Das Pralinenmädchen

Zeichnung Petra Elsner
Zeichnung Petra Elsner

Eine Weihnachtsgeschichte:

In der Weihnachtszeit war Johanna immer mit einem Bauchladen voller Köstlichkeiten unterwegs. Abends vor dem prächtigen Theater und später von einer Gastwirtschaft zur nächsten. So wie die Schmuckhändler, die Brezel- oder die Rosenverkäufer hoffte sie auf spendable Kavaliere, die ihrer Herzdame eine Aufmerksamkeit offerierten. Johanna sang im Gehen leise: „Feine Köstlichkeiten mit Knuspereffekt, fruchtig-würzige Aromen in mundfertigen Portionen.“ Sie schwang dazu die Hüften im Rhythmus der Worte und zog so die Blicke auf sich: erheiterte, aber auch gierige und feindselige. Nicht jeder Dame war ihr aufreizender Anblick recht. Aber Johanna ließ sich nicht schrecken und säuselte weiter: „Zart schmelzende Seelenschmeichler, verführerisch wie ein Kuss. Eine Praline für einen Euro. Meine Herren, cremig weiß oder geheimnisvoll dunkel?“ Sie spielte mit den Anzüglichkeiten, um ihre fliegende Ware schnell umzusetzen. Das musste gelingen, sonst fiele Weihnachten für die Geschwisterkinder aus. Johanna wäre nur zu gerne in einer Konfiserie beschäftigt, aber das war ihr nicht gegeben. Wenn schon, sie hatte das „Rezeptbuch für feine Pralinés“ ihrer Großmutter geerbt und deren Talent, daraus ließ sich etwas machen. Sicher war die Stadt um diese Jahreszeit vollgestopft mit Leckereien, aber nichts war so raffiniert wie das verzierte Herzkonfekt, das Johanna durch die Nacht trug.
Sie huschte mit ihrem beleuchteten Bauchladen gerade aus dem Ratskeller und wollte zu dem Caféhaus nebenan, als sie ein alter Mann aufhielt: „Haben Sie auch ein süßes Häppchen für mich?“ Er reichte ihr mit zittriger Hand einen Euro, und die junge Händlerin ließ ihn dafür wählen. Der Weißhaarige griff sich ein tiefschwarzes Herz mit Kaffeestaub, fegte seinen mächtigen Schnauzbart theatralisch beiseite und schob sich die Süßigkeit genüsslich auf die Zunge. Seine zauseligen Brauen begannen zu hüpfen: „Hm, unglaublich, dieser Schmelz und dieses sinnliche Aroma im Abgang! Wer hat dieses Praliné gemacht?“
„Na ich, wer sonst?“, antwortete Johanna.
„Kannst du mir die Rezeptur verraten, du prächtiges Pralinenmädchen?“
„Um nichts in der Welt.“ Johanna wollte weiter, weg von dem merkwürdigen Alten.
„Nein, bleib, ich möchte noch ein anderes probieren.“ Er fingerte in seiner Jackentasche nach einem Geldstück, und als er es hatte, wanderte seine Hand über die leckere Auslage – er konnte sich nicht entscheiden: „Weißt du was, Pralinenmädchen, ich nehme sie alle, samt Tablett.“
Johanna schaute ungläubig, aber der Alte meinte nur: „Na, mach schon.“ Er zählte ihr 50 Euro vor, ergriff die Auslage und eilte schnurstracks davon. Johanna staunte ihm mit offenem Mund eine Weile nach und fragte sich, was war das: ein Produkt-Scout, ein Pralinensüchtiger oder der Weihnachtsmann inkognito?
Am nächsten Abend war das Pralinenmädchen wieder in der Altstadt unterwegs, und abermals begegnete ihr der seltsame Mann: „Hast du heute neue Kreationen dabei?“ Sie nickte und zeigte auf schokolierte Mandeln, die auf Nugat-Rauten thronten. Der Bärtige konnte nicht widerstehen, und als das kleine Kunstwerk auf seiner Zunge zergangen war, brachte er sich in eine offizielle Haltung: „Pralinenmädchen, willst du mir in meiner Weihnachtsbäckerei helfen? Meine Schokoladenköchin ist erkrankt.“
Johanna war irritiert und murmelte: „Du willst mir bloß meine Rezepturen stehlen.“
„Eine könntest du mir überlassen, dafür bekommst du etwas, was dein Leben ändert. Vertrau‘ mir.“
Das war schwer für Johanna, aber einmal Schokoladenköchin zu sein, das reizte sie. Und so ging sie auf das Angebot des Alten ein.
Den ganzen Advent zauberte Johanna die wundervollsten Süßigkeiten, die man sich denken kann. Tausende Stücke, ganz allein, und die Rezeptur des tiefschwarzen Herzens mit Kaffeestaub schenkte sie dem Alten für diese Chance. Am Heiligen Abend zahlte er das Pralinenmädchen großzügig aus und legte eine Rolle in seine Hand: „Erst nachsehen, wenn ich weg bin.“ Johanna nickte und dankte dem Alten und er ihr. Als sie ins Freie trat, hatte sie ihren Schal vergessen. Sie drehte sich um, doch hinter der Tür öffnete sich nur eine staubige Halle, keine Spur von der duftenden Weihnachtsbäckerei. Wie konnte das sein? Sie löste das Siegel der Rolle und las: „Zertifikat für die meisterliche Schokoladenköchin im Dienste des Weihnachtsmanns. Alle Jahre wieder an einem anderen Ort.“
Petra Elsner

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Himmlische Begegnung

Am zeitigen Nachmittag des 24. Dezembers war Norbert mit seinem sperrigen Gitarrenkasten unterwegs. Spät am Abend wollte er mit ein paar Musikerfreunden in seiner Stammkneipe für die Gäste aufspielen, aber bis dahin waren es noch Stunden. Letztes Weihnachten hatte um diese Zeit seine Mutter für ihn gekocht. Er liebte Gans mit Kraut und Klößen und das sah man auch. Norbert war ein runder, gemütlicher Mann Ende vierzig, mit einer schwermütigen Seele, immer schon. Vielleicht gehen deshalb seine Shantys den Menschen so zu Herzen, weil er eben ein echt Trauriger ist. Doch an diesem Nachmittag war Norbert in besonders trüber Stimmung. Seit einigen Wochen lebte seine Mutter im Pflegeheim, und dort hatte er sie gerade besucht. Aber was er sah, gefiel ihm gar nicht. Und weil der angegraute Mann so ratlos war, wie er das Elend abwenden könnte, suchte er sich die nächstbeste Kneipe, um seinen Kummer erst einmal hinunter zu spülen. Schließlich kehrte er in das Lokal namens „Bumerang“ ein. Am Tresen saßen ausschließlich Männer und alle umgab etwas Verwaistes. Norbert stellte seinen Gitarrenkasten ab und bestieg wortlos einen der Barhocker. Den Raum durchwaberte eine schwere Stille bis der Wirt aus seiner Küche hervorsprang und zu Norbert sah. Der bestellte tonlos: „Bier und Whisky.“ Der Wirt zapfte und musterte den neuen Gast. Als er ihm die Getränke vor die Nase schob, fragte er kurz: „Mutter im Pflegeheim, Frau über alle Berge und die Tochter macht auch ihr’s?“ Norbert staunte und nickte. Woraufhin der Wirt meinte: „Nun, denn setz’ Dich mal dort hinten mit an die Tafel. Auch die anderen Männer verließen den Tresen und nahmen jetzt an einem langen, festlich gedeckten Tisch Platz. Kaum saßen sie, da öffnete sich die Tür zur Küche und es wurde aufgetragen: Hühnersuppe mit Eierstich, Klöße und Gänsebraten, Grün- und Rotkohl, Eis mit heißen Himbeeren, Bier, Wein und andere geistige Getränke. Die Männer strahlten und keiner von den Tafelgästen wusste so recht, wie ihm geschah. Als Norbert gegen 22 Uhr seine Stammkneipe zum Musizieren betrat, war er schon satt angetrunken, aber er spielte und sang so herrlich, als hätte ihn das Glück gestreichelt, und in den Spielpausen erzählte er euphorisch: „Ich bin heute Nacht einem Engel begegnet …“

 

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