Eine Buchbesprechung

KAIROS von Jenny Erpenbeck

War es Glück, dass sich ihre Blicke im Bus berührten, oder stolperten Katharina und Hans am 11. Juli 1986 geradewegs in eine Tragödie? Sie ist Lehrling und 19 Jahre alt, er ist Schriftsteller und Ende 50. Verheiratet und eine Geliebte hat er, aber das interessiert Katharina noch nicht, sie verliert sich in ihrer Liebe zu Hans und er verliert sich in seiner Liebe zu Katharina. Wir schreiben die bleierne Zeit in der DDR. Man hat viel Zeit füreinander, sehr viel Zeit für Musik und Theater, für kultivierte Gespräche mit reichlich geistigen Getränken. Aber Hans ahnt, das wird nicht ewig halten und er würde auch nie seinen gutbürgerlichen Ehestand verlassen. Aber die Lustbarkeiten eines Geheimnisses hat immer zwei Seiten: Licht und Schatten. Bei einem Praktikum in einer anderen Stadt wird Katharina von Hans überraschend verlassen. Er kommt nach Frankfurt an der Oder nur zu ihr, um ihr das in den zehn Rangierminuten der Lok zu offenbaren. Danach fährt er mit dem gleichen Zug zurück nach Berlin. Sie heult sich auf dem Bahnhofsklo die Augen aus. In ihrem Weltenschmerz wird es diese eine Nacht mit einem anderen Mann geben. Doch  Hans entschuldigt sich und nimmt die grundlose Trennung zurück. Nur das Schlachtfeld ist schon angerichtet und die Obsessionen beginnen. Das Paar steckt bald im schlecht bewohnbaren Unglück. Hans verlangt ein vollständiges Überein, doch das kann es nicht geben. Er malträtiert die junge Frau regelrecht mit Worten und schlägt mit seinem Gürtel zu. Da möchte man als Leser durchaus austeigen, aber die Autorin zieht einen tief hinein in diese sonderbare Liebesgeschichte, die das Zeitgeschehen zugleich mit messerscharfen Konturen skizziert. Hier nimmt die Handlung dramatische Fahrt auf, als der Spielboden des Landes auseinanderfällt. Am Ende sind alle nur noch frei…
Jenny Erpenbeck zieht ungewöhnlich klar, oft nur mit wenigen Sätzen komplexe Erinnerungen aus dem Schlamm der Geschichte. Besonders dafür kann man ihr wirklich dankbar sein. (pe)

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