Eine Ostergeschichte:
Der alte Winter war mit einem Sack voll Schnee zum Stadtpark unterwegs. Er schnaufte schwer an seiner feucht-kalten Last, als er sich entschloss, lieber den Nachtbus zu nehmen. Er musste unbedingt mit diesem Schneesack dorthin, denn so einfach abzutreten, war nicht seine Art. Bevor er das Jahr verließ, wollte er dort dem frisch aufgestapelten Osterholz eine weiße Krone aufsetzen, damit sein Feuer nicht die letzte Winternacht erleuchten und deren Schattenwesen verjagen kann.
Im Unterholz jenes Stapels hockte der kleine Hase Felix und wartete auf das österliche Ereignis, während seine Eltern bunte Eier versteckten. Plötzlich zitterte die Erde. Felix stellte die Lauscher auf – wirklich, da stapfte jemand heran. Immer lauter dröhnten die Schritte, Felix duckte sich, dann rutschte und patschte es schwer über dem Hasen, der augenblicklich in einem Schneeberg versank. Es war ein mächtiger Haufen, der den ganzen Holzstoß lawinengleich versteckte. Mit einem bösen Lachen trollte sich der Winter.
Als die Menschen sich nachts aufmachten, ihr Osterfeuer anzufachen, staunten sie nicht schlecht, dass es just nur im Stadtpark geschneit hatte. Schnell war klar, der große Holzstapel würde sich vor Nässe nicht entzünden lassen. Und was war da für ein herzzerreißendes Wimmern darin? Ein Winterspuk? Doch niemand wollte sich in dieser Nacht die Freude am Frühlingserwachen nehmen lassen. Kurzerhand holte ein jeder trockenes Brennholz herbei, und bald loderten ringsherum unzählige kleine Osterfeuer. Die Nacht duftete mild, die Erde atmete einen Hauch von Grün, eine Amsel sang und der Feuerschein fuhr feierlich in die Herzen. Langsam taute auch der Schneeberg, dem ein kleines Häschen entsprang, und die Kinder begannen erheitert ein vorzeitiges Ostereiersuchen. Doch die waren richtig gut verborgen, und nur im Lichte des Ostersonntages zu entdecken.
In den Bäumen schwiegen die Vögel, und der Wald färbte sich tiefschwarz, als entlang des großen Zaunes ein Reiter seinem Pferd die Sporen gab. Er kam vom Fluss im Osten und wollte längst an der westlichen Waldkante sein, denn er fürchtete sich vor dem Beutezug der Wölfe. „Hoh, hoh“, trieb er seinen müden Gaul an. Schnee stiebte auf, und verholzte Zweige brachen darin und scheuchten einen Wolf aus seiner Deckung. Der Einzelgänger sprang über den Pfad, das Pferd scheute, und der Zaunreiter fiel. Als der Mann wieder zu sich kam, fühlte er ein warmes Fell an seinem Bauch und einen flachen Atem. Entsetzt erkannte er den Wolf, dessen Blut sich mit seinem im Schnee mischte. Das Herz des Mannes trieb die Angst an, doch der Wolf schaute nur mit unscharfem Blick auf, dann leckte er die Wunde des Reiters. Lange lagen sie so schweigend unter den Sternen und wärmten einander. Auf einmal fragte der Wolf mit dünner Stimme: „Warum wachst du über diesen mächtigen Zaun?“ „Damit das Wild nicht auf die Äcker des Nachbarfürsten springt.“ „Verstehe, wir sollen nur deinem Fürsten in die Lappen, Netze und Fallen gehen“, raunte das Tier. „All die Hirsche, Rehe, Auerochsen, Elche, Wisente, Bären, Schwarzkittel, Luchse und wir Wölfe sollen diesem einen Fürsten gehören? Auch die Otter, Biber, Kraniche, Reiher und die Adler hoch in den Lüften über den Luchen und Mooren?“ Der Mann nickte nur stumm und dachte, es sind immer die mächtigsten Fürsten, die den großen Wald des Wanderlandes beanspruchen. Er hatte sich etwas gesammelt und riss nun aus seinem Hemd zwei Streifen. Damit verband er den blutenden Lauf des Wolfes und seine eigene Schulterwunde. Er wusste, hätte sich der Wolf nicht zu ihm gelegt, wäre er längt erfroren. Und doch konnte er kaum glauben, was ihm widerfahren war. „Fürchtest du dich noch?“, fragte der Wolf. Der Mann schüttelte verlegen seinen Kopf. „Warum auch, ich jage keine Menschen, aber vor dem Bären solltest du dich in acht nehmen. Das Märchen vom Menschen fressenden Isegrim hat der Fürst erfunden, damit ihr nicht seinen Wald plündert und immer hübsch auf dem vorgeschriebenen Wege bleibt.“ Der Zaunreiter staunte, und dachte bei sich, dass könnte so sein. Die Worte des Wolfes stutzten endlich dem Schrecken dieser Nacht die Flügel. Das Pferd war unterdessen in das Dorf des Zaunreiters getrabt und alarmierte die Bauern, Köhler und die einfachen Zaunläufer. Ihre Fackeln leuchteten indes wie ferne Irrlichter in der Nacht. Der Wolf witterte schon zeitig ihr Herannahen, aber vom Blutverlust geschwächt, konnte er sich nicht erheben. Der Zaunreiter spürte jetzt die Angst des Wolfes. „Fürchte dich nicht, ich werde dich beschützen, flüsterte er ihm müde ins Ohr.“ Als die Männer des Dorfes den Verunglückten endlich fanden, schliefen der Zaunreiter und der Wolf friedlich eng beieinander. Ungläubig und mit angstvollem Blick sahen sie auf das Bild, als Mann und Tier sich regten. Der Zaunreiter legte den Arm um den Wolf und stöhnte: „Er ist mein Retter und bleibt unbehelligt.“ Die Männer murrten, aber hievten dennoch Mann und Tier auf ein Pferd. Der Zaunreiter war als Grenzgänger angesehen im Dorf und seine Meinung zählte. Und so kam es, dass bald niemand mehr sich vor dem Wolf fürchtete. Als das Tier gesund war, entließ der Mann es wieder in den Wald. Aber jeden Tag wartete fortan der Wolf am Waldrand auf den reitenden Wächter und begleitete ihn treu auf seinem Grenzpfad fad zwischen den Flüssen.
(Aus meinem Buch “Schattengeschichten aus dem Wanderland” – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).
Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel “Die Gabe der Nebelfee”
PS: Weil oft falsch verstanden, noch einmal erklärt: Meine Schorfheidemärchen sind KEINE Sammlung aus der Welt der Sagen, sie sind meine literarischen Erfindungen – der Zeit und der Landschaft abgelauscht.
pende? Gerne!
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Als der Schnee schmolz, schmatzte die Wiese vor Nässe, und die dicke Schneefrau Luise schrumpfte. Sie war ein bisschen traurig. Schließlich hatte sie doch heiter und weiß die dunkle Jahreszeit erleuchtet. Aber jetzt, Anfang März, schwächelte sie, und alle schienen darüber froh zu sein.
An ihrem Rocksaum kitzelte sie etwas und stöhnte: „Puh, kannst du nicht ein bisschen rutschen?“ Luise äugte abwärts, es war ein Schneeglöckchen, das ganz erschöpft fragte. Die Schneefrau versuchte es, aber sie klebte fest. „Nein“, sagte sie, „ich bin mit dem weißen Winter verwachsen. Erst wenn er geht, verschwinde auch ich. Aber so lange muss ich hier bleiben, kann nur schmelzen, nicht rutschen.“ „Na, das wollen wir doch erst einmal sehen“, sagte das Schneeglöckchen und bohrte sich durch Luises Rocksaum. Eine große Schneeglöckchenfamilie folgte ihm nach. Und die schob ganz kräftig die dicke Luise an. Plötzlich schlitterte die Schneefrau durch eine noch vereiste Spurrinne durch das ganze Dorf. Ihr Efeukranz verrutschte dabei und die schicke Sonnenblumenbrosche ging unterwegs verloren. Aber Luise staunte, denn schließlich bekam sie jetzt einiges zu sehen. Den grünen Traktor von Bauer Müller, den schnellen Schulbus, rutschende Dachlawinen und eine rote Feuerwehr. Doch überall, wo Luise zum Halten kam, stieß sie wieder und wieder ein weißes Köpfchen an, das rief: „Rutsch ein bisschen!“ Als der Abend kam, war Luise beinahe schon vom milden Winde verweht und hoch oben, aus dem nachtblauen Himmel trompetete der Vogelzug ein Frühlingslied. Da lächelte die schrumplige Schneefrau Luise müde und wusste, es ist Zeit zu gehen.
(Der Vorspann zu DAS KLEINEN RABENBUCH – Vorlesegeschichten, handgebunden):
Hinter den Rabenbergen ist ein seltsamer Vogel gelandet. Im roten Frack, vor ein paar Jahren. Was er wohl suchte? Vielleicht gefielen dem Stadtvogel der Wald und die Wiesen, das flinke Döllnfließ und das Dörfchen mit den geduckten Häusern. Der schillernde Eisvogel brütet hier im Verborgenen, und das scheue Wild schleicht in der Dämmerung bis an die Gärten heran. Dann schlagen von den Höfen her die Hunde an. Sie wittern die nächtlichen Gäste. Den Vogel aber verjagte keiner. Er stand träumend in einem der Vorgärtchen und staunte die Zeit an. Im Frühjahr die Ankunft der Kraniche. Im Sommer die Blumenpracht und den Festumzug im Dorf. Im Herbst die Feuer und den Lichterglanz zu Weihnachten. All das inspirierte ihn und seine merkwürdige Verwandlung begann. Schwarz ist er, wie ein Rabe schwarz ist, aber was ist das Rote an seinem Hinterteil? Dort sitzt nicht eine einzige Feder, sondern ein wendiger Schwanz, den er sich ganz offenbar bei einer Katze geborgt hat. An dessen Ende steckt eine Pinselspitze. Tropfend von roter Farbe. Die braucht der Malerrabe für seine bunten Bilder und Geschichten, die er erfindet oder sich aus der Landschaft pflückt.
Zum Wochenende mal eine klitze-kleine Vorlese-Geschichte für die kindlichen Zwerge …
Schwapper-Jule und Krümel-Max waren die besten Freunde. Immer, wenn sie an einem Tisch saßen und aßen, schwapperten und krümelten sie jedes Tischtuch voll. Oma schimpfte, Mama ärgerte sich, die Kinder verdarben einfach jede schöne Festtafel. Nur Tante Rosa schmunzelte nachsichtig. Ihre Augen blickten listig, als sie ein neues Tuch auflegte. Schwapper-Jule hatte heute Geburtstag und es gab Erdbeertorte, heiße Schokolade, zuckersüße Himbeerlimonade und prickelnde Apfelschorle. Kaum war der Deckenwechsel vollzogen, kleckerte Schwapper-Jule wieder rote Flecken auf den Tisch. Nur was war das? Wie von Zauberhand verwischt, waren die sogleich verschwunden. Schwapper-Jule stutzte und träufelte mit dem pinkfarbenen Trinkhalm viele kleine Tröpfchen auf den Tisch, aber schwuppdiwupp waren sie wieder weg. Das Mädchen holte sich eine dicke Lupe und untersuchte die ihren Tischplatz: Wo waren nur die Kleckse geblieben? Schwapper-Jule tropfte mit Limonade und beobachtete über der Lupe, was nun geschah. Oh, wie staunte das Kind, zwei durchsichtig schillernde Wichtel trugen den Tropfen einfach davon. „Fleckendiebe!“, schrie Schwapper-Jule. „Sie mausen einfach meine schönen roten Tropfen!“ Tante Rosa lächelte verschwiegen, nur sie allein wusste um das Geheimnis der Fleckendiebe, die nun unter dem Tisch saßen und mit Jules Limonade ein schönes Bild auf Papier malten, das niemand mehr wegwischte. Das fanden Schwapper-Jule und Krümel-Max nun auch viel spannender und malten fortan viel, viel lieber auf feinem Zeichenkarton.
Das Schneelicht war zu langsam unterwegs. Es wollte unbedingt zum Weihnachtsfest eintreffen, aber es stand im Stau, denn das klassische Weihnachtstauwetter hatte ihm wieder einmal die himmlische Vorfahrt genommen.
Aber das Schneelicht stand nicht allein im Stau: Unten, auf der A10, ruhte eine kilometerlange Autoschlange schon eine halbe Ewigkeit. Rauhaardackel Amadeus jaulte, denn er musste unbedingt raus an einen Baum. Genervt öffnete ihm die kleine Jola die Wagentür einen Spalt, und Amadeus peste zwischen den Autos hinüber zum Straßenrand.
Es regnete in Strömen, und vielleicht hatte deshalb der kleine Hund einen verwischten Blick, denn er sprang, als sich kaum später die Blechlawine langsam anschob, in den falschen offenen Wagen. Aber das bemerkte Amadeus nicht sogleich. Er schüttelte sich die Tropfen aus dem Fell, ringelte sich auf dem Rücksitz zusammen und schlief ein.
Jola schrie: „Neinnnnnn!“ Auch der Vater hatte gesehen, dass der Dackel in einem anderen Transporter verschwunden war. Nun folgte er diesem Wagen mit aufgeregter Lichthupe. Der Mann am Steuer brummte in seinen Bart: „Wieder so ein Drängler!“ Und als sich die Schlange endlich auflöste, trat er auf das rote Gaspedal. Verschluckt von der Landschaft, entfleuchte das Gefährt durch Raum und Zeit. Jola weinte, und der Vater glaubte seinen Augen nicht.
Im hohen Norden der Welt nahm der Bärtige den Fuß vom roten Gaspedal und landete auf einer glatten Schneepiste, die in einem alten Flugzeughangar mündete. Als der Mann die hintere Wagentür aufschob und den schlafenden Hund entdeckte, hob er seine buschigen Brauen und murmelte: „Immer, wenn man mal die Menschenwege benutzt, gibt es nur Ärger.“ Er nahm das erwachende Tier auf seinen Arm und lief schweren Schritts zum Hangar. Knarrend öffnete er die Hallentür. Ein Sternefunkeln, wie aus der Milchstraße gepflückt, beleuchtete das Geschenkdepot des Weihnachtsmanns. „Was mach ich nur mir Dir?“ Amadeus winselte verstört. Aber als ihm der Bärtige einen schönen Knochen vorsetzte, beruhigte sich der kleine Hund und begleitete fortan den Weihnachtsmann auf seinen schier endlosen Touren. Am Morgen des 24. Dezembers traf der letzte Wunschbrief ein. Der Weihnachtsmann brummte: „Da ist aber einer spät dran.“ Den Absender „Postamt Himmelpfort“ kannte er gut, nämlich als die „Brandenburgische Weihnachtspostfiliale“. Der Alte fuhr mit dem Daumen über den schönen Stempel und lächelte milde. Dann riss er das Kuvert auf und fand darin ein Foto: Mädchen mit Hund. Auf dessen Rückseite stand: „Lieber Weihnachtsmann, ich bin Jola, und dieser kleine Hund heißt Amadeus. Ich habe ihn auf der A10 verloren, kannst Du ihn mir wiederbringen?“ Der Mann nickte wortlos und zeigte dem Hund das Foto. Amadeus bellte aufgeregt. Jola schaute durch das Fensterglas in das graue Nieselwetter. Ob sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllen würde? Kurz bevor die Dunkelheit kam, riss die Wolkendecke auf, und das Schneelicht blinzelte unter dem Silbermond das Kind an. Erste Flocken wirbelten mit der Heiligen Nacht herbei. Das Mädchen staunte in diesen wundervollen Wandel, als ein weißer Transporter vor dem Haus scharf bremste. Jolas Herz klopfte. Dieses Auto!? Sie rannte zur Haustür, hinter der ein kleiner Hund sehnsüchtig bellte.
Es regnete das letzte Goldlaub, als Rosalie erwachte. Der Himmel leuchtete endlich winterblau. Zu lange saß schon ein milder Herbst im Jahr. Kein Mensch dachte daran, dass heute die Adventszeit begann. Entschlossen legte die Wolkenfrau ihr lila Dezemberkostüm an und stieg auf zu ihrer Mission. Höher und höher. Schließlich war sie zu einer mächtigen Wolke aufgequollen und begann ihren großen Wintersturm, der die Landschaft kahl fegte und eine Kunde mit sich trug: „Es ist Advent, freut euch und schmückt eure Häuser, es naht das hohe Fest!“ Rosalie sandte schwere Böen, die wie Glocken schepperten. Aber die Menschen hörten ihr festliches Sturmläuten nicht. Sie huschten einfach in ihre Behausungen, drehten die Heizkörper auf und gingen weiter angestrengt ihren Verrichtungen nach. Nur wenige setzten dem Advent schmückende Zeichen. Rosalie schauderte es. Ganz offenbar war den Menschen das schöne Dezembergefühl, das Gespür für die großen und kleinen Geheimnisse, abhandengekommen. Sie musste etwas unternehmen. Abends wetterte die Wolkenfrau an Josefs Fensterladen und bat ihn um Hilfe.
Josef schleppte all die eingefrorenen, geschmolzenen und verlorenen Gedanken. Er hatte sie in einem großen Leinensack verstaut und stapfte damit auf den Marktplatz. Zwischen Weihnachtsbäckerei und Glühweinduft wollte er an diesem Adventssonntag den Stand der guten Gedanken aufmachen. Nur die allerbesten würde Josef dort verschenken, die anderen hatte er auf seinem Speicher dem Vergessen überlassen. Hauchdünne Gespinste türmten sich dort fast unsichtbar, aber der Mann stieß an ihnen und wunderte sich, dass niemand sich ihrer erinnerte. Josef war ein Gedankensammler. Er nahm alles, was er kriegen konnte: Große und kleine, wirre und kluge, mutige und zaghafte – eben alles, was aus anderer Leute Köpfe fiel. Ja, Josef war kauzig, aber besonders, denn er konnte Gedanken lesen. Immer, wenn jemand seinen Spinnfaden verlor und der dürre Mann in der Nähe war, pflückte er sich diesen von den Schöpfen und versteckte ihn in einem seiner Beutel. In den grünen kamen die Ökoideen, in den gelben die Neidgedanken, in den roten die Liebes- und Festgedanken, in den weißen die Nichtssagenden und in den schwarzen die Volltreffer, eben die ganz großen Ideen. Mit seinen langen, feingliedrigen Fingern, die einem Klavierspieler gehören könnten, zog Josef ein dunkelrotes Samttuch über den leeren Marktstand am Rande des vorweihnachtlichen Treibens. Der alte Schimmelpfennig hatte ihm einen abseitigen Platz zugewiesen, denn der Marktbetreiber wusste nicht so recht, was Josef mit seinem Angebot wollte. „Gedankenspende“ stand auf seiner Anmeldung. Merkwürdig, aber weil Schimmelpfennig noch Stände freihatte, sagte er dem Alten zu, hatte aber ein kritisches Auge auf ihn. Der knüpfte soeben einen nachtblauen Baldachin unter das Standdach, und als er die Lichterkette darin ansteckte, funkelten hunderte von goldenen Sternchen in dem Traumvlies, an dessen Stirnkante in großen Lettern „Gedankenspende“ stand. Dann setzte er seinen Leinensack auf die rote Verkaufsfläche, band ihn auf und wartete mit suchendem Blick. Wie er da so stand, wurde er beobachtet. „Was verkauft der Alte?“, fragte eine rundliche Dame die Zuckerbäckerin gegenüber. Sie wusste es nicht, sagt nur, „Ab und zu pustet er Flitter in die Luft, seltsam nicht?“ Ein vorbeieilender Mann spöttelte: „Nimmst du auch gebrauchte Gedanken?“ Josef schüttelte den Kopf und ärgerte sich ein bisschen. Der Begriff „Spende“ machte offenbar nicht verständlich, was er meinte. Nicht er wollte etwas gespendet bekommen, sondern er wollte etwas abgeben. Josef kramte in seinen großen Manteltaschen und fand einen handgroßen Stoffstern, den steckte er mit einer Sicherheitsnadel über das kleine „P“, und nun stand dort „Gedankensende“. Josef nickte zufrieden. „Bist du ein Zauberer?“, fragte ihn ein dünnes Stimmchen. „Und holst du gleich ein weißes Kaninchen aus dem Sack?“ Josef löste seinen Suchblick und sah auf das ratende Kind. Es war kaum höher als seine Tischplatte, nur eine Locke im Wind und zwei wasserblaue Augen schauten darüber. „Ach, nein, es ist ja gleich Weihnachten, da wirst du sicher Geschenke in deinem Sack versteckt haben oder?“ „Vielleicht“, murmelte Josef, „wenn Gedanken ein Geschenk sind.“ Das Kind schaute verdutzt. „Du verschenkst Gedanken? Das ist ja toll. Mein Vater vergisst alles, selbst die Feiertage, da könnte ich ihm ja ein paar Festgedanken zu Weihnachten schenken. Wäre das möglich?“ Josef nickte. „Und wieso kannst du das?“, fragte das Mädchen weiter. „Weil ich ein Advents-Bote bin“, flüsterte Josef. Er griff in den Sack und gab dem Kind eine Handvoll feierlicher Gedanken. Rosalie hatte während ihres nächtlichen Besuches all die unsichtbaren Gedankengespinste mit Sternenstaub umzogen, so glitzerten nun die Inspirationen ganz wundervoll. „Puste sie nächsten Sonntag deinem Vater entgegen“, sprach Josef. Das Kind schloss fest die Hand und lief aufgeregt nach Haus. Als es am nächsten Sonntag erwachte, hörte es den Vater schon telefonieren: „Na, wenn Sie meinen, dass es heute noch sein muss …“. Das kleine Mädchen tapste schläfrig mit der Handvoll Sternenstaubgedanken hinüber und pustete damit kräftig den Vater an. Einen Moment lang stockte dessen Rede am Telefon, aber dann traute das Kind seinen Ohren kaum: „Wie kommen sie eigentlich dazu, mich am Adventssonntag mit so etwas zu belästigen? Das ganze Jahr über geht das schon so, aber ich habe keinen Lebensvertrag mit ihnen. Wir können am Montag weiter reden!“ Sagte es, legte auf und atmet erleichtert. Dann schaute er lächelnd auf seine kleine Tochter, nahm sie auf seinen Arm und sagte: „Weißt du, heute fahren wir hinaus in den schönen Winterwald und holen uns beim Förster einen Weihnachtsbaum, und du darfst ihn aussuchen.“ Petra Elsner
Am zeitigen Nachmittag des 24. Dezembers war Norbert mit seinem sperrigen Gitarrenkasten unterwegs. Spät am Abend wollte er mit ein paar Musikerfreunden in seiner Stammkneipe für die Gäste aufspielen, aber bis dahin waren es noch Stunden. Letztes Weihnachten hatte um diese Zeit seine Mutter für ihn gekocht. Er liebte Gans mit Kraut und Klößen und das sah man auch. Norbert war ein runder, gemütlicher Mann Ende vierzig, mit einer schwermütigen Seele, immer schon. Vielleicht gehen deshalb seine Shantys den Menschen so zu Herzen, weil er eben ein echt Trauriger ist. Doch an diesem Nachmittag war Norbert in besonders trüber Stimmung. Seit einigen Wochen lebte seine Mutter im Pflegeheim, und dort hatte er sie gerade besucht. Aber was er sah, gefiel ihm gar nicht. Und weil der angegraute Mann so ratlos war, wie er das Elend abwenden könnte, suchte er sich die nächstbeste Kneipe, um seinen Kummer erst einmal hinunter zu spülen. Schließlich kehrte er in das Lokal namens „Bumerang“ ein. Am Tresen saßen ausschließlich Männer und alle umgab etwas Verwaistes. Norbert stellte seinen Gitarrenkasten ab und bestieg wortlos einen der Barhocker. Den Raum durchwaberte eine schwere Stille bis der Wirt aus seiner Küche hervorsprang und zu Norbert sah. Der bestellte tonlos: „Bier und Whisky.“ Der Wirt zapfte und musterte den neuen Gast. Als er ihm die Getränke vor die Nase schob, fragte er kurz: „Mutter im Pflegeheim, Frau über alle Berge und die Tochter macht auch ihr’s?“ Norbert staunte und nickte. Woraufhin der Wirt meinte: „Nun, denn setz’ Dich mal dort hinten mit an die Tafel. Auch die anderen Männer verließen den Tresen und nahmen jetzt an einem langen, festlich gedeckten Tisch Platz. Kaum saßen sie, da öffnete sich die Tür zur Küche und es wurde aufgetragen: Hühnersuppe mit Eierstich, Klöße und Gänsebraten, Grün- und Rotkohl, Eis mit heißen Himbeeren, Bier, Wein und andere geistige Getränke. Die Männer strahlten und keiner von den Tafelgästen wusste so recht, wie ihm geschah. Als Norbert gegen 22 Uhr seine Stammkneipe zum Musizieren betrat, war er schon satt angetrunken, aber er spielte und sang so herrlich, als hätte ihn das Glück gestreichelt, und in den Spielpausen erzählte er euphorisch: „Ich bin heute Nacht einem Engel begegnet …“
Da es dort draußen stürmt und pladdert, ist heute mal wieder Gelegenheit eine kurze Vorlesegeschichte für unsere Kleinsten aus dem Ärme zu zaubern. Sie stammt aus meinem “Das kleine Rabenbuch” – eine nummerierte Handarbeit für kindliche Ateliergäste:
Kolkmar & Kasimir
Raben sind schlaue Tiere. Sie können die Laute der Tiere nachahmen und foppen damit gerne Wanderer oder Pilzsucher. Der alte Kolkmar muhte am liebsten wie eine Kuh, und Kasimir heulte täuschend echt wie ein Wolf. Abends erzählen sich die beiden Altvögel ihre Streiche, und krächzten dazu ein schönes Rabenlachen.
An einem Wintertag schwebte Kasimir hoch oben im Wolkengrau. Er segelte elegant im Wind, als er tief unten, am Waldrand, einen Holzdieb entdeckte. Kasimier wusste, dass der Wald dem Bauern Benno gehörte, aber der war auf dem Markt und konnte den Dieb nicht verjagen.
Da heulte Kasimir, wie ein Wolf den Mond anheult. Der Holzdieb erschrak. Er duckte sich, als wollte er sich nur verstecken. Doch nun knurrte der Rabe sehr bedrohlich. Der Mann ließ das Holz zurück und rannte augenblicklich davon.
Am Abend erzählte Kasimir seinem alten Freund, wie er den Holzdieb in die Flucht geschlagen hatte. Die Vögel lachten ein tiefes Kraa-Kraa.
Kolkmar meinte dann: „Aber mein Scherz mit den Hühnern war auch ganz gelungen. Die haben seit Tagen schlechte Laune, weil ihr Hahn ausgeflogen und nicht wiedergekehrt ist. Da hab ich von der Tanne gekräht, so ein richtiges Guten-Morgen-Krähen, und die Hühner sind ganz aufgeregt durch ihr Gatter geflattert. Doch so sehr sie auch gackerten, kein schöner Hahn war zu entdecken. Weil das Krähen aus der Tanne kam, folgten sie schließlich dem Laut und flatterten ungeschickt hinauf in den Baum. Da hocken sie immer noch wie Kugeln an einem Weihnachtsbaum.“
„Ganz schön frech!“, krächzte Kasimir lachend. „Ja“, antwortete Kolkmar, „aber sehr witzig, findest du nicht auch?“ Und die Altvögel nickten listig.
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