Gastlichkeit mitten im Wald

Wenn der Vater mit dem Sohne ...
Wenn der Vater mit dem Sohne …

Die Linde ist seit dem 1. August 2017 geschlossen.

 

Das Gasthaus „Zur Linde“ lädt seit 28 Jahren zur großen Himmelfahrtsparty:

Schluft. Angela  Repkow ist mit einem praktischen Naturell auf die Welt gekommen, Mitte der grauen 50er Jahre. Sie lernte Verkäuferin, hat auch im Groß Schönebecker Leistenwerk zugepackt. Nur Kneipe wollte sie nie machen. Doch dann traf sie Burghart Repkow und zog von Zerpenschleuse nach Schluft. Da stand die strenge Schwiegermutter Marie noch hinter dem morschen Tresen. Der ist seit dem vierten Generationswechsel im Gasthaus „Zur Linde“ neu, wie auch das Dach, die Holzvertäfelung, eine neue Küche und das gediegene Mobiliar. 1855 hat die Familie  Repkow den Gasthof an der Hauptstraße 19  eröffnet. Seither hat das kleine Schorfheidedorf immer einen gastlichen Ort, wo man zum Bierchen die Dorfgeschichten bespricht, die großen und die kleinen und jene, die sich auf leisen Sohlen heranschleichen. Burghart Repkow ist seit Herbst in Rentner. Er hilft seiner Frau natürlich weiter am Zapfhahn und mit den Einkäufen. Aber im Winter hat er eine schwere Grippe verschleppt, da hat es ihn plötzlich aus den Latschen geworfen und Angela bekam einen gehörigen Schreck. Seither versuchen die Zwei die Geschäfte etwas kleiner zu dosieren. Denken über einen weiteren Schließtag nach. In zwei Jahren könnte auch Angela in den Ruhestand wechseln. Ob und wie es mit der Linde dann weiter geht, steht noch in den Sternen, denn die zwei Repkow-Töchter leben ein anderes Leben.

Die Lindenwirtin: Wenn es dämmert, brennt in der Hauptstraße 19 verlässlich ein Licht. Dort, im Landgasthof „Zur Linde“ wartet das Wirtspaar Angela (62) und Burghard Repkow (65) auf Gäste.
Die Lindenwirtin: Wenn es dämmert, brennt in der Hauptstraße 19 verlässlich ein Licht. Dort, im Landgasthof „Zur Linde“ wartet das Wirtspaar Angela (62) und Burghard Repkow (65) auf Gäste.

Irgendwie kein Wunder, denn das Überleben einer Gastwirtschaft auf dem Lande ist schwierig geworden. In der Winterzeit sitzen die beiden nicht selten allein im Hinterzimmer und lesen schweigend ihre Zeitungen. Dann klopft doch noch der Förster vom Trämmersee ans Fenster und schaut auf ein paar Bierchen vorbei. Das reicht gerade mal für den Strom dieser Winternacht. In Schneezeiten füllen die Skiwanderer auf einen Grog die gemütliche Gaststube. Doch Schnee gab es schon etliche Jahre kaum mehr. Die Repkows leben von den Wochenend- und Feriengästen des kleinsten Dorfes in der Heide. Das ist so, seit die meisten jungen Menschen auf der Suche nach guter Ausbildung und fair bezahlter Arbeit weggezogen sind. Wenn der verschmitzte Mann sich an die quirligen Jahre nach der Wende erinnert, lächelt er still in sich hinein und erzählt dann doch: „Reich wird man eh’ nicht mit so einer kleinen Wirtschaft. Es gab mal so einen Moment, Anfang der 90er Jahre, da dachten wir, wir müssten alles ändern. Eine grö­ßere Speisekarte, vielleicht sogar anbauen. Inzwischen sind wir auf dem Boden der Realität angekommen.“  Burghard zapft und scherzt im Flüsterton mit den paar Stammgästen.

Das Gespann "Zicke II" aus Groß Dölln.
Das Gespann „Zicke II“ aus Groß Dölln.

Da muss man echt die Ohren aufstellen um den Witz zu vernehmen. Er ist eben kein Lauter, sondern das Original im Hintergrund, während sie taff die Küche im Alleingang stemmt und zwischen Entenessen und Bauernfrühstück mit den Gästen plaudert und auch ihren Mann am Tresen für eine Pause ablöst. Einer fragt in die Runde: „Und, ist wieder Himmelfahrt was los?“ Da huscht Angela aus der Küche in den Gastraum und spricht, als gäbe es keinen Anlass für die bange Nachfrage: „Aber klar doch!“ Man sieht, dass sie sich auf das launige Ereignis freut. Seit 28 Jahren bestreiten die Repkows diesen Schenkelklopfer des Jahres im Schorfheidewald. Begonnen haben sie in den letzten Monaten der DDR-Existenz, zum damals unerwünschten Festspektakel einzuladen. Seither kommen sie von nah und fern – die geschmückten Männer in ihren tollkühnen Kisten. Da liegt ganz Schluft in den Fernstern und schaut dem großen Auftrieb belustigt zu.

Schnieke Herrenriege vom Döllnfließ ließ es sich nicht nehmen, im gebügelten Frack aufzubrechen, um einen froh-gelaunten Tag am nordwestlichen Rand der Schorfheide zu verbringen. Fotos: Lutz Reinhardt
Schnieke Herrenriege vom Döllnfließ ließ es sich nicht nehmen, im gebügelten Frack aufzubrechen, um einen froh-gelaunten Tag am nordwestlichen Rand der Schorfheide zu verbringen. Fotos: Lutz Reinhardt

 

Am 5. Mai wird es wieder so sein. Die Zapfparty steigt, gleich welches Wetter, auf der Festwiese gegenüber der Linde. Angerichtet ist von 9 Uhr morgens bis zum Einbruch der Dunkelheit. Den Imbiss übernimmt ein Cateringservice aus Zehdenick und eine Repkow-Tochter schenkt mit ihrem Sohn das kühle Blonde vom Bierwagen auf dem grünen Wiesenteppich aus. Und drinnen hält Angela für den kleinen Hunger Schmalzstullen bereit, für die Süßen gibt es leckeren Kuchen. (pe)

Die nächste Kurtschlager Generation tuckerte heute Morgen auf Vatertagstour durch die Schorfheide.
Die nächste Kurtschlager Generation tuckerte heute Morgen auf Vatertagstour durch die Schorfheide.

 

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (6)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Die Stadt lärmte schon ihr morgendliches Getöse, als sich quietschend der Containerdeckel lüftete. Wallo streifte eine Sekunde warmes Sonnenlicht, dann, was für ein schauerliches Erwachen, ergoss sich eine  grässliche Müll-Ladung über den Grüngeist, daraufhin schloss sich der Deckel wieder krachend.

„Mein Gott, was ist das Ekliges?“, schrie Wallo entsetzt in seiner düsteren Schlafstelle. Die Sache roch schlecht, klebte, und überhaupt, Wallo plagten mächtige Kopfschmerzen an diesem Morgen. Er hatte sich noch nicht den Matsch vom Leib gewischt, da ergoss sich die nächste Portion über ihn.

Gerade rieb sich der Grüngeist die Stielaugen, als es über ihm kurz knackte und etwas scharf pfiff: „Was machst du in meinem Frühstück.“

Der Erwachende.
Der Erwachende.

Wallo stutzte. Einen Spalt weit stand jetzt der Deckel auf. Im Gegenlicht erblickte Wallo eine merkwürdige Gestalt, die sehr wütend vor sich hin zischte und pfiff. „So weit kommt es noch, dass mir, Nack, dem Fürchterlichen, jemand das Frühstück klaut. Ungeheuerlich! Warte,  dir zeig ich’s. Mir frisst keiner ungestraft was weg!“

Ehe Wallo etwas sagen konnte, sprang die Gestalt ins Halbdunkel und ging mit gefletschten Zähnen auf ihn los. Aber der rasende Nack riss nur Löcher in Wallos Hemd. Sein Körper jedoch schien unverletzbar.

Wallo griff mit seinen Ärmelstrahlen den Angreifer und hielt den wutschnaubenden Nack ausgestreckt von sich:

„Gib Ruhe! Ich will deine Leckerbissen nicht!“

Nack.
Nack.

Nack zappelte wild: „Du kannst mir viel erzählen! So wie du aussiehst, frisst du alles, was du kriegen kannst. Was bist du eigentlich für einer?“

„Ich bin ein obdachloser Baumgeist.“

„Ein waaas?“

„Ja, ich bin ein grüner Lichtschweif und war bis gestern die Seele eine Baumes“, antwortete Wallo ruhig. „Kann ich dich jetzt loslassen, ohne dass du weiter verrückt spielst?“

Nack lachte ein kaltes, höhnisches Lachen: „Hah, ich spinne nicht halb so viel wie ein anderer in dieser Blechbüchse. Aber okay, lass mich runter.“

„Du kannst ganz beruhigt sein, ich tu dir nichts“, versicherte Wallo dem kleinen, haarigen Kerl.

Der pfiff überheblich mit rollenden Augen:

„Baumgeist, oha, oho, grüner Lichtschweif, ha! Was ich sehe, ist ein schmieriges Ungetüm in abgerissenem Hemd. Von wegen grün und licht. Du bist nicht ganz dicht in deinem Drachenkopf, was?“

Während Nack das sagte, schaute Wallo beschämt an sich herab. Wirklich, von seinem Grünlicht war keine Spur mehr. Der Ruß, die klebrige Müllmasse saßen fest auf ihm, wie eine schrumplige, schmutzige Haut. Kein Wunder, dass Nack ihm nicht glaubte.

Nack stolzierte, die Arme auf seinem Rücken verschränkt, auf und ab. Griff sich einen für ihn lukullischen Apfelgriebs und nagte genüsslich an ihm, wobei er immer wieder lauernd zu Wallo aufsah. Doch sein Hunger war nunmehr größer als seine Furcht vor dem massigen Mülldrachen.

Aber auch Wallo bestaunte seinen Morgenschreck. Über seinem Fellkörper trug Nack einen schwarzen Lederoverall, der von einer dicken Metallkette gegürtet war. Auf dem Haupt thronten ein blauer und ein gelber Fellstreifen und an Nacks Barthaaren hingen winzige Goldglöckchen, die bei jedem Atemzug hektisch läuteten.

Wallos prüfender Blick störte Nack: „Was gaffst du so! Noch nie ’ne Hard-Rocker-Panky-Ratte beim Essen gesehen?“

„Nein“, antwortete Wallo.

„Komisch, dabei wimmelt es nur so von Rattengangs in diesem Viertel“, wunderte sich Nack. „Aber du? Nun mal ohne Flunkern: Wer bist du, und wo kommst du her?“ Nack setzte sich gespannt auf eine leere Bohnenbüchse, begann ausgiebig zu speisen.

Wallo seufzte tief: „Ich heiße Wallo und ich lüge nie. Ob du es nun glaubst oder nicht, das ändert gar nichts, ich bin wirklich die Seele eines alten Baumes. Der ist aber gestern Nacht abgebrannt, und ich wusste einfach nicht, wohin. Diese Mülltonne war das Einzige, was sich als Schlafplatz bot.“

Nack nickte cool: „Den Ärger kenn’ ich, wenn du erst einmal ohne Dach über dem Kopf bist, nimmt dich in einer großen Stadt so schnell keiner auf. Aber, eines bekomme ich nicht in auf die Reihe, wenn du eine Baumseele bist, wieso kann ich dich sehen, und warum bist du nicht im Seelenhimmel, wenn es deinen Baum nicht mehr gibt?“

Wallo kratzte sich nachdenklich am Gurkenkopf. „Wenn ich das nur selbst wüsste. Normalerweise sind wir, die Seelen von Lebewesen und den Dingen, überhaupt nicht sichtbar. Ich weiß nicht, wie es kam, dass es mit mir plötzlich anders war“, grummelte er. „Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, bin aber nicht drauf gekommen. Womöglich hat es nur etwas damit zu tun, dass Ken in mir war, der Baum schon tot, ich nichts Besseres zu tun hatte, als auf Kens Rufen hin zu erscheinen. Vielleicht waren die Schwingungen günstig, standen die Planeten gut, hatten sich besondere magnetische Felder gebildet oder sonst etwas. Keine Ahnung. Mir schwirrt alles im Kopf durcheinander. lass uns hinausgehen, ich brauche dringend frische Luft. Alles andere ist mir momentan egal. Kommst du mit?“

„Moment mal. Machen wir. Gleich, später“, nuschelte Nack mit einem Wurstzipfel zwischen den Zähnen.

„Erst muss ich mir noch ein paar Leckerbissen zusammensuchen, und du klärst mich inzwischen auf. Wer ist dieser Typ, ähm, Ken, ja?“

Wallo lehnte sich wehmütig zurück und erzählte Nack von seinem toten Walnussbaum, der Höhle und Ken.

Nack hatte gut zugehört. Jetzt stellte er lebenspraktisch wie er war fest:

„Gut, du warst eine Baumseele. Wenn schon, aber eine Baumseele ohne Baum macht keinen Sinn. Sag das einem da draußen, der legt sich doch glatt vor Lachen hin. Die Wesen glauben lieber dem Schein. Und für mich siehst du aus wie ein obdachloser Stadtdrache. Das mit der Seele war einmal, ab jetzt bist du Drache. Okay? Du wirst sehen, das gibt dir mehr Ansehen. Komm jetzt, ich zeige dir, wo ich wohne.

 

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (5)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Wallo war die Nachtkühle nicht gewohnt. Er schlotterte ganz erbärmlich und klinkte alsbald sehr verzweifelt an den Haustüren auf seinem Weg. Doch alle waren verschlossen. Wallo seufzte vor sich hin: „Ojeoje. Was soll nur werden?“

In jedem der Hauseingänge standen blaue Plastiksäcke, über einen stolperte versehentlich der mutlose Geist. Er stürzte, und wickelte sich im Fallen zu einer Kugel auf. Dann saß er. Sein Ende wedelte noch, und sein Anfang stülpte sich aus dem rußschwarzen Rund und sah dann verdutzt auf. Der Plastiksack war beim Umfallen gerissen, aus ihm quollen Kleidungsstücke heraus. Wallo entrollte sich und schlängelte neugierig zurück. Er durchwühlte den Kleiderhaufen und fand ein großkariertes Hemd, das ihm passte, und eine Schiebermütze. Er schlüpfte in das Hemd, teilte von seinem Lichtschweif zwei Strahlen ab und schob sie in die Ärmel. Er sah jetzt beinahe wie ein Mensch aus, der ganz sicher auf einem Bein durch die Gegend springen konnte. Doch Wallo war es ziemlich egal, wie er ausschaute. Ihm war, als friere er nun nicht mehr ganz so sehr, nur das allein zählte.

Die Verwandlung beginnt.
Die Verwandlung beginnt.

Eine Straßenecke weiter kam Wallo auf eine breite Allee. In deren Mitte wuchsen mächtige Linden. Wallo war froh bei diesem Anblick. Vielleicht würde ihn eine der vielen Baumseelen aufnehmen, wenigsten für diese schreckliche Nacht.

Was Wallo nicht wusste, dass es keine gute Zeit war, um an diese für Menschen unsichtbaren Baumpforten zu klopfen. Ahnungslos pochte er leise an die erste Linde. Darin hörte er nur ein jammervolles Wimmern, niemand öffnete ihm. „Kann ich helfen?“, fragte Wallo warmherzig durch das Holz. Doch er erhielt keine Antwort.

An den zweiten Baum klopfte er schon etwas kräftiger. Durch ein Astloch fuhr eine hektische, violette Lindenseele, die ähnlich einem Zitteraal zappelte und Wallo schrill anfuhr: „Äh. Was willst du um diese Stunde? Hast du wenigstens eine Tüte mit?“

 

„Was für eine Tüte?“, fragte Wallo irritiert.

Die Lindenseele.
Die Lindenseele.

Die Zitterseele verdrehte genervt die Glubschaugen: „Na, eine Plastiktüte voll Smog. So eine Portion wundervollen Automief, es können Diesel- oder Benzingase sein. Kapiert? Ganz gleich was, um diese Stunde schnüffeln wir alles.“

„Wozu brauchst du die Tütengase?“, will Wallo erstaunt wissen.

„Na, du bist mir vielleicht eine Landbaumseele. Von nichts ’ne Ahnung! Du bist hier in der Schnüffelallee. Hier ist der Smog tagsüber so herrlich dick, dass man echt abheben kann. Aber nachts, da ist kein Stau, kaum wer unterwegs. Doch wenn keine Autos fahren, geht es uns hier wirklich scheußlich. Richtig mies sind wir dann alle drauf. Da klopft man nicht ohne ’ne mitgebrachte Tüte an, um sich an unserem Elend zu weiden. Hast du nicht doch was dabei?“

„Nein“, antwortete Wallo verlegen. „Und ich will mich an gar niemandem weiden, mir ist heute Nacht mein Baum abgebrannt. Da wollte ich fragen …?“

„Äh, ein Obdachloser. Mach, dass du weiterkommst, du Penner! Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Los, los, glotz nicht so blöd und verzieh dich!“, krächzte verächtlich die violette Schnüffelseele, zog ihren Birnenkopf zurück in den Baum und verschloss das Astloch mit einer knautschigen Bierbüchse.

Wallo stand völlig verdattert und verlassen in der Nacht. Obdachloser, Penner, schnüffelnde Baumseelen, all das kannte er nicht und wusste nicht recht damit umzugehen. Aber wenn das eine Schnüffelallee ist, dann brauchte er es hier wohl nicht weiter zu versuchen.

Er machte sich Hoffnung: Vielleicht finden sich ja in den weniger befahrenen Nebenstraßen noch gesunde, freundliche Baumseelen. Wallo zog erschöpft, doch unbeirrt weiter.

Es sollte eine sehr lange Nachtwanderung werden. In den meisten Straßenfluchten, in die er hineinsah, wohnten keine Bäume, oder sie waren noch so jung und zart, dass die Seelchen darin keinen Platz für einen ausgewachsenen Artgenossen gehabt hätten. Zwecklos, es trotzdem zu versuchen.

Wallo irrte schließlich ratlos umher. Keinen Sprung weit konnte er mehr hüpfen, er kroch nur noch flach über das Gehwegpflaster, als ein lautes Brummen die Stille zerriss. Ein Müllauto kurvte um die Ecke, bremste, dann tuckerte und ächzte es im Stehen. Zwei Männer sprangen vom Wagen und entleerten Abfallcontainer, die gegenüber an einer Häuserwand standen.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, schlich Wallo aus der Dunkelheit hinüber, sprang in eines der klobigen Gefäße und zog den Deckel zu. Es störte ihn kein bisschen mehr, dass es darin gar fürchterlich stank. Der obdachlose Grüngeist war so erschöpft, dass er sofort einschlief. Morgen, morgen würde alles wieder in Ordnung kommen. Es ist die Hoffnung, die den bekümmerten Wesen einen friedlichen Schlaf schenkt …

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (4)

Wallo
Wallo

… Die Nacht zerrissen Sirenen und flackerndes Licht. Im Baum war es unglaublich heiß. Qualm kroch in die Höhle und stieg schließlich hinauf in den Stamm, wo Wallos Kopf auf einem Vorsprung, noch nicht ganz wach, ruhte. Seine lange Gurkennase schnupperte in alle Richtungen und im Nu schreckte Wallo auf. Was war das? Irgendwie wurde es ungemütlich. Der Grüngeist musste nachsehen, wo die Ursache lag.

Nach unten konnte er nicht. Bei dem Versuch stieg ihm beißender Rauch in die Nase und aus seinen Stielaugen tränten gelbe Bäche. Also umkehren und rasch hinauf zur blattlosen Baumkrone. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die sperrigen, trockenen Äste, bis er auf einem günstigen Ausguck angelangt war.

„Oje, ojeeeeeeehhh!“, rief Wallo entsetzt. Es war ein Aufschrei aus allerhöchster Not. Rings um Wallo brannte der ganze Park. Das Feuer züngelte schon heftig an seiner Baumbehausung. Das Holz knackte und spuckte Funken. Wallo blieb keine Zeit zum Überlegen, er musste blitzartig hinaus.

Die Feuerwehrleute hielten den Brand nur von den Straßen aus im Zaum, damit er nicht auf die Steinhäuser überspringe. Natürlich hatten sie Wallos Schrei gehört. Waren davon zusammengezuckt und spähten besorgt über das Parkgelände. Nein, sie sahen nichts mehr. Keinen Menschen, kein Tier. Aus der niedergebrannten Parklandschaft ragte nur noch der tote Walnussbaum hervor, den jetzt die Flammen vollends ergriffen. Der war ihnen kein Rettungsversuch wert. Wieso auch. Er lebte eh nicht mehr. Es wusste ja niemand, außer Ken, von dessen Bewohner. Noch einmal vernahmen die Feuerbändiger diesen Schrei, fast zeitgleich schoss ein grüner Lichtbogen in den klaren Nachthimmel und zischte über die Dächer davon. Die Leute meinten, es wäre eine vergessene Silvesterrakete gewesen und kümmerten sich nicht weiter um jene Erscheinung.

Atemlos saß Wallo rußbedeckt auf einem der unzähligen Dachgiebel. Was sollte nun werden? Wohin sollte er gehen? Wo sollte er ein neues Zuhause finden? Es war stockfinstere Nacht. Ken schlief unter einem dieser Dächer, aber Wallo wusste nicht, wo. Morgen, übermorgen und überübermorgen wird er zum verbrannten Park zurückkehren. So lange, bis er Ken dort antreffen würde. Jetzt aber brauchte er einen Schlafplatz für die Nacht. Er musste sich auf die Suche machen. Der Wind pfiff durch den Lichtgeist, dass er glaubte, in tausend Fetzen zu zerstieben. So rutschte der zerzottelte Wallo an einer Regenrinne hinunter auf die Straße und hüpfte von Laternen- zu Laternenlicht …

Maibaum am Döllnfließ

Maibaum am Döllnfließ.
Maibaum am Döllnfließ.

War das Debüt des Bändertanzes letztes Jahr in einem schweren Gewitterguss versunken, kam die Wiederaufführung am Walpurgisabend in Kurtschlag im lieblichen Gewande daher.

Gute Stimmung am Feuer bei Schmalzstullen und Maibowle. Die Frauen des Kulturvereins ließen eine alte Tradition wieder aufleben und hatten sichtbare Freude an dem verbindenden Schauspiel. Nun schmückt ihr Maibaum die Bleiche am Döllnfließ den ganzen Wonnemonat lang.

Man versammelt sich nach 19 Uhr in dem kleinem Schorfheidewalddorf am Fließ. (Fotos: pe)
Man versammelt sich nach 19 Uhr in dem kleinem Schorfheidewalddorf am Fließ.
Beim Bändertanz. Fotos: pe
Beim Bändertanz. Fotos: pe
Beim Feuer.
Beim Feuer.

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (3)

… Der Tag danach wollte für Ken nicht vergehen. Die Zeit kroch wie das Grau des Wolkenteppichs über der Stadt. Landregen verbreitete endlose Langeweile, ebenso Mathe-Schulz vorne an der Tafel. Ken hörte den Lehrer nicht einmal mehr. Der Junge guckte blaue Löcher hinaus in das schlechte Wetter und ärgerte sich stumm. „Ein Gang durch die Stadt würde heute Wallo bestimmt nicht gefallen. Bei Regen sieht man keine Gesichter. Alle sind abgetaucht unter Schirmen, Kapuzen oder wenigstens hochgeschlagenen Kragen und tragen die Köpfe eingezogenen. So kann man nicht viel entdecken. Und das ist natürlich auch kein Tag für eine Begegnung mit den faustschnellen Typen im Kiez.“

In Kens Gedanken wuchs Wallo zu einer unschlagbaren Kraft. Er hatte sie nur noch nicht probiert, und deswegen wusste er bloß nichts von ihr. In einer Gefahrensituation würde Wallo sie schon einsetzen – bestimmt. „Es kann ja auch gar nicht sein“, dachte sich der Junge, „dass einer, der einen Baum innerlich bewegt, ohne Zauber sein soll.“ Ken war ohne Zweifel und fühlte sich gut und sicher mit seiner Annahme, als ihn was aus seinen Gedanken riss: „Keeeenn! Eine Reihe bitte!“, forderte ihn der Lehrer auf.

„Em, wieeee bitte?“, stammelte der Träumer.

„Du hattest jetzt lange genug Pause. Das ist dein Part. Alsoooo: 5 mal 7, mal 20, minus 17, mal 3, plus 48, dividiert durch 5, minus 2, multipliziert mit 8 …“ Der Lehrer setzte die Kette noch eine Weile fort, Ken zog die Stirn kraus. Er hasste solcherart Stundenabschlüsse und wusste, was ihm nun blühen würde. Bis Ken begriff, dass er kopfrechnen sollte, hatte der alte Zahlenreiter schon losgelegt, es war sinnlos, den Faden zu suchen. Ken mimte ein Rechengesicht, bis er die letzten Worte des Lehrers vernahm: „… dividiert durch 8 ist?“ Mathe-Schulz wartete zwei, drei Sekunden und wiederholte dieses „ist“ schärfer. Ken fixierte die Zimmerdecke und erwartete das Unvermeidliche und schon kam es: „Danke! Sechs. Setzen!“

Ken plumpste abgeurteilt in seine Bank, da klingelte es zum Schulschluss. Der Junge saß noch einen Moment und ärgerte sich. Er hätte es wissen müssen, denn es ist eine Marotte vom alten Mathe-Schulz, den Stillsten der Stunde mit einer Reihe zu belohnen. Jetzt bückte sich der Mann mit dem Rotstift über das Klassenbuch und quittierte Kens Nichtleistung. Dann raffte er seine Hefte und schlurfte, den Jungen nicht beachtend, hinaus in den Flur, wo das Schulschlussgejohle langsam verebbte.

Ken trödelte mit gebührlichem Abstand hinterher. Eigentlich mochte er seine Schule, nur diesen Geruch nach Bohnerwachs, Staub und Schweiß ganz und gar nicht. Er wollte schneller gehen, damit seine Nase in den Wind kam. Aber dann hätte er den gebeugten Mann überholen und sich noch einmal seinem enttäuschten Blick aussetzen müssen. Das vermied er, denn so was setzte Ken mehr zu als eine Schelle vom Vater.

***

Kens Tag lief bis dahin nicht sonderlich gut. Jetzt hatte er nur noch den Wunsch, schnell bei Wallo zu sein. Er fegte in unglaublichem Tempo über das nasse Pflaster. Vor der Höhle angekommen, tropfte ihm der Regen aus den braunen Haaren. Wallo wartete bereits.

„Du triefst ja vor Nässe“, begrüßte Wallo Ken mitfühlend. Ihm war auch gleich ziemlich feucht zumute. Er kringelte sich um den Freund, als wollte er ihn wärmen. Während der Junge verschnaufte, Schuhe und Socken abstreifte und letztere auswrang und zum Trocknen an der Höhlenwand aufhängte, sprach Wallo unternehmungslustig auf ihn ein:

„Ich hab es mir überlegt und glaube nun schon, dass ich den Baum auf kurze Zeit verlassen kann. Auf einen kleinen Gang durch die Straßen. Was meinst du, ob wir nachher noch losgehen können?“

„Es ist ungemütlich heute da draußen. Aber wenn du keine Angst vor einem Schnupfen hast, dann gehen wir einfach los“, antwortete Ken. Er staunte über Wallos schnellen Entschluss.

„Gut, aber was ist Schnupfen?“, wollte Wallo wissen.

„Etwas Widerliches. Erst drückt einem der Kopf, die Augen werden dick, und dann läuft einem ständig die Nase. Man muss sie andauernd kräftig ausschnauben und der Zinken wird davon ganz unförmig und wund“, erläuterte Ken und benieste anschließend seine Erklärung. „Ja, und damit fängt so was an, man muss niesen.“

Wallo schaute Ken mitleidig an und fragte unsicher: „Du bekommst jetzt so einen Schnupfen, können wir trotzdem gehen? Ich bin nämlich sehr erwartungsvoll und glaube auch kaum, dass ich so ein Nasenzeugs kriege.“

„In Ordnung“, raffte sich Ken auf und zog seine klammen Socken wieder an. „Vielleicht ist das heute gar nicht so schlecht. Die Leute laufen bei Regenwetter fast mit geschlossenen Augen, da brauchst du keine Angst zu haben, dass dich jemand entdeckt und nervös wird.“

Gesagt, getan. Die zwei krochen aus ihrem Versteck ins Freie. Wallo blinzelte gegen das Licht und den Nieselregen. Endlich sah Ken seinen Freund in voller Pracht. Wallo, der grüne Lichtschweif, maß mindestens zehn Meter. Da er dicht über dem Boden schwebte, wirkte er zunächst wie ein wiesengrüner Nebelfetzen. Nur das Glimmen seiner Augen darin war etwas ungewöhnlich. Die zwei schlenderten wortlos hinüber zum verlassenen Spielplatz. Ken wollte Wallo in seinen neuen Empfindungen nicht stören. Der durchstöberte alles, was er sah. Seine Gurkennase grub zuerst eine Furche in das regennasse Gras. Wallo fand dabei Wildblumen, die hatten es ihm angetan. Während er weiter seinen Korridor durch die Wiese rüsselte, verfing sich seine Nase in einer herumliegenden Colabüchse. Mit der jonglierte Wallo so ähnlich, wie es dressierte Robben mit Bällen tun. Ken kicherte. Wallo fand einen Papierkorb, lugte hinein, schüttelte sich und warf die rot-weiße Büchse da rein. Schließlich gelangten die beiden zu den Spielgeräten. Gleich einer grünen Wasserwelle plätscherte Wallo über die Kinderrutsche, dann wirbelte er mit der Schaukel durch die Luft, wobei seine Gestalt mal vorne, mal hinten heftig ausbeulte. Ganz ausgelassen preschte Wallo daraufhin zum Karussell, wo er nicht etwa nur einen Platz besetzte, sondern sich in seiner ganzen Länge zum Platz nehmenden Kreis formte. Ken schob das Karussell an und Wallo juchzte.

Wallos Regentanz. Zeichnung: Petra Elsner
Wallos Regentanz.
Zeichnung: Petra Elsner

Es muss ein langes Kribbeln in dem sehr langen Bauch entstanden sein. Und so lang war auch sein Juchzen. Für einen Moment rissen die Wolken auf und ein Sonnenstrahl traf Wallo. Das Licht brach sich in zigtausend Regentropfen, die an dem kreisenden Nebelschweif hafteten. Wallo leuchtete augenblicklich zu einer wundersamen Regenbogenkette auf und war von seinem Glanz selbst bezaubert und sehr glücklich. So schön war er noch nie. Er blickte dankbar auf den Jungen, der ihn immer noch mit kräftigen Stößen drehte.

Auch Ken war fasziniert von diesem Anblick und konnte sich gar nicht satt sehen an Wallo. Inzwischen zogen sich die Wolken wieder zusammen und das kleine Wunder war vorbei. Wallo taumelte vor Freude durch den Park, es dämmerte bereits und Ken nieste immer öfter. Wallo spürte, dass es für heute genug sein musste. Indem Ken einen heißen Kopf bekam, wurde auch Wallo ganz matt und er schlug vor: „Lass uns jetzt zurückkehren. Ich fühle, dir geht es nicht gut, und ich bin auch schon ganz wässrig.“

Ken war einverstanden. Er begleitete Wallo zum Höhleneingang und verabschiedete sich mit einen müden „Bis morgen.“

Aber daraus sollte nichts werden. Ken packte ein heftiges Fieber, das ihn zwang, eine Woche lang im Bett zu bleiben. Es waren glutheiße Sommertage. Die Stadt staubte und ächzte vor Trockenheit. Wallo wartete in der schützenden Höhle besorgt auf den kleinen Freund …

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (2)

Wallo
Wallo

… Die Worte hatten einen langen Weg und ein Echo kam über sie, so dass jedes einzelne noch lange in dem Baum nachhallte. „Ist gut!“, rief Ken zu Wallo hoch. „Ich habe verstanden, du kannst wieder herunterkommen. Das wäre mir wirklich angenehmer. Ich gucke dir lieber beim Reden in die Augen als auf deinen großen Zeh.“

Kaum hatte das Ken gesagt, wickelte sich Wallo wieder um ihn. Es sah so aus, als säße der Junge in einem grün leuchtenden Nest. Wenn er nach Wallo griff, fasste Ken immer ins Leere. Wallo war ein Lichtstreif und so nicht zu fassen. Aber ganz offensichtlich war er da, bewegte sich, sprach mit Ken und lebte also.

Wallo blinzelte Ken freundlich zu: „Nein, ich kann keine Wünsche erfüllen. Aber wenn du träumst, dann reise ich mit. Ich sehe, was du siehst, und fühle, was du fühlst, und das ist doch was Besonderes. Wer weiß schon genau um den anderen? Aber das klappt auch nur, wenn du in dieser Höhle sitzt, denn dann bist du einfach in mir, dem Baum. Verstehst du das?“

Ken wusste das nicht genau. Er verstand nicht, wie er in Wallo sein konnte, wenn er doch neben ihm saß. Aber das war nicht so wichtig. Den Umstand, dass er auf jemanden getroffen sein sollte, der genau das mitdenken konnte, was er sich erträumte, fand der Junge umwerfend. Denn es war für Ken oft die größte Schwierigkeit, sich jemandem verständlich zu machen. Meist klappte das nicht. Entweder schlossen sich an solcherart Erklärungsversuche endlose Moralpredigten des Vaters. Danach war von Kens Meinung nichts mehr übrig oder es gab gleich Missverständnisse und Krach. Ohne Worte verstehen – das war ausgesprochen reizvoll. Aber Ken beschäftigte noch eine andere Frage: „Erklär mir das bitte, Wallo, warum soll das Ganze nur in der Höhle klappen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete der grüne Lichtstreif, nachdenklich in sich gewunden. Er kringelte sich ein Weile, so, als würde er sich irritiert die Haare raufen, dann schoss er wieder gerade vor Kens Nase und sprach: „Womöglich, weil du nur bei mir Teil meines Daseins bist. Gehst du, kann ich dich nicht sehen, weiß nicht, wem du begegnest und was dir dort draußen, unter den Menschen, geschieht.“

„Na gut, aber warum kannst du dich nicht in meiner Jackentasche ganz klein machen, und so mit mir kommen“, wollte Ken wissen.

„Weil dann der Baum keine Seele mehr hat“, erklärte Wallo geduldig.

„Aber der Baum ist doch tot. Es wird ihm bestimmt nicht schaden, wenn du mit mir einen kleinen Ausflug machst“, drängelte Ken. „Ich kann dir die Stadt zeigen. Wenn du schon solange schläfst, wirst du sie kaum wiedererkennen.“

Wallo wallte hin und her. Er schien regelrecht aufgeregt. Sein Grünlicht leuchtete greller und flackerte dabei. Offensichtlich machte ihm Kens Vorschlag zu schaffen. Schließlich stammelte er Ken zu: „Ich war noch nie außerhalb des Baumes.“

„Hättest du dazu Lust?“, fragte Ken.

„Ich denke schon“, erwiderte Wallo.

„Warum tun wir es dann nicht einfach? Was soll schon geschehen?“, ermunterte der Junge den Geist.

„Es ist schon dunkel draußen. Man könnte mein Leuchten sehen. Und was geschieht meinem Baum? Ich weiß, du möchtest am liebsten gleich mit mir losziehen. Gedulde dich etwas. Ich muss darüber nachdenken. Komm morgen. Morgen sage ich dir, was ich entschieden habe. Jetzt aber geh, es ist spät.“

Bei diesen Worten streichelte der Grüngeist Kens Wange. Daraufhin schob er das Kind zum Höhlenausgang und blickte ihm mit glimmenden Stielaugen nach. Er wollte Ken den Pfad etwas beleuchten. Dabei spähte Wallo einen kurzen Moment in das Draußen. Es war ihm ein wenig unheimlich, so wie Ken zuerst die Dunkelheit in der Höhle. Was würde ihn dort erwarten? Dann schlängelte sich Wallo wieder in den Baum und verfiel in einen grüblerischen Wachtraum.

Ken war richtig aufgeregt auf seinem kurzen Wegstück nach Hause. Er hatte einen Vertrauten gefunden. Irgendwie staunte er sehr darüber, wie schnell sie einander mochten. Schließlich kannten sie sich erst ein paar Stunden. „Stunden. Auweia!“, erschrak sich Ken. Es musste schon nach 21 Uhr sein. Er hatte völlig die Zeit vergessen. Der Vater wird zornig sein. Längst müsste Ken im Bett liegen.

Der Vater war zornig. Er fragte nicht lange. Ken hatte kaum die Wohnungstür hinter sich zu und war von den vier Treppen im Laufschritt noch ganz außer Atem, da hatte er schon eine Ohrfeige abgekriegt. Wortlos. Der Vater zerrte ihn mit hartem Griff ins Kinderzimmer und knallte sogleich wieder die Tür hinter dem Jungen zu. Es würde kein Abendbrot geben. Ken fingerte nach der Gummibärchentüte in seiner Jackentasche. Sie war noch fast voll. Wissend, er würde das Magenknurren beruhigen können, zog er sich aus und kroch unter seine Schlafdecke. Während Ken ausgestreckt lag, schob er ein Gummitier nach dem anderen in sich rein und dachte an Wallo…

Wallos seltsame Reise

Cover
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Aus diesem Buch habe ich Euch noch nicht wirklich was vorgestellt: „Wallos seltsame Reise“. Die unglaubliche Geschichte einer Baumseele hab ich 1993 geschrieben als ich meinen Liebsten kennenlernte und er nach sechs gemeinsamen Wochen einen schweren Deprischub bekam. Wir waren damals Scherbenkinder der Wende und ihn hatte der Mut verlassen. Ich schrieb dieses moderne Großstadtmärchen im Grunde für ihn, und es ist ihm auch gewidmet. 2006 hat es der Wiesenburg Verlag veröffentlicht. Aber wie es immer ist mit Kleinverlagen – die dort gedruckten Geschichten und deren namenlosen Autoren bleiben unbekannt. Jede Seite hat zu wenig Kraft. Das ist keine Klage, es ist eine Tatsache. Ein paar Auszüge aus dieser märchenhaften Erzählung stelle ich hier nacheinander vor:

… Es war eben wieder Kens Stunde für den Baum. Das ist immer die Zeit, wo das Viertel sein Nachtgewand überstreift. Es scheint dann ganz so, als fiele der dunkle Himmel über die abgetakelten Mietshäuser wie schwarzer Samt. Zu jener Stunde also huschte Ken gleich einem Schatten durch den Park, unglaublich vorsichtig und fast unsichtbar, denn er wollte nicht den Zugang zu seinem Geheimnis verraten. Kurz vor dem Brennnesselstück schoss es dem Jungen urplötzlich in den Sinn, ob nicht schon irgendjemand vor ihm die Baumhöhle entdeckt haben könnte. Vorzeiten. Und womöglich waren von jenem noch Zeichen im Holz aufzuspüren. Angekommen, entzündete er aufgeregt sein Windlicht, um nach Spuren seiner möglichen Vorgänger zu suchen. Nichts. Oder doch? Sein Blick wanderte hoch hinauf. Nein.

Enttäuscht ließ er sich fallen und sprach halblaut vor sich hin: „Baum, ist denn gar nichts in dir zu finden?“

Der schlafende Wallo. Zeichnung: Petra Elsner
Der schlafende Wallo.
Zeichnung: Petra Elsner

Auf einmal war es Ken, als bewege sich seine Höhle leicht, so als würde sie schwerfällig atmen. Dann räkelte sich die Höhle ächzend, als wenn sie einen sehr langen Schlaf hinter sich hätte. Unter Ken schlingerte der Boden, während etwas zu ihm ins Innere der Höhle sprach:

„Du hast doch mich gefunden und nun meine Stimme geweckt,  ist das etwa nichts?“

Die Stimme grummelte das ganz sacht. Trotzdem erschrak Ken. Er sah sich um, prüfte mit den Händen, ob das Teil um ihn wieder fest war. Nun suchte er nach dem, was da sprach.

„Wo bist du, und wer bist du?“, fragte er mit geducktem Kopf. Aber so konnte er nichts entdecken. Vorsichtig schraubte er sich in die Höhe. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er umher. Dort, wo er hockte, war nichts auszumachen. Es musste aber etwas da sein. Er hatte sich die Sache eben doch nicht nur eingebildet. Oder? Der Junge dachte bei sich:

„Ist mir die Fantasie durchgegangen? Es gibt öfter Leute, die meinen, ich spinne zu viel. Na ja, stimmt schon. Nur, das gerade kann ich mir nicht eingebildet haben. Unmöglich!“ Ken suchte weiter und rief dabei den Baum laut an: „Was soll das? Wenn hier wirklich einer ist, dann zeig dich endlich!“

Augenblicklich fuhr den langen Höhlenschlund ein Gebilde aus grünlichem Licht hinab. Das Ganze wirkte wie eine gigantische Gurkennase mit welken Sehschlitzen. Kurz vor Ken bremste das Ding scharf und formte aus dem Nichts einen vollen Mund, der sogleich wieder dröhnte: „Du hast mich eben erst geweckt, was brüllst du so? Da räufeln sich einem ja die Sinne!“

„Ich dich geweckt? Ich wüsste nicht, wie!“, empörte sich Ken. Er war sich keiner Schuld bewusst. Ja, er hatte mit sich gesprochen und wohl ganz, wie nebenher, den Baum dabei angeredet. Nicht laut. Der muss einen sehr seichten Schlaf haben, oder er war eben schon richtig ausgeschlafen, aber dann brauchte er nicht unbedingt so empfindlich zu reagieren.

Wenn Ken morgens erwachte, war er wach, ungeheuer wach, meinte der Vater ständig genervt. Der ist morgens ein Brumm-Monster. Richtig ekelig. Am besten, man weicht dem Mann mit dem eigenen Wachsein aus. Auf den Balkon oder die Straße. Frühaufsteher haben’s schwer. Es irritierte Ken, dass er zu seiner Traumstunde einen Erwachenden um sich hatte. Weniger verwirrte es ihn jetzt, dass es ein Baum war. Traumplätze sind Orte verwunschener Gedanken, darin ist alles vorstellbar.

Inzwischen hatte sich die Höhle noch einmal flach gestreckt, dann wieder aufgerekelt und dabei ganz wundersam gejuchzt. Ken musste in der Flachstreckphase den Kopf einziehen.

So richtig wach geworden, schlängelte sich das Gurkengesicht noch näher hinab zu Ken. Die Sehschlitze hatten sich etwas weiter geöffnet, und es war Ken, als flackerten ihn daraus zwei galaktische Irrlichter an. Warmgelb. Irgendwo auf seinen Traumreisen waren ihm solche schon begegnet. Er wusste nur nicht mehr genau, wo. Aber ihm war gut bei diesem Anblick. Er fürchtete sich kein bisschen mehr.

Ken sah grübelnd in dieses schwimmende Gesicht. Woher kannte er diesen Ausdruck? Wo war er ihm zuletzt begegnet? Es muss dort gewesen sein, wo er seine Mutter traf. Er hatte es so sehr gewünscht, sie noch einmal wieder zu sehen. Und auf einem sehr, sehr fernen und wirklich lichten Planeten traf er sie endlich nach unglaublich langer Suche. Vater erklärte ihm vor drei Jahren, seine Mam sei nun im Himmel und es ginge ihr gut. Ken konnte das erst glauben, als er sie dort antraf. Diese Irrlichter in dem Gurkengesicht hatten etwas davon: milde Wärme, die Ken so vermisste.

Ken staunte sprachlos das grüne Tier an und fragte sich, was es denn sei. Eine Erdschlange vielleicht? Oder ein Lindwurm?

Er hatte noch nie einen gesehen. Er starrte so verwundert auf das Wesen, dass es sich von selbst vorstellte: „Wundere dich nicht, ich bin nur der Geist des Baumes. All deine Träume habe ich miterlebt, wie ich all die anderen kleinen Träumer vor dir auf ihren Reisen begleitet habe. Es waren stets ähnliche Wünsche von Geborgenheit und Glück.“

„Der Geist des Baumes?“, murmelte Ken überrascht. Ein Baumdrache wäre ihm ehrlich gesagt lieber gewesen. Mit dem hätte er gegebenenfalls die Muskelprotze von der Straße vertreiben können. Aber was fängt man mit einem Baumgeist an? „Ich wusste gar nicht, dass Bäume einen Geist haben“, gab Ken ehrlich zu. Hast du einen Namen?“

„Aber ja, jedes Ding hat einen Namen und einen Lebensgeist. Ich heiße Wallo und solange mein Haus, der tote Baum, steht, werde ich in ihm wohnen. Nur gerufen hat mich halt noch keiner und so schlafe ich schon sehr lange in dem alten Holz.“

„Das ist aber eigentümlich“, fand Ken. Geister spuken doch nachts umher und jagen den Leuten gewaltige Schrecken ein.“ Er wusste das aus Gruselfilmen. Die Geister waren meistens ziemlich aktiv und nicht solche verschlafenen Gesellen wie Wallo. Oder sie waren einfach mal eingesperrt, in einer Flasche, damit sie kein Unwesen mehr treiben können. Derjenige, der sie befreite, hatte drei Wünsche frei. Oder wie in der „Unendlichen Geschichte“, worin Fantasien nur durch kindliche Wünsche leben konnten. „Kannst du auch Wünsche erfüllen?“, wollte Ken von Wallo wissen.

„Ich weiß nicht“, gestand Wallo etwas verlegen, weil er bemerkte, dass ihn Ken für so etwas wie ein Spukgespenst hielt. „Vielleicht habe ich mich dir nicht korrekt erklärt.“ Wallo richtete sich gerade, was ihm einigermaßen Mühe bereitete, da er dazu seine schlangenhafte Gestalt, die er um Ken geringelt hatte, aufgeben musste und pfeilartig hinauf in den Baumstamm schoss. Nun stand er und wiederholte richtig offiziell seine Vorstellung: „Ich bin kein Poltergeist, ich bin die Seele des Baumes.“ …

Wallos seltsame Reise, Erzählung von Petra Elsner, Hardcover, 55 Seiten, mit zehn farbigen Illustrationen, 2. Auflage erschienen im Wiesenburg Verlag 2013, ISBN 978-3-939518-02-0
Preis: 16,90 Euro

Die Maien – grüne Hoffnungsbündel

Frühlingsregen.
Frühlingsregen.

Es war mir ein Rätsel, weshalb in unserem Schorfheidedorf immer zu Pfingsten frisches Birkengrün die Tore, Ställe und Vorgärtchen schmückte. Einfach so, ein paar Zweige, gebunden mit Schnur. Das war und ist so bei den Alteingesessenen, aber woher der Brauch der „Maien“ rührte, konnte mir keiner so recht sagen. „Es ist bestimmt eine Art Schutz für Haus und Hof“, meinte die  Nachbarin rechterhand. Aber weshalb gerade zu Pfingsten?
Ich wollte es genauer wissen und habe mich etwas belesen. Das ist die Essenz: Die Birke gilt seit jeher als Symbol für Kraft und Anmut, Lebenswillen und Trost, für Licht sowie Heiterkeit. Das Aufstellen von Birkenzweigen soll die Freude über das Erwachen der Natur ausdrücken. Die Volkskundler sehen hinter den Maibräuchen eine Art Analogie-Zauber oder auch Analogie-Glaube. Das heißt, die Menschen glaubten, dass bestimmte gute Kräfte der Birke auf den Menschen oder das Vieh übergehen würden. Die Kraft des ersten frischen Grüns sollte beispielsweise die Kühe veranlassen, besonders viel Milch zu geben. Alle alten Maibräuche finden zwischen dem „Säen und Mähen“ statt, also in einer bäuerlichen Atempause. Doch in dieser wohnte die ungewisse Erwartung, wie die Ernte ausfallen würde. Die Maien sind also Ausdruck für die Hoffnung, alles möge sich gut und reichlich fügen.
Keine Frage, seit dem ich das weiß, wird auch unser Hof von Maien geschmückt, denn der fast vergessene Frühlingsbrauch ist ein schöner im dörflichen Leben.

Tannmütterlein erzähl!

Karin Schulze hat für sich das Darstellende Vorlesen als probates Mittel entdeckt, eine Sache für alle Sinne erfahrbar zu machen. Wenn das Tannmütterlein auftritt, erklärt es den Kita-Kindern immer ein Wildkraut. Erst wenn sie viele Kräuter kennen, gehen sie selbst hinaus, um sie zu sammeln. Foto: Lutz Reinhardt
Karin Schulze hat für sich das Darstellende Vorlesen als probates Mittel entdeckt, eine Sache für alle Sinne erfahrbar zu machen. Wenn das Tannmütterlein auftritt, erklärt es den Kita-Kindern immer ein Wildkraut. Erst wenn sie viele Kräuter kennen, gehen sie selbst hinaus, um sie zu sammeln.
Foto: Lutz Reinhardt

Karin Schulze aus dem Schorheidedorf Kappe zaubert Figuren, Kulissen und sinnliche Genüsse:

Hinter den Rabenbergen, tief in der Schorfheide lebt Karin Schulze und zaubert dort ein bisschen – jeden Tag.  Sie kennt jedes Kraut in ihrem Wiesengarten und hat sich ein Kräuterweiblein namens Tannmütterlein gestrickt, das ihr Wissen von der Natur an Kita-Kinder weiter gibt. Die Kräuterkundige ist seit 40 Jahren Erzieherin und hat für sich das Darstellende Vorlesen als bestes Mittel entdeckt, kleine und größere Kinder gleichermaßen  anzusprechen. Für ihre Morgenkreise sucht sie immerzu passende Geschichten, die sie als kunterbuntes, interaktives  Bühnenspiel inszeniert. Alle Sinne soll es treffen. Hier erwachen Hänsel und Gretel, die Raben Kräx und Krox, die Schneefrau Luise … als fein gestrickte Gestalten. Tolle Charakter- oder Blütenköpfe agieren in einem Bühnenbild und die Erzählerin sitzt selbst mittendrin: erzählt, fragt, animiert. Wenn das Tannmütterlein wieder einmal ein neues Kraut vorstellt: Löwenzahn,  Pimpinelle, Giersch, Vogelmiere oder Knoblauchrauke, dann hat die Erzählerin natürlich ein Kräuterbrot dazu gebacken und Wildkräuterbutter angerichtet: Schmecken, riechen, so nistet sich das erklärte Kraut im kindlichen Gedächtnis ein.

Auch mal mit Fingerpuppen kann man einprägend erzählen: Fünf Männlein sind in den Wald gegangen und wollten einen Hasen fangen. Der Erste war so dick wie ein Fass und rief immer: „Wo ist der Has‘? Wo ist der Has‘?“ Der Zweite schrie: „Da, da sitzt er ja!“ Der Dritte war der Längste, aber auch der Bängste. Der fing an zu weinen: „Ich sehe keinen, ich sehe keinen!“ Der Vierte sprach: „Das ist mir zu dumm, ich kehre lieber wieder um!“ Der Kleinste aber, wer hätte das gedacht, der hat den Hasen mit nach Haus‘ gebracht, und alle Leute haben laut gelacht. (Der Autor ist unbekannt, Text stammt von der Internetseite: heilpaedagogik-info.de) Foto: Lutz Reinhardt
Auch mal mit Fingerpuppen kann man einprägend erzählen: Fünf Männlein sind in den Wald gegangen und wollten einen Hasen fangen. Der Erste war so dick wie ein Fass und rief immer: „Wo ist der Has‘? Wo ist der Has‘?“ Der Zweite schrie: „Da, da sitzt er ja!“ Der Dritte war der Längste, aber auch der Bängste. Der fing an zu weinen: „Ich sehe keinen, ich sehe keinen!“ Der Vierte sprach: „Das ist mir zu dumm, ich kehre lieber wieder um!“ Der Kleinste aber, wer hätte das gedacht, der hat den Hasen mit nach Haus‘ gebracht, und alle Leute haben laut gelacht. (Der Autor ist unbekannt, Text stammt von der Internetseite: heilpaedagogik-info.de)
Foto: Lutz Reinhardt

Karin Schulze erklärt: „Das Erzählen oder Vorlesen wird mit verschiedenen Gegenständen ergänzt. So können die Kinder die Geschichten, Märchen oder spezielle Themen mit allen Sinnen erfahren. Riechen, schmecken, hören, fühlen, sehen.  Dabei werden die Morgenkreise für die Kinder noch einmal ganz anders erlebbar. Die besprochenen Themen wirken nachhaltiger, anwendbarer auch auf andere Lebensbereiche und es geschehen Transfers in die Umwelt. In dieser besonderen Erzählatmosphäre kommt die Gruppe zur Ruhe, in der sie dem Geschehen gespannt folgt. Verzaubert tauchen die Kinder ein in die Welt der Fantasie.“
Das ist allerdings nicht einfach mal so geschaffen. Wenn andere vergnüglich beim Sonntagskaffee plaudern, baut Karin Schulze für all das die Kulissen, strickt die Figuren, backt was gebraucht wird. Für die Schneefrau Luise zum Beispiel Schneeflockenplätzchen. Und im Nachtrag des Events fertigt sie eine Wandzeitung mit Fotos vom Morgenkreis für die Kinder zur Erinnerung. Ein mächtiger Aufwand, den die Erzieherin nicht scheut, weil ihr die Freude der Kinder erlebte Akzeptanz zurückgibt. Spürbar auch in herrlicher Vorfreude, wenn die Zwerge rufen: „Oh, Karin, machst du wieder den Morgenkreis! Schön!…“

Karins Puppenspielkorb. Foto: lr
Karins Puppenspielkorb.
Foto: Lutz Reinhardt

Wie sie das so erzählt, beginnt die 61-Jährige zu leuchten und ihre Augen sprühen begeistert. Man spürt das Glück, dass ihr selbst diese eigene Gabe bereitet: Einer Geschichte Gestalt zu geben. Da kann es auch schon mal geschehen, dass sie auf dem Heimweg mit der Heidekrautbahn den Zugbekanntschaften die Geschichte aus dem Morgenkreis abends noch einmal vorspielt. Und ringsherum lauschen viele müde Pendler vergnüglich.
Einen mächtigen Korb voller Figuren hat sie für die vielen Episodenspiele schon geschaffen: Wichtel, Zwerge, Hexen, Tiere und Spielfiguren. Im Grunde könnte die Frau jederzeit eine Puppenbühne eröffnen, aber sie hat anderes im Sinn: Als Privatlehrerin möchte sie gerne Seminare zur Gestaltung von Morgenkreisen anbieten. Das ist eine nahe Zukunftsvision, die als Essenz aus ihrem Berufsleben und ihrem kreativem Schaffen rührt. An einer Zeitschwelle, an der andere eher leiser treten und über ein Rentnerdasein sinnieren, hat diese Frau so ganz andere Dinge auf dem Schirm, nämlich selbst bestimmt ihre Erfahrungsschätze anderen weiter zu geben. Anmeldungen von Interessentinnen hat sie schon.

Petra Elsner