnen nur ähnlich, die weißen Wünschesammler. Es ist ihr Flüstern, das durch Raum und Zeit dringt.“
„Meinst du wirklich?“
„Ganz sicher. Nichts geht verloren im Universum, sofern es nicht von Schwarzen Löchern geschluckt wird.“
Lilly schwieg ein Weilchen, dann fragte sie: „Hast du schon mal einen Wolkenflüsterer gesehen?“
„Oh, ja, so einige. Sie wirken zwar bedrohlich, aber sie sind ganz friedliche Giganten. Du musst allerdings wissen, dass sie nur Nachrichten mitnehmen, die auch erfüllt werden können. Das musst du bedenken, kleines Mädchen.“ Mit diesen Worten erhob sich der Mann und verließ den Dachgarten.

Oh, das ist schwer, dachte Lilly: ‚Nachrichten ‚die auch erfüllt werden können‘. Sie wusste ja schon, Verstorbene können nicht zurückkehren. Sie haben ihren Körper wie ein Kleid abgelegt, nur ihre Seele schwingt weiter. ‚Fern von uns oder auch in unseren Herzen‘, hatte der Vater gesagt. Lilly überlegte tagelang, wie sie ihren Wunsch formulieren müsste, damit die Wolkenflüsterer ihn erhören würden. Das war nicht einfach, denn sie musste dafür annehmen, dass die Mutter nicht wiederkehren würde. Doch bei diesem Gedanken musste Lilly weinen. Sie stieg wieder hinauf zum Dachgarten. Das Wetter trug diesmal Sonnenglanz, und weiße Wolkenberge durchkreuzten den blauen Himmel. Die Sonnenbank war leer. Ein leichter, warmer Wind trocknete ihre Tränen. Doch auf einmal hielt Lilly den Atem an: zwischen den Wolkenbergen entdeckte sie einen Wolkenflüsterer. Sie stand auf und winkte ihm: „Hi, du guter Wünschesammler. Bitte trage einen Gruß zu meiner Mutter. Sie wird immer in meinen Herzen bleiben. Aber ich wünschte, ich hätte mehr Lebensmut.“ Der Wolkenflüsterer drehte ganz gemächlich sein weißes, wolkiges Haupt zu ihr und nickte. Als die Sonne schon tief stand, fegte eine jähe Böe einen kleinen Rosenstrauch vor Lillys Füße. Es war so eine schöne rosa Sorte, wie sie die Mutter liebte. Ihr Duft ließ Lilly endlich lächeln. Sie pflanzte ihre Mutterrose in den Dachgarten, und die Blüten schenkten ihr fortan Trost.

© Text & Zeichnung: Petra Elsner
 

Spende? Ja, gerne.
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Der Bessere

Mein kürzestes Märchen:

Der Bessere saß auf einem Thron aus Lorbeerblättern. Er hatte sich hübsch glattrasiert und mit Leuchtfarben bemalt. Er strahlte förmlich selbstverliebt, als er herab auf seine aschfahlen Boten sah. Sie blickten mit müden Augen und borstigen Hängewangen zu ihm auf. Einer aber wagte sich, ein Lorbeerblatt aus dem Tron zu zupfen, womit das ganze Herrschaftsmöbel ins Rutschen kam…

Das Klausur-Ende

Zum Abschluss meiner Winterklausur 2023 entstand auch dieses Jahr ein handgefertigtes Künstlerheft im A5-Format. Die Novelle umfasst 40 Seiten und sucht nach der wenig wahrgenommenen Entwicklungsgeschichte vieler Menschen nach der Wende in Ostdeutschland. Im Westen glaubte man damals, die besondere Spezies der Ostdeutschen würde rasch assimilieren, doch es entstand mit der Zeit eine neue Selbstgewissheit. Auf literarische Weise, nicht als realer Bericht, stöbert die Geschichte einige Gründe auf.

Die handgebundene Novelle „ZEITSCHATTEN oder Die verschwundene Geschichte“ kann in meinem Atelier für 10 € erworben werden, bei Bestellung über Mail (petraelsner@gmx.de) zzgl. Porto.

Das Schneeglöckchenlicht

„Wo die Schneeglöckchen blühen, wohnt das Licht,“ sprach die Mutter ins Winterdunkel der Hütte. Sie war schwermütig, darum bat sie ihr Töchterchen, es möge doch in den Wald gehen und ihr ein paar dieser strahlendweißen Blüten bringen. Das Mädchen schlüpfte in seinen Mantel und stiefelte auf einem verschneiten Weg in den Wald.  Es war Februar und ein klirre-kalter Tag. Hinter dem dunklen Tannenwald öffnete sich ein Auenwald mit Eschen und Erlen. Es gab keinen festen Weg durch die morastige Senke. So stieg und rutschte das Kind über gefallene Bäume, um an einen Schneehang zu gelangen, der heller als die anderen Schneefelder am Horizont leuchtete. Raben kreischten im Wolkengrau. Dem Mädchen war es unheimlich zumute, aber es wollte unbedingt der Mutter diese zarten Glöckchen bringen, die mit so viel Lebensenergie der Winterkälte trotzten. Flocken fielen und überzuckerten das Moor, das nun wie unberührt wirkte. Die Tierspuren verschwanden und langsam auch die Furcht des Kindes. Doch das war voreilig. Umso näher es dem Schneehang kam, desto lauter vernahm es ein bedrohliches Knurren. Und schließlich sah das Mädchen, woher es kam: Wölfe patrouillierten vor dem Hang. Wie sollte sie nur an ihnen unbeschadet vorbeigelangen? Für einen Moment stand das Kind wie angefroren, als eine Schleiereule über ihr schwebte und rief: „Was wagst du dich an diesen gefährlichen Ort? Die Wölfe werden dich zerreißen, wenn du weitergehst. Sie sind die Wächter der zarten Schönheit und lassen niemanden zum Schneeglöckchenlicht. Würden sie es nicht beschützen, es wäre längst geplündert.“
Das Mädchen war vollkommen ratlos. Das sah die Eule und landete vor dem Kind. Es erzählte vom Wunsch der kranken Mutter und die Eule befand: „Ja, wenn das so ist, dann halte dich an meinen Schwingen fest, ich kann dich lautlos über die Wölfe tragen.“ Sie schwebten unbemerkt wie ein Hauch. Als die Eule das Kind am Schneehang absetzte, waren beide verzaubert von dem herrlichen Leuchten. Tausende Blütenköpfchen streckten sich aus dem Schnee und verströmten einen milden Honigduft. Als das Kind ganz verzückt eine Blüte pflücken wollte, trat ihm eine strenge Glöcknerin entgegen: „Tu‘ das nicht! Du nimmst dem Schneeglöckchen das Leben!“  „Oh, das will ich auf gar keinen Fall“, sprach das Mädchen erschrocken, „aber wie soll ich sonst meiner schwermütigen Mutter das Schneeglöckchenlicht bringen?“ „Mit der ganzen Pflanze,“ antwortete die Glöcknerin und gab ihr drei Glöckchen mit bewurzelter Zwiebel. „So kannst du sie ihr bringen. Suche eine feuchte, fruchtbare Stelle in eurem Garten und pflanze sie dort ein. Sie werden sich vermehren und euch Jahr für Jahr das Schneeglöckchenlicht schenken, das den Trübsinn vertreibt.“

© Petra Elsner, 2. Klausur-Text, 2. Februar 2023, Lichtmess

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KLAUSUR 2023

Das 1. Klausurstück:

Die verlorene Geschichte

Der Traum war greifbar. Elias Kühn wälzte sich verstört durch seine Bettlandschaft. Er war sich ganz gewiss, dass diese Geschichte, die eben noch seinen Traum berührte, irgendwo vergessen auf seinem Schreibtisch lag. Eine abgelegte Geschichte. Aber warum? Noch war ihm so, als müsste er nur tief genug in dem Stapel loser Blätter kramen, dann würde er sie wiederfinden. Worum ging es doch gleich? Der Traum hatte ihn mit einer Zeile verlassen, einer Zeile, die diese Geschichte vervollständigen würde. Aber sie war flüchtig, und der Zettel für Nachtgedanken auf dem Tisch neben dem Bett war leer. Das gibt es doch nicht, so eine wunderbare Zeile war das. Er spürte sie noch, aber wie lautete sie doch gleich? Ähm, er raufte sich die Haare und grübelte: irgendwas mit VERÄNDERUNG. Oh je, dachte Elias Kühn, VERÄNDERUNG konnte so vieles bedeuten. Wo anfangen, wo aufhören? In seinen 60 Lebensjahren hatte sich andauernd etwas verändert, und meistens war dieser Wandel nicht Verbesserung, sondern meist nur schriller, lauter, greller. Er kam aus der grauen Zeit, und heute spürte er, es waren seine goldenen Jahre. Ob seine Geschichte in jenen Tagen spielte? Doch wo war sie? Er schlurfte zu seinem großen Schreibtisch, der seit Einzug des Computers nur noch als Ablage diente, so gewaltig, dass sie mit dem Turmbau zu Babel durchaus mithalten konnte. Davor stand er nun und wuchtete die Stapel umgedreht vom Tisch auf den Fußboden und nahm mit dem ältesten das erste Blatt und las:

2. Januar 1979. Meine Goldfische sind erfroren. Alle. Auch die Guppys. Mutter hat das Aquarium vor die Haustür getragen und umgedreht, da rutschte der Inhalt als Eisblock in den Schnee. Sah schön aus, ist aber traurig. Als wir aus den Bergen zurückkehrten, waren die Wasserleitungen zugefroren und das Klo geborsten. Vor unserer Haustür lag eine mannshohe Schneewehe. Mutter und ich schippten mit knurrendem Magen, denn wir hatten eine 16stündige, verpflegungslose Heimfahrt hinter uns. Es dauerte, bis das Holzfeuer im Küchenofen den Raum erwärmte und Mutter eine Schneewasserbrühe mit eingeschlagenem Ei kochte, die besänftigte das Knurren…

Elias Kühn schmunzelte in seinen Graubart, er hatte schon als Junge alles und jedes aufgeschrieben und dabei gelernt, die Worte zu setzen. Und ja, das war der verrückteste Winter, den er jemals erlebte. Die Küstenorte waren wochenlang eingeschneit, es gab Tote, und in der Kohle liefen die Bagger heiß. Aber das war nicht die gesuchte Geschichte, und deshalb legte er das Stapelblatt zurück auf den großen Schreibtisch, um nach dem zweiten Blatt zu greifen.

Ein flammendes Liebesgedicht. Liebeshunger sprang aus diesen Zeilen. Ein wildes Beben. Ach herrje, dachte der Mann; der Herzschmerz eines Pubertiers. Fast war es ihm peinlich, dieses Gefühlschaos zu überfliegen. Aber dann fand er, weiter unten, diese kleine Geschichte.

Die roten Schuhe

Sie konnte Stiefeltrinken. Halleluja! Besser als die gesamte Fußball-Clique, die in der Kneipe „Zur Mühle“ immer samstags abfeierte, während im großen Saal die Disko aufheizte. Annelie stolzierte in ihren knallroten Clocks an der Tresenriege vorbei und rief dem Kneiper zu „Durst! Ein Potsdamer, bitte!“. Sie schwang sich in ihren hautengen Jeans auf einen Barhocker und warf ihr hüftlanges Weißhaar über die Schulter. Alle Augen berührten die Schöne. „Du kannst auch beim Stiefelsaufen mitmachen“, lud sie Eberhard, der Trainer ein, aber der erntete nur einen verächtlichen Augenaufschlag. Annelie war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst, doch nie und nimmer würde sie sich mit einem Fußballer abgeben. Sie trank zügig ihr Bier-Fanta-Gemisch und wollte schon wieder zum Tanzen zurück, als sie der lange Jan anstachelte: „Du traust dich bloß nicht, Zuckerpuppe!“ Da hatte er was gesagt! Sie griff demonstrativ nach dem fast leeren Stiefel. Jan stellte noch klar: „Schwappt das Bier aus dem Schaft, zahlste die nächste Runde, und der Letzte vor dem Leertrinker muss einen Schnaps auf Ex schlucken. Alles klar?“ Annelie nickte und setzte die Neige an. Geschickt drehte sie das Bierglas ganz gleichmäßig und hielt so den Unterdruck im Fußbereich des Glases. Aber der Schluck war zu groß, sie musste absetzen und dass bedeutete: doppelter Wodka. Wie viele es wurden hatte schlussendlich nur der Wirt gezählt. Irgendwann waren alle entschwunden in die Sonnabendnacht. Ich schaffte es nur bis in den nächsten frisch gemähten Straßengraben. Als ich dort Sonntag früh erwachte schlich ich leichenblass nach Hause. Vor der Kirche standen zwei rote Schuhe. Ihre Schuhe! Fein säuberlich, wie vor ein Bett gestellt. Hier wird sie doch keiner klauen, dachte sich die betrunkene Schöne als letztes, und dann rannte sie barfuß heimwärts durch die Nacht. Der stille Verehrer trug sie ihr stillschweigend hinterher und stellte die Schuhe unbemerkt vor die Tür.

Ach, jung sein ist schwer – und so ungewiss. Wie schön wir waren, sahen wir erst später, auf den alten Fotos. Um nichts in der Welt wollte Elias Kühn noch einmal jung sein, und heutzutage schien ihm das noch weniger erstrebenswert. Dieser altkluge und genormte Moralismus, den die Jungen kompromisslos flaggen, für ihn unerträglich. Und die paar Schrillen daneben konnte er nicht ernstnehmen. Immer im Daueralarm, als würde ihnen gleich das letzte Stündchen schlagen. Was ist los mit dieser Zeit? Ausgeplündert, geheimnislos, am Ende aller Ziele? Bestimmt nicht. Er wünschte sich, die jugendliche Empörung würde sich in gestaltende Energie verwandeln, aber sie mündet immer nur im Nebel des Vergessens und dekadenter Langeweile.

Seine Gedanken wurden plötzlich schwer. Wie jäh auf wilde Aufbrüche entwürdigende Niedergänge folgen und die Protagonisten nur noch zu Zeitschatten werden. Kaum ein Blinzeln der Zeit dazwischen. Der Mann atmete tief. Auf das dunkelglänzende Holz seines Schreibtisches fiel spärliches Licht. Vorzeiten war das die Stunde der Großmuttergespräche in den Schulferien. Beschützt vom Dämmerlicht waren all seine kindlichen Fragen möglich. Kein Augenkontakt. Die Stille des Raums hörte ihn sagen: „Oma, gibt es einen Gott?“ und sie: „Ich weiß es nicht.“ Die Antwort der Kirchgängerin verblüffte ihn, und seither ahnte er, die Dämmerung ist das Portal zu den großen Rätseln und wundersamen Geschichten. Doch diese frühen Episoden von den welken Stapeln waren es nicht, nach denen er suchte, sie hatten es in keines seiner Bücher geschafft, er behielt sie nur aus Sentimentalität. Elias Kühn überlegte kurz, ob er sie nun endlich entsorgen sollte, doch dann wuchtete er die Stapel zurück auf das alte Möbel und entschloss sich in eine Wirtschaft zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Loslassen, sonst kreiselst du nur, sagte er sich, während er den Kragen hochschlug und in die Winterkälte trat.

Als er die Tür zum „Blauen Licht“ öffnete, schien die Wirtschaft dahinter zu dampfen. Der Abend war noch jung, aber die erste Gästerunde schien schon gut abgefüllt und tönte laut. Die Mädchenschicht, die hier am frühen Abend bediente, meist Studentinnen, kassierte höflich ab. Während die Belegschaft wechselte, torkelten die angetrunkenen Pärchen, die gleich nach ihrem Wochenendeinkauf mitsamt ihren Tüten hier hängen geblieben waren, nach Hause. Ihnen folgten Stunde um Stunde andere Falter nach. Jetzt hatten die Einzelgänger ihren leisen Auftritt, die gehen würden, wenn die Kino- und Theatergänger und die Freiberufler kamen. Ihnen folgten zur Mitternacht die harten Trinker und die Kiffer. Schichten, die sich nie begegneten oder nur streiften, obwohl sie ein- und dieselbe Kneipe besuchten. Elias Kühn kannte sie alle, denn er betrieb hier gerne beim Schoppen Roten seine Milieustudien. Aber heute suchte er einfach einen zum Reden. Er stand noch neben der Tür, bis sich die Szene entleerte und nur einen Menschen zurückließ, und eben der war der Richtige. Der Traumwanderer. Wolf starrte in den Schaum seines frischgezapften Bieres, als wollte er darin etwas Geheimes lesen, eine Botschaft oder was auch immer. Als er aufsah und Elias entdeckte, klarte sein Blick auf und er winkte ihn zu sich. „N‘abend.“  „Lange nicht gesehen“, begrüßtes ihn Elias Kühn und nahm ihm gegenüber Platz. „Wo hast du gesteckt? Hattest du den Schlüssel in deinem Bücherkabuff verlegt?“ Für Elias war der belesene Mann eine unermessliche Quelle zu seltenen Bücherschätzen, die er hortete, kaum dass er unter ihnen noch einen Lebensplatz fand. Wolfs müde Augen begannen hinter seiner Nickelbrille zu leuchten: „Nein. Ich hatte in Sachsen-Anhalt eine Orgel zu reparieren. Das war…“ Er wurde von der Wirtin Frau Graf unterbrochen. „Schoppen Roten?“ Sie blinzelte Elias Kühn dazu an, wie sie alle Männer anzwinkerte, die in ihr Beuteschema passten. Elias wusste, er würde irgendwann darauf zurückkommen, wenn er in Not wäre, heute nicht. Er bestätigte den Schoppen nur mit einem Nicken und sah wieder zu Wolf: „Hast du schon mal eine Geschichte verloren? Weiß du, ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich diese Geschichte überhaut geschrieben oder nur geträumt habe.“
„Worum ging es darin?“ „Ich habe keinen Schimmer mehr.“ Wolf wippte seinen Zopfkopf, wie immer, wenn ihm eine bedenkliche Situation vertraut war, und sagte dann: „Ja, ja – die Wahr-Träume sind wie Kobolde. Es gibt da in Mannheim einen Schlafexperten, der meint: Wenn wir träumen, denken wir, dass wir wach sind und man müsse deshalb die Realität checken. Genauer gesagt: den Inhalt abklopfen.“ „Na fein“, murmelte Elias, „der ist vollkommen flüchtig, aber es ging um irgendeine Veränderung, glaube ich.“ Selbst darin war sich der Mann nicht sicher. „Mann, bist du nicht alt genug, um einfach darauf zu verzichten?“ „Es geht nicht,“ antwortete der graue Schreiber, „diese verschwundene Geschichte blockiert mich. Sie ist wie eine Warnung: Schau genau hin, diese Veränderung könnte dir gefährlich werden. Etwas in der Art.“ Wolf murmelte: „Steckt nicht in jeder Veränderung so eine Warnung, eine unbestimmte Furcht, aber doch auch der beflügelnde Mut des Aufbruchs? Sie bedingen einander, fließen zueinander, miteinander…“ „Schon, schon, aber, was bleibt am Ende wie auch am Anfang? Ein Verlust. Er gehört zum Wandel, wie der Tag zur Nacht. Weißt du noch, wozu wir 1989 aufgebrochen waren, wir Träumer, und was daraus wurde? Kein neues Land, nur ein größeres, mit Heerscharen von enterbten Kostgängern. Sowas brennt sich tief ein. Mir ist manchmal so, als hörte ich seither wirklich das Gras wachsen im politischen Stimmengewirr, als sehe ich vom Rand aus haarscharf ins Zentrum der Kampfzone. Weißt du was ich meine?“ Der Zopfmann blickte nickend in sein leeres Glas und nuschelte: „Menschlicher Seismograph.“ Er bestellte bei Frau Graf die nächste Getränkerunde, während Elias weitersprach: „Hm, ein Gespür für das atmosphärische Bioklima. Es geht um Teilhabe, Lebensglück, Akzeptanz, Stolz, Wohlbefinden…, es ist, als würde nach solchen gesellschaftlichen Beben der Spürsinn der Gescheiterten messerscharf. Eine Art Selbstbewahrung, die allerdings unbeweglich macht. Wenn man das Haus eines Mannes ausplündert, muss man sich nicht wundern, dass der die Schotten dicht macht.“ Die Männer tranken schweigend, und plötzlich wusste Elias Kühn, es gab diese verlorene Geschichte nicht als spezielle, einzelne Geschichte. All diese verstaubten Blätter auf seinem Schreibtisch und in seinem Herzen enthielten sie, seine verloren geglaubte Geschichte.                                                         

© Petra Elsner, 31. Januar 2023

Der wilde Garten (5)

Öffentliches Arbeiten an einer Geschichte (der Schluss):

… Wochen später erwachte Lenes Wunschgarten und die beiden Schläfer im Heu auch. Die zarten Krokusse sahen für den kleinen Blattträger und Flederlene mächtig wie bunte Bäume aus. Längst hatte die Verwandelte begriffen, nicht jede Wunschvorstellung lebt sich gut. Ja, das Fliegen war wundervoll, aber ansonsten war das Dasein sehr beschwerlich. Sie wollte lieber wieder ein Mensch sein und wie sie das bei sich dachte, wurde es wahr. Frau Lene verlor ihre roten Fledermausflügel und wuchs zu ihrer einstigen Gestalt und war fortan etwas vorsichtiger mit ihren Wunschträumen, denn sie wusste ja inzwischen, in diesem wilden Garten konnte alles wahr werden. Als das Maigrün sich entfaltete, sang dort das Leben sein schönstes Lied. Frau Lene sah, auch wenn sie wegen ihres Alters nicht mehr alle Winkel aufräumen konnte, dort, wo sie den Garten sich ihm selbst überließ, lebte die Natur besonders auf und der kleine grüne Blattträger bekam Gesellschaft: Rote Blattträger und weiße. Sie lebten in den Blätterteppichen unter den hohen Büschen und manchmal sprach Frau Lene mit ihnen und mit dem Dachs auch.

***

Und hier noch einmal die ganze Geschichte:

Der wilde Garten

Die Stille wisperte verschlafen und es war ihr, als würde dort jemand auf sie warten. An diesem dunklen Morgen entschied sich Lene, die reale Welt zu verlassen. Sie stieg aus der Rüstung und lief leichtfüßig, nur mit einem blauen Seidenhemd bekleidet, hinaus in den wilden Garten. Vorbei an den Holunderbüschen und den Kopfweiden. Aus den Kräuselblättern winkten ihr seltsame Wesen zu. Kleine fledermausartige Gestalten, bunt wie der Herbst. Auf der Mooswiese nah am Wald musste sie verschnaufen. Das Moos leuchtete samtig und der mächtige Haselnussstrauch wedelte mit seinem goldenen Laub. Es war weit im Oktober und doch noch sommerlich warm, aber wie lange noch? Sie wollte es nicht weiter bedenken, aber wie sie da so stand, fragte sie das Rotkelchen. „Wohin willst du so leicht bekleidet, Frau Lene? Der Nordwind wird doch bald eintreffen.“
Lene trat näher an den Vogel heran und streichelte sanft sein Gefieder: „Ach, ich bin so müde vom schweren Tragen.“
Das Rotkelchen zupfte sich drei Flaumfedern und sprach: „Schau, sie sind ganz leicht, aber sie werden dich wärmen, wenn es nötig wird.“ Lene dankte und ging weiter. Aus dem Unterholz knurrte es und Lene dachte, ach, Herr Dachs, gib nicht so an, aus dir wird nie ein Bär. Sie lächelte still in sich hinein als plötzlich eine eisige Böe durch das Gartenland jagte und alles schwärzte, was eben noch grün war. Lene schlotterte in ihrem dünnen Hemd. Schnell drückte sie die drei Flaumfedern fest an ihr Herz und schlagartig vermehrten sie sich und wuchsen zu einem dichten Federkleid. Jetzt konnte sie gehen, wohin sie wollte. Vom Fuß der Efeuhecke her hörte sie ein müdes Gähnen. Lene bückte sich und sah einen dicken Troll, der sich unter einem Moosbatzen zur Ruhe legte. Gleich daneben, kroch ein Igel in einen Blätterhaufen. Ein paar Elfchen flirrten noch im Strauchwerk, aber all die Kröten, Schlangen und die Regenwürmer krochen jetzt unter dem Steinhaufen tief in die Erde. Mit der nächsten Böe fegten die braunen Kräuselblätter vorbei, darin juchzten die bunten Flederwesen und riefen: „Komm mit, wir kennen einen Unterschlupf!“ Aber sie waren viel zu schnell, Frau Lene konnte ihnen nicht folgen. Fliegen müsste man können, dachte sie. Aber was war das? Ihr Hals, die Schultern, Arme, ihr ganzer Körper begannen zu jucken. Es war, als wollte etwas aus ihrer heraus und plötzlich begann sie zu wachsen und zu schrumpfen zugleich. Große, rote Flederarme wuchsen ihr, während ihre Gestalt klein wie ein Vogel wurde. Wie konnte das sein, wurde wahr, was sie gerade dachte? Ungeheuerlich. Aber als sie die Flügel hob, segelte sie mit dem nächsten Luftzug in die Höhe. Eine taumelnde Freude trug die Flederlene hoch in die dicken Schneewolken.

Es war kalt, unsagbar kalt. Leichter Schneefall setzte ein. Mit ihm sank sie taumelnd abwärts. Hunderte Augen sahen dem Trudeln zu. Sie hatten die Flederlene erwartet, die Grastrolle, die Moosmännchen, die Erdgnome, die Elfchen, das Nebelpferdchen und die Walddrachen – die ganze kleine Gesellschaft des Unterholzes. Kaum, dass sie sich noch bewegen konnte, landete sie steif und sah etwas Grünes auf sich zukommen.
„Darf ich bitten, Flederlene, komm näher, hier ist es trocken,“ wisperte der kleine Blattträger und reichte ihr mit einer sanften Geste die Hand. Sie hatte keine Kraft nachzufragen, woher und wohin. Vorsichtig und mit eingeschlagenen Flügeln trat sie schlotternd zu der grünen Gestalt und folgte ihr unter dem Blattschirm an den Rand einer gewaltigen Rinne, die ins Erdinnere führte.

„Unten ist es warm,“ meinte der kleine Blattträger und rutschte abwärts, sie folgte ihm vorsichtig in den tiefen, dunklen Schlund. Auf eine Ebene angekommen, rumste es plötzlich sehr gewaltig und eine riesige Gestalt stampfte um die Ecke: „Ah, Flederlene! Aus mir wird also nie ein Bär, ha, aber ein mächtiger König der Unterwelt, wie du siehst. Und hier bist du unerwünscht!“ Seine dunklen Augen funkelten und seine goldene Krone leuchtete. Der Dachs genoss den Augenblick seiner Macht, dann trat er mit seiner schweren Pfote so hart auf, dass der Boden in der Dachsburg brach. Unter lautem Getöse stürzten der kleine Grünling und das Flatterwesen mit dem Erdrutsch in einen tiefen, lichtlosen Abgrund. Es roch modrig als der Staub sich legte. Er hustete, sie schluchzte. Dann schwiegen beide starr vor Erschütterung. Lange. Nur die Stille hauchte Besänftigung. Als sie sich endlich rappelten, suchten sie tastend nach dem Ausgang aus der finsteren Erdkammer. Doch es gab keinen, sie saßen fest. Der kleine Blattträger legte sich schließlich erschöpft auf den Boden und bedeckte sich mit seinem großen Blatt: „Leg dich zu mir Flederlene. Wenigstens ist es warm, lass uns durch den Winter dämmern und auf das große Erwachen hoffen.“ Und so geschah es…

Ein Tropfenton, kaum hörbar und zerbrechlich, war das Erste, dass in die Kammer drang. Lene schlug die Augen auf und dachte: Ich lebe. Aber was hat mich nur geritten, mein Abenteuer im Winter zu beginnen? Vollständige Dunkelheit umgab sie und sie fühlte sich schwach wie ein Hauch, als es plötzlich überall raschelte, bröselte, scharrte, schlängelte, kroch. Alles, was der Boden vor Frost und Winterkälte schützte, erwachte von diesem Ton und strebte auf zum Licht. Das große Tauen begann und drängte zur Eile, denn in der Erdkammer sammelte sich das Wasser und stieg stetig an. Der kleine Blattträger spürte Lenes Aufregung und murmelte: „Keine Angst. Das Aufsteigen der Tiere ist unsere Chance hier rauszukommen. Hörst du die Regenwürmer husten?“ Flederlene spürte jetzt, wie sich der Boden neben ihren Füßen wölbte. Ein Maulwurf entstieg dem Erdhügel, streckte sich und grub hastig seine Röhre durch die Kammerdecke weiter. „Schnell, wir klettern ihm nach“, flüsterte der Grünling und rollte sein Blatt zusammen. Es war beschwerlich unter den Kieselschlägen dem Maulwurf zu folgen und es dauerte, bis sie die Oberfläche erreichten. Aber sie schafften es. Doch was war das? Als sie dem verschütteten Teil der Dachsburg entkommen waren, ging der Regen in Schneefall über und in der Dämmerung zog der Frost wieder an. „Fehlstart!“ riefen die atemlosen Wiesenwürmer und kehrten schimpfend wieder um. „Scheiß Klimawandel!“ maulte der Maulwurf und verschwand unter der Erde.
Schlotternd standen die beiden beim alten Haselnussbusch und Flederlene sah, der Strauch begann gerade zu blühen. „Ach, kleiner Blattträger, es ist erst Februar, der Winter wärt noch. Es war nur eine Warmfront, die uns den Frühling vorgaukelte. Lass uns ein trockenes Plätzchen im Scheunenheu suchen.“ Auf dem Weg dorthin, sah sie, wie viel die Gärtnerin vor dem Winter nicht geschafft hatte. Überall lagen dicke Blätterteppiche und die Weiden waren nicht beschnitten. „Der Garten sieht wild aus“, murmelte sie. Der kleine Blattträger hatte sie dennoch gehört und antwortete: „Gut so, das gibt ihm neue Kraft. Sorge dich nicht, es geht ihm und seinen Bewohnern bald viel besser, du wirst sehen.“

Wochen später erwachte Lenes Wunschgarten und die beiden Schläfer im Heu auch. Die zarten Krokusse sahen für den kleinen Blattträger und Flederlene mächtig wie bunte Bäume aus. Längst hatte die Verwandelte begriffen, nicht jede Wunschvorstellung lebt sich gut. Ja, das Fliegen war wundervoll, aber ansonsten war das Dasein sehr beschwerlich. Sie wollte lieber wieder ein Mensch sein und wie sie das bei sich dachte, wurde es wahr. Frau Lene verlor ihre roten Fledermausflügel und wuchs zu ihrer einstigen Gestalt und war fortan etwas vorsichtiger mit ihren Wunschträumen, denn sie wusste ja inzwischen, in diesem wilden Garten konnte alles wahr werden. Als das Maigrün sich entfaltete, sang dort das Leben sein schönstes Lied. Frau Lene sah, auch wenn sie wegen ihres Alters nicht mehr alle Winkel aufräumen konnte, dort, wo sie den Garten sich ihm selbst überließ, lebte die Natur besonders auf und der kleine grüne Blattträger bekam Gesellschaft: Rote Blattträger und weiße. Sie lebten in den Blätterteppichen unter den hohen Büschen und manchmal sprach Frau Lene mit ihnen und mit dem Dachs auch.              
© Text/Illus: Petra Elsner

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