Teetassen (Abschnitt 5 – der Schluss)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:
…Gegen 23 Uhr setzte Toms Mutter ihren schlanken Fuß im roten Schuh auf den Bahnsteig. Annie Kelly war 60 Jahre alt, doch immer noch leichtfüßig wie eine junge Frau. Sie trug taillierte Kleider mit schwingenden Röcken. Ihr Kommen und Gehen war immer zugleich Auftritt. Jetzt stand sie da, als suchte sie nur nach einem Kofferträger. Tom griff nach den weißen Handschuhen in seiner Jackentasche, zog sie an und ging auf seine Mutter zu. Der Klavierlehrer wusste mit aufblühenden und welkenden Diven umzugehen: „Ist es Ihnen recht, wenn ich Ihnen das Gepäck abnehme?“ Annie Kelly nickte blasiert, dann lagen sie sich herzhaft lachend in den Armen.
Während sie ein Taxi suchten und bestiegen, fragte Annie Kelly: „Und Luci, gibt sie mir die Ehre oder hat sie sich verdrückt?“
„Komplett verdrückt. Sie ist gestern Nacht ausgezogen, offenbar für immer.“
Die Abneigung der Frauen war gegenseitig, Annie Kelly brauchte also ihre Erleichterung nicht verbergen: „Du kannst dich nur verbessern.“
Tom seufzte genervt. Ja, er hatte wenig Geschick mit der Liebe, ganz wie seine Mutter, die sich morgen wieder in seinem Tag breit machen würde.
Um Mitternacht stießen die Zwei in der Wohnung an der Schönhauser mit Sherry-Tee auf Toms 30. Geburtstag an. Eine Nachtigall sang dazu im grünen Hinterhof. Irgendwann setzte der Sohn seinen Ein-bisschen-enttäuscht-Blick auf und murmelte: „Und nächstes Jahr, Mam, kommst du nicht nach Berlin. Da steige ich an meinem Geburtstag in den Nachtzug nach Moskau und dort in die Transsibirische Eisenbahn und suche unterwegs nach den schönsten Teetassen der Welt und einem neuen Leben.“

© Petra Elsner
16. Juni 2019

 

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Teetassen (Abschnitt 4)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Die kompakten Männer traten vor das Dienstabteil und baten höflich um einen weiteren Tee. Sie flirteten mit der hantierenden Schaffnerin. Sie schien an den Worten der Reisenden zu wachsen. Tom lächelte in sich hinein und dachte bei sich, jeder braucht so seine Streicheleinheiten. Erst jetzt fiel ihm wieder seine Mutter ein. Ach herrje, wie konnte ihm das nur passieren? Er sah nach der schönen Lika am Samowar und wusste weshalb. In Frankfurt an der Oder verabschiedete er sich von ihr, dankte für die Teestunde und sie schenkte ihm das bewunderte Glas im fein ziselierten Halter. Wenn Russen einen ins Herz schließen, verschenken sie glatt ihr letztes Hemd. Tom nahm das Glas gerne an und winkte der Frau in dem anfahrenden Schnellzug noch einen Moment lang nach. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig stand die Regionalbahn der Linie R1, die den Teetrinker ein paar Minuten später zurück nach Berlin brachte. Leider war das Begleitpersonal dieses Zuges nicht annähernd so charmant wie die schöne Lika. Er fing sich erst einmal einen schroffen Rüffel ein, weil er die Bahn ohne Fahrschein betreten hatte. Nur sein Ein-bisschen-enttäuscht-Blick rettete ihn vor einer satten Strafzahlung. Der Spielraum dieser Menschen in Uniform ist mächtig.
Am Ostbahnhof war der ICE aus Hamburg noch immer nicht eingetroffen. Irgendein Stellwerk auf der Strecke funktionierte nicht. Ein Glück für Tom. Was hätte er seiner Mutter erklärend sagen sollen: Ich war im Nachtzug nach Moskau ein Stündchen Teetrinken? Das hätte sie ihm nie geglaubt…

© Petra Elsner
15. Juni 2019

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Teetassen (Abschnitt 3)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Sie stand in dieser Wagentür stolz und anmutig, aber auch ein wenig hochnäsig in ihrer schicken Uniform. Irgendetwas an ihr kam Tom vertraut vor. Nur was war das? Er wusste es nicht. Seine Augen fixierten die Frau während seiner Erinnerungssuche und sie fühlte sich seltsam von seinem Blick berührt. Sie sah zu dem Wartenden und fragte in fließendem Deutsch: „Auch einen Tee?“
Tom stutzte, nickte, stand auf, hob sein Päckchen mit einer Hand in die Höhe und meinte: „Ich habe sogar Tassen dabei.“ Nach diesem Satz zuckte er innerlich zusammen: Wie blöd war das jetzt? Er stand noch unbeholfen mit seinem Karton in der Luft, da winkte die Schaffnerin schnippisch ab:
„Meine sind schöner, komm!“
Tom dachte nichts mehr, er stieg ein, der Zug ruckte und fuhr los. Vergessen war die Mutter im ICE. Die Schaffnerin duftete nach Orchideen. Sie schob ihn zu einem Platz im Dienstabteil am Ende des Gangs, neben dem ein mit Holzkohle beheizter Kessel siedendes Wasser bereithielt. Er sah ihr fasziniert zu, wie sie aus einem kleineren Teekessel etwas Sud in eins dieser prächtigen Gläser goss und es mit heißem Wasser aus dem Samowar auffüllte. „Das ist russische Teekunst“, säuselte sie selbstbewusst.
Er nippte vorsichtig: „Oh, wunderbar aromatisch! Wie bereitet man ihn zu?“
Sie setzte sich zu ihm und erklärte ihm das Samowar-Prinzip: „Russischen Tee lose in den Teekessel geben. Für jede geplante Tasse einen Teelöffel voll. Ein wenig Wasser dazu, dann den Teekessel auf den Wasserkessel setzen und mit kochendem Wasser auffüllen. Etwa ein Viertel des Wasserkesselsinhaltes. Nicht länger als 20 Minuten ziehen lassen. Das geht nur mit Russischem Schwarztee. Du kannst nicht irgendeinen anderen dafür nehmen, sie werden alle zu schnell bitter. Ausgenommen Türkischer Tee, der tut es auch.“
Sie schwiegen und tranken ihren Tee. Draußen flog die Landschaft vorbei…

© Petra Elsner
14. Juni 2019

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Teetassen (Abschnitt 2)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… In den Allee-Arcaden fand er nicht, wonach er suchte. So lief er zielstrebig den Prenzlauer Berg hinunter zum Alexanderplatz. Dort, im S-Bahnhof, hatte er neulich ein Bremer Teekontor entdeckt, das neben hochwertigen Tees aus aller Welt auch elegantes Glasgeschirr anbot. Noch schlenderte er durch den Straßenlärm und die feinstaubschwere Luft, dann lief er immer schneller. Das Leben an dieser Straße sah so schön bunt und lebendig aus, aber war im Grunde eine Zumutung für Körper und Seele. Die Enge, die Fülle, der Gestank und der Schmutz machten die Menschen aggressiv. Sie schnauzten und rempelten einander an. Der Verkehr staute, die Straßenbahnen quietschten, die Hochbahn ratterte, auf dem Gehweg sauste ein Radfahrer haarscharf um eine Mutter mit Kinderwagen. Tom stockte der Atem.
Als er am Alex Teetassen und seinen Irish Blend ergattert hatte, stieg er in eine volle, stickige S-Bahn, Schweißperlen traten auf seine Stirn und jemand rammte ihm seinen Ellenbogen ins Kreuz. Tom setzte seinen Ein-bisschen-enttäuscht-Blick auf und erreichte so schadlos den Ostbahnhof. Eine Computerstimme quäkte durch die Halle: „Der ICE aus Hamburg verspätetet sich! Wir bitten um Verständnis und um Geduld.“ Verschnaufzeit, dachte Tom, suchte sich eine Bank und wartete. Das Tassenpaket wippte mit dem Sekundentakt der Bahnsteiguhr nervös auf dem Schoß. Wo würde Luci jetzt sein? Kurz vor 20 Uhr lief ein Schnellzug der Russischen Bahngesellschaft RZD in das Ferngleis ein. Die Wagentür öffnete sich und eine junge Schaffnerin schaute mit einem Teeglas in der Hand nach Passagieren für den Wagen 212. Zwei kompakte Männer mit großen Plastiktaschen stiegen ein. Die Schaffnerin prüfte ihre Fahrkarten und Reisepässe, dann starrte sie nach der Uhrzeit auf dem Bahnsteig. Noch zwei Minuten. Sie schlürfte an ihrem heißen Tee und Tom starre währenddessen auf den feinziselierten Teeglashalter aus Silber in ihrer Hand…

© Petra Elsner
13. Juni 2019

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Teetassen (Abschnitt 1)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

Ein bisschen enttäuscht blickte er in die Neige seines Sherry-Glases. Nein, der hellgoldene Aperitif mit seiner trockenen Note war nicht schuld daran. Sie war nicht zurückgekommen. Er würde jetzt stundenlang orakeln, weshalb sie ihn wirklich verlassen hatte. Ein Gedankenbandwurm würde wachsen: Hätte sich seine Mutter nicht angekündigt, wäre es nicht zum Streit gekommen; Luci hätte nachts um drei Uhr nicht wirklich alle Tassen schreiend an die gegenüberliegende Hinterhofwand geworfen und damit die Nachbarschaft geweckt, die nun weiß: Luci hasst seine Mutter und ist gegangen. Hätte Tom seine Mutter ausgeladen, wäre er jetzt nicht allein, aber er hatte den irischen Dickschädel seiner Mutter geerbt. Doch war es wirklich der Grund für Lucis Flucht aus seinem Leben oder war die mütterliche Besuchsankündigung nur ein passender Anlass? Tom schüttelte seinen Kopf, er wollte das alles nicht bedenken, goss sich den zweiten Sherry ein, trank ihn in einem Zug aus und verließ sportlichen Schritts die Wohnung an der Schönhauser Allee. Er musste Tassen kaufen, feine gläserne Teetassen…

© Petra Elsner (Text & Zeichnung)
12. Juni 2019

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Der Grenzgänger (Schluss)

Abschluss der Kurzgeschichte:

… Die Woche über war Tonio Krüger wieder schlicht der Jungschlosser in der Hinterhof-Fabrik am Hackeschen Markt. Freitagabend beklebte er Litfaßsäulen mit Kino- und Theaterplakaten und verdiente sich so das Trinkgeld für die nächste Sonnabendnacht. Sonntags schrieb er immer die nächste Geschichte für Terese. Als Tonio an diesem Sonntag endlich erwachte, war es schon fast Nacht. Der Vollmond stand groß über den Dachfirsten und der Steinstraßenpoet schrieb die Geschichte vom Mann im Mond. Ein Liebespaar hockte auf dem Dach gegenüber und es sah so aus, als wohnten sie in der goldenen Scheibe. Also schrieb er: „Eines Abends stieg das Silbermondmädchen hinab auf die Erde. Es hatte ihn lange beobachtet, den Mann auf dem Dachfirst, der tanzend die schönsten Mondlieder sang…“.
Sein Schatten kicherte neben der Nachttischlampe: „Du bist ja verliebt, Alter!“
„Schweig, du störst meine Gedanken!“
Aber der Schatten sprach ungerührt weiter: „Das wird Probleme geben.“
„Ich weiß“, murmelte Tonio und schrieb: „Normalerweise wohnte das Silbermondmädchen unsichtbar im Mondschatten. Aber bei so einem Supermond war der Weg zur Erde scheinbar nicht weit. Wahrheit oder Täuschung? Sie wusste es nicht und sprang trotzdem…“
„Das sollte sie besser lassen. So ein Sprung ins Ungewisse kann tödlich enden,“ nörgelte sein Schatten.
„Nicht im Märchen!“
„Aber Terese ist kein Märchen.“
„Sie will in die Freiheit springen, so ein Drang lässt sich nicht aufhalten.“
„Du wirst leiden.“
„Ja.“

Sonnabendnacht klingelte Tonio im Morgengrauen abermals beim Christlichen Hospiz. Als sich die Tür öffnete und das Neonlicht auf ihn fiel, sah er in zwei alte Augen. „Ist Terese nicht da?“
Der Mann räusperte sich und blickte besorgt hinaus auf die Straße als fühlte er sich beobachtet: „Sie ist weg. Geh jetzt, ich will keinen Ärger.“
Tonio rührte sich nicht. Er sah den müden Nachtwächter an und fragte vorsichtig: „Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Gegen ein Bier, für ein Stündchen an der Rezeption?“

© Petra Elsner
7. Juni 2019

 

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Der Grenzgänger (Abschnitt 3)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Sollte man sie daran gleich erkennen? Wie ein Achtungszeichen: Wir haben dich im Visier! Aber der Raucher auf der Bank fürchtete sich nicht vor seinem Beschatter. Er war ihm egal, vielleicht hatte er einfach schon zu viele von denen gesehen, er verachtete sie still. An diesem Sonntagmorgen aber war etwas anders. Er sah seinen Schatten im Licht. Eine ärmliche Gestalt, ausdruckslos. Irgendetwas reizte Tonio, ihn einfach anzusprechen. Er stand auf und schlenderte auf den Mann mit dem Handgelenktäschchen zu. Der zuckte regelrecht zusammen als der Grenzgänger ihn ansprach: „Na, meinste nicht, dass du hier an der falschen Ecke stehst? Die mit dem Täschchen wedeln treffen sich eigentlich unter der Hochbahn, gleich neben Currywurst-Konnopke oder in den Offenbachstuben.“
Der Schatten empörte sich: „Ich wedle nicht mit dem Täschchen und bin auch nicht vom anderen Ufer.“
„Sieht aber so aus.“, erwiderte Tonio amüsiert.
„Grins nicht so frech!“
Tonio wagte sich aus der sprachlosen Deckung und witzelte: „Eigentlich können wir uns doch ein bisschen unterhalten, während du mich verfolgst. Ist nicht so langweilig. Was meinst du?“
Der Schatten war irritiert. Er wusste einfach nicht, wie er reagieren sollte. Dass eine Zielperson ihn einfach ansprach, war ihm noch nie passiert. Im Grunde war seine Observierung jetzt sinnlos. Tonio Krüger würde ihn wissentlich garantiert nicht in subversive Kreise einführen. Wenn, dann unbewusst. Krüger ging über alle Flüsse der Stadt. Er blieb nicht nur in seinem Viertel, wie so viele andere, und unterhielt Kontakte in alle Unter- und Aussteigerwelten der Stadt. Dass machte ihn für die Stasi interessant. Als Tonio weiterging, lief sein Schatten wortlos neben ihm auf.
„Steck die Tasche in deinen Blouson, ich will nicht in den Kieztratsch geraten, so oder so,“ zischte Tonio. Der Spitzel kam dem Verlangen nach und fragte: „Wohin gehen wir?“
„Wir, gehen nicht weit miteinander. Keine hundert Meter.“ Ecke Steinstraße war endlich das Fenster der Schwester weit geöffnet und Tonio drehte schlagartig nach rechts ab: „Ich geh jetzt schlafen, ohne Schatten versteht sich.“
Der Spitzel stand noch ein Weilchen wie angewurzelt, dann ging auch er…

© Petra Elsner
6. Juni 2019

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Der Grenzgänger (Abschnitt 2)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit
… Er bewunderte ihre Verwandlungen: Immer, wenn er von seinem Blatt am Ende der Geschichte aufsah, schien es ihm, Terese hatte etwas von jener Gestalt angenommen, die der Geschichte entsprang. Jetzt ähnelte sie seinem Silbermondmädchen, doch es blieb keine Zeit mehr, sich daran zu erfreuen. Die Nachtschicht an der Rezeption endete und draußen würde gleich die Sonne aufgehen. Tonio begleitete das Silbermondmädchen noch ein paar Schritte. Als sie sich Ecke Weinberg-/Rosenthaler Straße verabschiedeten, rauschte durch einen Schacht unter ihren Füßen ein kräftiger Luftzug. Tereses Sommerrock flog auf, wie einst das Kleid der Monroe. Die West-U-Bahn durchquerte hier streng bewacht Ostberlin und erinnerte Tonio daran, dass Terese einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Bald würde er seine Zuhörerin verlieren. Für immer. Sie wusste, dass er das gerade dachte, lächelte errötend und ging.
Tonio lief über den Alten Garnisonsfriedhof an der Kleinen Rosenthaler, den in dieser Zeit die Anwohner als Park nutzten. Das Windlicht im Fenster der Schwester brannte noch. Das verabredete Zeichen, dass er noch nicht erwünscht war. Gegen alle Gewohnheiten musste sich die bleiche Nachtgestalt im Licht des Tages blicken lassen. Er hockte sich auf eine Parkbank und rauchte seine letzte „Karo“, als ihm jemand diese Worte über die Schulter bröselte: „Na, willst du dir die schöne Kneipenbräune versauen?“
Tonio blickte sich um und sah nichts, außer seinen dünnen Schatten.
„Hast du auch schon was zu sagen? Ein Schatten hat zu schweigen, wenn er einen schon begleiten darf.“
„Och, ich kenne da Schatten, die willst du nicht haben.“
„Ich meinte ja auch nur die echten Schatten.“
„Den anderen hast du aber auch, wegen Tereses Antrag.“
„Weiß ich doch!“, fauchte Tonio die dunkle Silhouette hinter sich an. Die Sonne blendete den jungen Mann. Er blicke hinüber zur anderen Parkseite. Da stand er in seiner hässlichen blauen Windjacke, am Handgelenk ein Täschchen. Wie peinlich das aussieht, dachte Tonio. Geradezu ätzend. Und alle diese Typen haben das gleiche an …

© Petra Elsner
5. Juni 2019

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Der Grenzgänger (1. Abschnitt)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:
Der Grenzgänger zwischen Tag und Nacht lief in die Dämmerung. Ehern, denn er konnte nicht vermeiden, dass die nächste Stunde den Vogelgesang anstimmen würde und er indem den Blicken der Welt entfloh. In einen Tagschlaf in einer lichtlosen Kammer. Nein, er gehörte nicht zur Familie der Vampire. Seine Sippe stammte aus dem Berliner Scheunenviertel und hatte nie wirklich gute Tage gesehen. Vielleicht war der Neunzehnjährige deshalb in die Nacht abgetaucht. Seine Schwester bot ihm in dieser schmalen Kammer einen Unterschlupf. Wenn das Geld knapp war, verkaufte sie ihren Körper auf der Friedrichstraße. In solchen Nächten trank der Grenzgänger mehr als zu viel, denn er liebte seine große Schwester und konnte es nicht ertragen, dass mit ihr die nächste Generation der Familie auf den Strich ging. In der Steinstraße lebte immer schon das ärmste Arbeitermilieu, dass sollte erst mit der Edelsanierung in den 1990er Jahren enden sollte. Doch in dieser 70er-Jahre-Nacht hing das traurigste Grau an den kriegsversehrten Fassaden. In der Auguststraße 80-82 drückte er die Nachtklingel vom Christlichen Hospiz. Wenn Terese Dienst hatte, konnte er die Nacht am Rezeptionstresen verbringen. Eine Flasche Bier für eine Geschichte, dass war ein festes Versprechen. Der Schlüssel klackte und Neonlicht fiel auf die wartende Gestalt: „Ah, Tonio, du schon wieder!“ Der Grenzgänger winkte mit einem karierten Zettel und bekam Einlass. Terese rieb sich die müden Augen und stellte dem jungen Mann ein Pils vor die Nase. Er räusperte sich, nahm einen kräftigen Zug aus der Flasche und begann zu lesen. „Kinder der Nacht: Wenn die Sonne im Horizont versinkt erwachen sie, die blassen Wesen und beginnen schwach zu funkeln. Das Silbermondmädchen und die großen und kleinen Sternenjungen. Sie blinzeln einander zu, aber keiner kann den anderen erreichen…“ Tonio las und es schien währenddessen ein sanfter Schein von ihm auszugehen – in stilles Glücksleuchten, denn Terese war eine gute, aber seine einzige Zuhörerin. …

© Petra Elsner
Juni 2019

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Sommermorgen

Der Bär fegte gerade die Seifenblasen aus dem Traum, als Rose erwachte. Sonntagmorgen. Die Stadt döste noch und mutete fast dörflich an. Nur ein paar Kirchgänger im Sonntagsstaat und eine streunende Katze begegneten der Vierzigjährigen auf ihrem Weg zur Hoflesung in der Kastanienallee. Rose fuhr entspannt auf ihrem Hollandrad, mit geradem Rücken, in einem Leinenkleid mit Sommersträußchen. Sie hatte sich schön gemacht für den Dichter, den sie gestern erst bemerkt hatte, in ihrem Café an der Sredzkistraße. Plötzlich saß er bei der launigen Abendrunde. Eine schmale Gestalt im langen Mantel und rotem Schal. Er sagte nicht viel, er hörte zu und lächelte in seinen Rotwein. Als er ging, schob er Rose eine Einladungskarte zu, die sie heute Morgen auf diesen Weg brachte. Die Straßenbahn quietschte unter der Hochbahn über die Kreuzung und spuckte vor dem Kastanienhof eine Menschentraube aus, die offenbar dasselbe Ziel hatte. Rose steuerte in den geräumigen Hinterhof, stieg graziös vom Rad, schloss es an und suchte sich einen guten Platz.  Nun hockte sie auf einer, der unzähligen Bierbänke unter dem sattgrünem Blätterdach der Kastanien in guter Sicht zur Bühne. Die bestand aus einem entsetzlich schief gestapelten Podest aus Europalenten, obenauf ein alter Schemel. Der Dichter hatte Mühe den Bretterberg zu besteigen, er war schließlich kein Sportler, sondern eher ein gemütlicher Flaneur.
Berthold Diehl begann zu lesen, Liebesgedichte, herznah und zerrissen. Ab und zu fiel sein Blick beim Aufschauen auf Rose in ihrem schönen Kleid, das ihrer fein gebräunten Sommerhaut eine aufreizende Note gab. Sie wusste das genau und der Dichter aus dem Hunsrück schien verzaubert. Es war gerade so, als wäre jedes Wort für sie geschrieben. Doch da legte sich auf einmal ein leises Lustgestöhn über die Poesie des Dichters. Es drang aus einem weit geöffneten Fenster im Quergebäude des vierten Stocks. Und es wurde lauter und die Zuhörer grinsten breit, manche kicherten, denn dieses rhythmische Stöhnen brachte den Dichter völlig aus dem Konzept. Er stammelte sich durch die Seiten und Rose zog genervt die Brauen hoch. Als es endlich wieder still wurde hockte die barocke Stöhnerin, eingewickelt in ein weißes Laken im Fenster, hörte dem Dichter zu und klatschte begeistert als er endete. Berthold Diehl stieg von dem wackligen Podest, erst dann konnte er schwindelfrei zu der Frau im Fenster hinaufsehen. Er verbeugte sich mit großer Geste vor ihr und ging.

© Petra Elsner
24. April 2019

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