Diese Fantasy-Geschichte habe ich noch nicht als Lesekostprobe vorgestellt, was ich heute einfach mal nachholen muss:
Der Schatz der Baumriesen
Das tiefgrüne Land war wild und mächtig. Nur wenige tapfere Männer haben es je gesehen. Uralt war es, wie auch seine Bewohner, die Baumriesen. Niemand ahnte, dass sie heimlich wanderten. Langsam und unmerklich nahmen sich ihre Baumkinder jeden Frühling ein Stück neues Land von den Wiesen. So wuchs das Baumland zu einem mächtigen grünen Pelz der Erde heran.
Natürlich hatte das Land der Baumriesen auch einen König. Hanjor, der friedfertige Seher. Und die Riesen bewahrten einen einzigartigen Schatz – die Elementekugeln: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Hier schlug das Herz der Welt. Diese leuchtenden Kugeln hielt Loriell, die Tochter des Baumkönigs, unter ihrem Rindenkleid, in einer Asthöhle verborgen. Die gleich starken Kugeln mussten immer beieinander sein, um das Gleichgewicht der Erde zu wahren.
Loriell wuchs deshalb dicht umstanden im Schutze ihrer vier Wächterbäume Robur, Benjo, Solan und Pikar heran. Schlank und schön. An einem kalten Dezembertag fiel plötzlich Eisregen ins Land der Baumriesen. Er umzog jeden Ast und jeden Halm mit einem glasklaren Mantel, der vom Wind angefacht den ganzen Wald zum Singen brachte. Es war ein klirrendes, bedrohliches Lied. Kaum später kam der Schnee.
Tage und Nächte fielen Flocken aus dem Wolkengrau und legten sich schwer auf die alten Baumgestalten. Die ächzten und knarrten unter der Last. Es war die zarte Loriell, die als Erste in sich zusammenbrach. Der Kugelschatz erreichte im Fallen nicht einmal den Boden, denn der Wind fing sie auf und nahm sie mit sich fort. So sehr auch die Wächterbäume versuchten, dem stürmischen Gesellen den Weg zu verstellen, sie waren einfach zu steif gefroren, als dass sie wendig genug gewesen wären. Seither war es dunkel und kalt im Land der Baumriesen.
Eines Tages gelangte der Wanderarbeiter Melchor in diesen großen Wald. Ein Rabe kreiste weithin sichtbar über den schneebedeckten Wipfeln. Der Vogel hatte den
Menschen schon lange im Visier. Doch als er näher kam, krächzte der Schwarze warnend vom Himmel: „Geh nicht weiter! Hinter der Waldkante wohnt ein kalter
Atem, der jedes Leben gefrieren lässt!“
Aber der Wanderer schaute mit scharfem Blick in die Höhe und winkte gelassen ab. Er war unerschrocken und wollte sich nicht von einem Vogelgezeter aufhalten lassen.
„Ich habe schon die halbe Welt gesehen, da wird mich ein bisschen Kälte nicht schrecken.“
Seit Kindesbeinen war Melchor allein unterwegs und wusste, dass Angst ist kein guter Gefährte ist. Man muss sie durchschreiten, um sie hinter sich zu lassen.
Er lief schon ein gutes Stück, als ihn der Frost höchst unangenehm in die Nase biss. Hätte er doch auf die Warnung des Vogels hören sollen? Ach was. Er schlug den Kragen hoch, trug Reisig zusammen und zündete sich ein Lagerfeuer an. Just dort, wo Robur,
Benjo, Solan und Pikar stocksteif standen.
Und weil der Wanderer immer noch unter seinem Lodenmantel unendlich fror, nährte er das Feuer reichlich, so dass die Wächterbäume langsam tauten.
Melchor war den ganzen Tag unterwegs gewesen. Diese lausige Kälte zehrte wirklich an seiner Kraft und die Augenlieder wurden ihm schwer, als Robur hustete.
„Äähi, äahihi. Ähüühühü.“
Der schlummernde Mann im flackernden Licht schreckte auf. „Wer ist da?“ Er sah nur Baum an Baum. Doch dann riss er seine Augen weit auf, denn er blickte hoch über sich in ein schrumpeliges Borkengesicht. Knautschig und uralt. Es bewegte sich und atmete. Schnee rieselte dabei von dem rissigen Antlitz. „Hui, wo bin ich denn hingeraten?“, fragte der Jüngling unbeschwert und sogleich wieder hellwach.
Er sprang auf seine Füße, klopfte sich den Schnee vom Mantel und nährte das inzwischen leise züngelnde Feuer. Dann schaute er wieder aufwärts in das knarrende Holz der Waldkronen.
„Ins Land der gemütlichen Baumriesen“, fiel eine Antwort hinab.
„Gemütlich?“, spöttelte Melchor, während er seine klammenFinger nach der Wärme des Feuers ausstreckte.
„Zumindest war es so, bevor uns der kalte Atem von Gora, der Winterhexe, traf. Davor lebten wir heiter den Zauber der schönen Jahreszeiten, wiegten uns biegsam im Wind und schenkten der Welt unsere Heilkraft und einen gesunden Atem.“
Inzwischen tauten auch die anderen Wächterbäume an. Pikar blinzelte, Solan schniefte, Benjo runzelte seine Borkenstirn und sprach noch etwas brüchig:
„Wenn der Frost nicht bald unsere Körper verlässt, werden all die Baumriesen sterben, die noch hier stehen.“ Dazu seufzte er schwer.
„Was redest du so mutlos?“ Melchor schüttelte unwirsch seinen Kopf und fütterte das Feuer wieder mit Holz. Jetzt schien es ihm, als würde der ganze Wald weinen oder taute es nur? Nein, wirklich, die alten Baumgiganten weinten voller Trauer. Manche Borkenkleider platzten, andere verloren weiter schwere Äste, fast allen aber liefen dicke Säfte aus den dunklen Gesichtern.
„Was ist mit euch?“, rief Melchor erschrocken. Sein ganzer Körper war gestrafft wie eine Sehne, und das verwegene Dunkel seiner Augen spähte von Baum zu Baum.
„Wir trauern um Loriell“, wehte es wie aus einer Stimme durch den Wald.
Die Tropfentöne klangen unheilvoll und der Wanderer fragte besorgt: „Was ist mit ihr geschehen?“
„Gora hat sie gebrochen und den Schatz des Gleichgewichts der Welt geraubt. Nun kämpfen die Elemente um die Macht und gefährden damit alles Leben. Sei vorsichtig mit deinem Feuer, es könnte sich zu viel von der Luft nehmen und dich verletzen.“
Melchor stocherte in seiner Glut und sah verwundert, wie groß die Funken waren, wie von Luft aufgeplustert. „Kann ich etwas tun, irgendwie helfen?“
Robur knarrte abwehrend: „Du, kleiner Mensch? Was kannst du schon ausrichten?“
Melchor richtete sich auf und sprach aus stolzer Brust: „Ich bin schon in manchen Kampf geraten. Ich kann Eisen schmieden und Wunden heilen. Seit Jahren bin ich als Wanderer unterwegs, um die Geschicke der Menschen zu erlernen und mein Glück zu finden. Bestimmt kann ich euch nützlich sein.“
Die Wächterbäume steckten die Kronen zusammen und tuschelten leise miteinander:
„Ob wir ihm trauen können?“ „Er ist doch viel zu schwach!“ „Kein Mensch kann es mit den Urgewalten aufnehmen!“ „Und wie soll der gegen den Zauber der Winterhexe ankommen? Sie ist mächtig wie nie.“ „Wir haben keine andere Wahl. Wir brauchen einen Läufer, einen, den der Mut trägt. Es wird so rasch nicht wieder ein tapferes Wesen
vorbeikommen…“
Das leise Raunen der Kronen dauerte noch lange. Der junge Mann am Boden spitzte die Ohren. Er lauschte neugierig, verstand aber nichts und stach deshalb ein wenig trotzig ins Feuer, so dass die Funken stiebten, groß wie Vogeleier. Die vier Baumgestalten kamen ihm mehr als schrullig und sonderbar vor. Schon lange hatte er nur noch auf sich selbst und die Stimme seines Herzens gehört. Es gab keinen, der ihn beriet oder dessen Meinung er abwarten musste. Hier und da nahm er eine kleine Arbeit an, um dann sogleich weiterzuziehen. Immer nur den nächsten Schritt, denn er hatte keine Vorstellung davon, wie sein Glück aussehen sollte, und wo er es finden konnte.
Es verging die halbe Nacht, bis Robur sich verlegen räusperte: „Wir sind uns nicht gewiss, aber du scheinst uns mutig genug zu sein. Als Bote. Hier, nimm diese Rute. Sie stammt von Loriell. Verwahre sie gut und bringe sie ihrem Vater. Geh zu dem Hügel im Mittelpunkt unserer Baumwelt. Dort findest du Hanjor, unseren König. Er wird entscheiden, ob er dich gegen Gora sendet oder davonschickt. Aber hüte dich, unser König wird von Eisa, einer mächtigen Dienerin der Winterhexe, bewacht. Der Weg ist weit, wir können dir nur unseren schnellen Wunderhirsch Aron zur Seite stellen.
Er wird dich tragen und geleiten.“
Indem trat ein weißer Hirsch aus dem kalten Dickicht. Sein Geweih blitzte blank wie Stahl, aber seine Augen schauten den Jüngling milde und warm an. Melchior staunte, doch er zögerte keinen Augenblick. Kraftvoll lief er auf das edle Tier zu und sprach: „Habt Dank für das Vertrauen, ich werde euch nicht enttäuschen!“
Er sprang auf den Rücken des Tieres und preschte mit ihm davon …
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Ich mag solche Geschichten. Fantasie und doch ein wenig Wirklichkeit, wie empfindlich das Gleichgewicht unsrer Welt ist. Dankeschön
Bitteschön. Ja, es geht um die Zerbrechlichkeit der Welt – gegossen in eine poetische Fantasie…