Rosenblütenblätter (Die ganze Geschichte)

2016 habe ich an dieser Kurzgeschichte öffentlich hier im Blog gearbeitet, irgendwann kam ich nicht weiter, ich wusste nicht, dass ihr im Grunde nur noch ein Schlusskapitel fehte. Das habe ich heute hinbekommen:

Rosenblütenblätter

Sie war schwer von der Leere und die Stille flüsterte: schlaf. Aber das Pfeifen in ihren Ohren wollte den Schlaf nicht kommen lassen. Sie stand auf, wie sie immer aufgestanden war. Weich in den Knien, doch mit jedem Schritt schob ihr Wille den Antrieb. Im Garten duftete die zweite Rosenblüte. Von den Essigrosen pflücke sie sich eine Handvoll Blütenblätter, trug sie in die Küche, schnitt das bittere Gelb heraus, gab sie in eine Glaskanne, dazu ein Salbeiblatt und übergoss alles mit heißem Wasser. Sie wartete zehn Minuten auf den Rosenblütenblättertee, der Herz und Seele leicht machen sollte. Das hoffte sie mit jedem bedächtigen Schluck, dann endlich lief sie in den Tag. War es noch Sommer oder schon Herbst? Viel Braun mischte sich schon in das Laub der Bäume, deren Blätter welk in der Hitze zu Boden fielen. Seit Wochen war kein Tropfen Regen gefallen, deswegen goss sie die Pflanzen nun auch in dieser Morgenstunde, bevor sie an ihren Schreibplatz ging. Heute würde sie nur Worte sammeln, denn sie wusste noch nicht, wohin sie sie führen würden. Sie hatte all ihre Kraft in den letzten großen Text fließen lassen, nun war sie weg. Für ein Weilchen oder auch länger, auch das wusste sie nicht. Aber sie erinnerte sich an die Worte ihres Methodik-Professors, der den gestressten Fernstudenten immer riet: „Schaffen Sie sich jeden Abend zur selben Zeit, die gleiche Situation: Ein Punktlicht, das die Umwelt ausblendet. Denken Sie nicht an die Verrichtungen, die auch auf Sie noch warten. Nur Sie im Lichtkegel und das Buch oder Blatt vor Ihnen. Sagen Sie ihrem Körper mit diesem immer wiederkehrenden Ritual: Du musst jetzt nochmal zwei Stunden etwas leisten. Wenn Sie zu müde sind, sortieren Sie einfach Karteikarten oder etwas in der Art, aber im Lichtkegel der Lampe …“. Damals gab es noch keine Computer, aber als sie fünf Jahre später auf die Schreibtische rückten, war es genau diese Situation, die Nora trainiert hatte. Das Licht und ihr sprudelnder Geist. Und wenn der schweigt – sammeln und sortieren.

Die Zeit frisst sich wie eine rasende Flamme durch diesen Tag. Getrieben vom Wind, der Wortfetzen aus dem nahen Wald heran weht. Es sind ihre Kopfgestalten, die darin tuscheln und säuseln. Nora sieht sich in einem Gedankenblitz, wie sie mit einem Kescher deren Töne zu erhaschen versucht. Aber sie sind unsichtbar im Zeitenwind, nur ein höhnisches Lachen dröhnt aus den Böen. „Hihihihi, siehst du sie, unsere Geschichtenmutter? Sie hat uns alle erfunden, aber wir wärmen sie nicht. Sie hat keinen, der ihr beisteht.“ Nora nickte und dachte, das stimmt. Aber es hilft nichts, ihre Reise geht weiter. Die letzte Passage wird es sein, und auch sie führt in einen großen Wald. Einen ohne Wegelagerer, die und auch die Räuber sind längst in die Städte gezogen, dort ist die Menschenjagd leichter. In diesem neuerlichen Geschichtenwald wehen die Stimmen derer, die noch gehört werden müssen. Sie wohnen in einem wilden Rosenbusch auf einer versteckten Lichtung. Doch zuvor muss Nora das stumpfe Feld der welken Träume überqueren.

Dusterbusch ist ein malerisches Wort und Dunkelwald ein mystisches.  Nora sammelt. Sie berührt dabei vorsichtig Bruchstücke. Zerbrochenes Leben: Die schlesische Weberin und der böhmische Glasmacher. Mit leeren Händen verjagt, fremd und arm mit ihren Kindern geblieben. Fortan geduckt unterwegs. Ihr Wanken schwappte in Noras Wiege, unerklärt ängstlich.  Wie sollte sie stark für das Leben werden? Lange ging das nicht. Sie musste erst selbst fallen, sich irren, aufstehen, Mut fassen und aufbrechen in ihre Welt. Im Finsterland atmete das Dunkel. Aus ihm zog Nora lichte Gestalten, als hätte sie sie schon im geschliffenen Glas des Großvaters als Sonnenfunken gesehen. Im Schattenland aber war die Verabredung „Leben und leben lassen“ verwirkt. Hier übertrat das Leben jede Schmerzgrenze. Ohne Erbarmen, ohne Empathie.

In der Birke wippte ein alter Rabe im dürren Geäst mit dem Wind. Sie mochte den fernen, knarrenden Vogel. Immer schon. Sie schenkte ihm einen gutmütigen Blick und starrte dann abermals abwesend in ihre große Leere. Plötzlich erhob er sich der Vogel und segelte zu der müden Frau. Dicht vor ihr landete er, hüpfte noch ein paar knappe Sprünge näher, rückte seinen Kopf zweimal zur Seite und starrte sie mit einem schrägen Blick an. Ohne einen Laut. Dann sprang er zu ihr auf die Gartenbank. Ihre Hand zuckte dabei und der Schwall aus ihrer Teetasse malte einen gelben Himmel in den weißen Heidesand. Die Zwei wussten sofort, dass diese Teespur ein Himmelsbild sein könnte – ein Zeichen für ein unendliches Gesprächsthema: Das Wetter. Sie blickten sich wie Verschworene an, und der Rabe sprach auf einmal rostig: „Das Wetter fühlt sich heute mies an, es heult zu sehr.“
Nora lächelte und spöttelte zurück: „Das Wetter hat sich übernommen, versonnen seufzt es arg beklommen.“ Der Rabe nickte, gluckste heiter und flog davon.

Weise Töne des Herzens pochten unter Noras Haut: Geh weiter. Lass Dich nicht ausnehmen. Bleib ganz bei dir. Hangle nicht nach Verderblichen. Die Frau wollte nicht mehr Klimmzüge an Kunsthändlern stemmen, die sich wie Hausverwalter aufführen oder verbeamtet, nur sich selbst versorgen. Sie tragen dazu die schönsten Federn der Vogelfreien, unbezahlt oder gegen ein Trinkgeld. Nora aber musste niemandem mehr etwas beweisen. Lass los, steige vom Tretrad. „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“, ließ Michael Ende seine Momo sagen. Und Nora wusste, ihre Lebenszeit tickte. Sie hockte auf dieser Eichenbohlenbank im Garten und sinnierte: Augenfänger ist ein schönes Wort und „nur mit den Augen berühren“ eine kluge Ansage. Nora sammelte für ihre nächste Erfindung, die nur ihr gehören würde.

Über das Kopfsteinpflaster holperte in der Mittagsstunde ein Pferdegespann. Die schwarzen Rösser schnauften in den gezogenen Zügeln. Ein Mann im Frack stieg vom Wagen und läutete die Glocke am Tor. Nora schreckte aus ihren Gedanken.  Sie fing mit beiden Händen ihre windzerzausten langen Haare ein und fingerte noch mit dem Gummi, während sie die Hoftür öffnete. Die dunkle Erscheinung zog den Hut, verbeugte sich und hielt ihr auf einem schwarz gelackten Tablett ein Briefkuvert entgegen. Nora griff verstört nach dem Schreiben, auf dem in einer geschwungenen Handschrift „Einladung“ stand. Sie öffnete behutsam den Umschlag und das eingesteckte Blatt. Es war leer. Der Mann sah sie fragend an: „Und, was soll ich ausrichten, werden Sie kommen?“
Nora antwortete entgeistert: „Wenn ich wüsste wohin, könnte ich Ihnen vielleicht antworten, aber so?“ Sie wedelte das leere Blatt. Der mysteriöse Bote wusste, er würde jetzt keine Antwort bekommen. Er bestieg seinen Wagen und orakelte noch: „Sie wenden es wissen, wenn Sie aufbrechen.“ Dann löste er die Zügel der Rösser und verschwand mit dem nächsten Luftzug.

Sie trug kein dickes Fell, nur eine dünne Haut in diesen frischen Morgen. Kühle Feuchte hing noch im Birkengeäst, aus dem der Rabe knarrte: „Nebliger Morgen verhüllt alle Sorgen.“  Nora sah auf, ihr Blick suchte nach Schemen in der Dunstwolke. Erst als der Rabe die Flügel hob, entdeckte sie ihn in den milchigen Schleiern und konterte: „Ein vernebelte Blick bricht schnell das Genick.“
Ihr neuer Freund aus der Landschaft segelte zu ihr und spazierte stumm mit Nora durch das tropfnasse Gras. Sie fröstelte und fingerte nach dem Briefkuvert in ihrer Jackentasche. Seit Tagen trug sie es ratlos mit sich. Nun zog sie es aus hervor und entfaltete das eingesteckte Blatt. Wohin sollte sie diese leere Seite führen? Auf dem weißen Grund erschienen plötzlich Worte. Nora staunte erschrocken: „Rabe, sieh, plötzlich steht hier etwas.“
Der Schwarze hüpfte auf die Frau zu, drehte neugierig seinen Kopf zur Seite und sie las ihm die Zeile vor: „Besinn dich auf das, was du bist, und lass dich nicht entmutigen.“ Kaum gelesen, verlöschten die Worte.
Das ist schwer, dachte Nora und sprach die Worte des erloschenen Zettels nochmals leise vor sich hin „Besinn dich auf das, was du bist, und lass dich nicht entmutigen.“ Der Fluss der Zeit reißt schon lange an ihren stützenden Flanken. Kratzt am Stolz und spült die Gewissheiten davon. Aus den Schrammen perlt Angst. Die bekämpfte die Frau immer schon zuerst. Denn die Angst spukt und treibt die Gespenster im Kopf an. Bis zur Schockstarre. Gegen diese Angst setzt Nora alle Tage eine schöne Empfindung: Eine Zeichnung, eine kluge Zeile, einen Liebesbeweis. In diesen Momenten stärkt sie sich selbst und gewinnt ein Lächeln im Tag. Aber reicht das für den inneren Aufbruch? Der Wandel all ihres Seins ist unübersichtlich. Sie muss sich dafür rüsten. Wandel ist Risiko. Eine Stimme aus dem Off ruft ihr belehrend zu: „Wandel ist Chance!“ Herrje, dass weiß Nora natürlich auch. „Es kommt auf die Perspektive an!“, murmelt die Frau der virtuellen Stimme auf der sicheren Ebene zu. Die schweigt daraufhin und Noras Gedanken fließen weiter:  Wohin sollte sie aufbrechen?

Unter ihren Schritten raschelte das Laub. Mit jedem kleinen Luftzug wirbelte es golden zu Boden. Heitere Vergänglichkeit. Der Tag glänzte eben noch, als ein kalter Wind auffrischte. Der schluckte die Rufe des Raben weit oben im Blätterdom. Nora lief und lief. Das war längst kein Waldspaziergang mehr. Unmerklich war sie aufgebrochen, einfach weiter gegangen ohne Ziel und Absicht. Unterwegs schien es ihr, als würde sie von Stunde zu Stunde leichter. Nicht wie ein flüchtiges Gas. Die Gedankenschwere bröckelte und verwandelte sich in ein leichtes, stilles Lauschen, und der Wald lauschte nach ihr. Nora lief ohne zu suchen. Im Abendrot gelangte sie an eine Lichtung. Ein Bachwasser plätscherte und zog die Frau zu einer Baumbrücke. Sie sprang auf den mächtigen Stamm und balancierte hinüber zum anderen Ufer, wo ihr ein dunkler Mann im Frack die Hand reichte: „Ich habe lange auf Sie gewartet.“

Nora erinnerte sich plötzlich. Eines Morgens, als die Sonne gleich wieder im Wolkengrau unterging, stand er vor ihr: Im Frack mit einem Cellokasten in der Hand, betrat er das gläserne Café am Berliner Alexanderplatz. Er setzte sich zu ihr und ihrem Morgentee und plauderte oktavenreich wie vom andern Stern in ihr dumpfes Erwachen. Als er ging, fühlte sie sich eingeladen. Aber in dieser frühen Novemberstunde war sie zu einem Abenteuer noch nicht bereit. Die Verpflichtungen zerrten sie artig weiter. Vierzig Jahre lang blieb sie auf dem dünnen Pfad der strengen Regeln. Die Wahrnehmung jenes Morgens aber, blitzte manchmal als schillernder Traum-Ton in ihre kreisende Gedankenwelt. Jetzt, als sie nach seiner Hand fasste, hörte sie den feinen Klang klarer, lauter.

Als sie von der Baumbrücke ins Moos sprang, schwollen die Töne zu einem Requiem an, trunken vor Schwere, als wollten sie zu Bleitropfen werden. Doch da schwebten im Totentanz der Zeit flirrende Stimmen vom Dunkel ins Licht. „Komm, Nora, tanz‘ mit mir!“  „Schwing dich auf den Wind!“ „Dreh dich geschmeidig und kreise nicht die Gedanken!“ Die Stimmen kicherten und lockten. Aber die Frau war schwer von der unsäglichen Traurigkeit in dieser Welt. Jeder Tag eine Träne. Salzige Zeittropfen, in denen die Gedanken nicht frei sind. Sie laufen Schleife. Aber dennoch war sie ja aufgebrochen, als wüsste etwas tief in ihr den Weg. Leichter waren unterwegs nur die Schritte geworden.

Als er sie den Hang hinaufzog und ihr der Atem stockte, entschloss sie sich zu kämpfen. Auf dem Sandweg angekommen, löste der Mann im Frack ihren festen Griff und stieg flink auf den Kutschbock. Es sah so aus, als wollte er gleich wieder im Nichts entschwinden. Da rief Nora bestimmend: „Was ist los Kutscher, willst du ohne Passagier reisen?“ Der Dunkelmann sah sie lächelt an, sprang zurück auf den Weg, senkte den Blick, öffnete galant den Kutschenschlag und sie stieg ein. Auf dem roten Polster lag ein neues Kuvert. Als sie es nahm, zog die Kutsche heftig an, so dass es sie in die Kissen drückte. Eine rasende Fahrt begann. Hinter dem Fenster rauschten der Wald und später ein offenes Wellenland wie in einem Sog vorbei. Schauerbilder blitzen dazwischen auf: Ein Wütender mit Trillerpfeife, ein krummer Späher und eine graue, verschlagene Diebin. Sie versuchten die Fahrt zu stoppen – bleich vor Neid und Gier. Doch die zwei Schimmel waren schneller. So entkamen sie jenen Bildern, die der Schmerz gebiert. Wahrheit oder Rausch? Der Kutscher warf einen Schatten, also mussten er und die Situation wirklich sein.

Die Zeit schwamm. Noras Haut hatte an diesem Morgen plötzlich wieder einen frischen Schmelz. Sie perlte sich unmerklich aus dem Dunkel ihrer wunden Seele. Hatte sie die verzerrten Echos der Vergangenheit verstanden, gezähmt und damit verwunden? Nein, soweit war es noch nicht. Die alte, verbrauchte Zeit griff immer noch nach ihr und fraß die leise keimende Energie.  Nora reiste, aber noch trat sie dabei auf der Stelle. Wie würde sie dem Bann entkommen? Und wann würde ihre Reise durch den Schmerz der Zeit enden? Der Kutscher hielt, als sie das dachte und deutete mit seiner Peitsche auf das ungeöffnete Kuvert. Sie nahm es, riss es auf, zog eine schlichte Briefkarte heraus und las erwartungsvoll: „Wenn du nichts mehr erstrebst, gelingt dir alles.“ Nora sah den Mann fragend an: „Ich soll aufgeben? Nicht mehr kämpfen und als Verlierer enden?“ Der Mann schüttelte seinen Kopf und murmelte: „Nur die Jagd loslassen.“ „Und dann, untergehen“, rief die Frau schrill-müde.  Der Frackträger winkte enttäuscht ab und ging. Nora aber stieg missmutig auf den Kutschbock, schnalzte mit der Zunge und die Schimmel liefen langsam einem weichen Abendlicht entgegen. Sie ließ die Zügel locker, denn ihre Gedanken setzten ihr Stiche zu. Sie fühlte sich abermals zurückgeworfen in die große Ratlosigkeit. Wochenlang.

Im Waldsee badete das Licht, als Nora absichtslos durch die inzwischen spätsommerliche Heide pirschte. Sie suchte Steinpilze. Das Moos am Ufer schmatzte und wellte sich in einen Anstieg hinauf. Alle paar Meter fand die Frau einen malerischen Pilz nach dem anderen. Der Blick schleifte über den Boden. Als sie wieder aufsah, entdeckte sie mitten auf dem Moosberg einen rundlichen Mann in einem Meer aus Rosenblütenblättern. Er saß auf einem mächtigen Findling und las in einem großen Buch. Laut. Silbe für Silbe und lächelte. Nora staunte, wie lange der Mann auf einer Buchseite verweilte und es war ihr, als öffnete sich dabei die Zeit. Der Mann war nicht wirklich anwesend, er steckte in der Geschichte, die er las, als ein Teil von ihr.
„Was liest du da?“, fragte die Beobachterin.
„Schau‘ selbst!“ Der Mann stand behäbig auf und drückte ihr das große Buch in die Hand. Als sie es aufschlug, erschienen auf der blanken Seite die Worte: „Wenn Du das liest, beginnt Deine gute Zeit.“ Und sie bemerkte, dass was gerade durch ihre Gedanken huschte als Text in diesem großen Buch erschien. Es führte sie gewissermaßen zurück in die Handlung ihres Lebens. Unabänderlich, aber willkommen, es zu betrachten. Das große Buch vereinte während sie las all ihre Sinne. So las Nora erkenntnisreich bis zu jeder Stelle, in der sie den runden Mann auf dem Moosberg sah. Er war wohl inzwischen längst gegangen. Statt seiner saß Nora auf dem Findling und lächelte eine leere Seite an. Sie spürte in ihr Inneres und indem erschienen die Worte: „Kraftvoll und ruhig.“

© Petra Elsner
2016/2019

Seltsame Welt (Abschnitt 4 – der Schluss)

…„So einfach wäre es gewesen, dich wieder loszuwerden?“, stutze die alte Luise.
„Nicht ganz. Bestimmt hätte ich dir einfach einen anderen meiner unwiderstehlichen Hüte angeboten, den Weißen oder den Mohnroten. Nach einem hättest du schon gegriffen.“
„Es braucht eine List, an das ultimative Ende zu geraten?“
„Na klar!“, lachte der rote Mund hämisch. „Sonst würden die vielen Gesundheits- und Fitnessfanatiker niemals so unerwartet und unverhofft bei mir ankommen.“
„Das ist gemein.“
„Nein, das ist meine Aufgabe.“
„Einem das Leben abzunehmen?“
„Ja.“
„Mir musst du das Leben nicht abnehmen, es ist mir keine Last. Nimm deinen hinterhältigen Hut und verschwinde!“ Bei den letzten Worten hatte Luise Knopf ihre Stimme erhoben: Laut und kräftig. Das war der Augenblick, in dem der atmende Hut verschwand und die Frau wieder ihre Gestalt im Gründerzeitspiegel sah. Stolz griff sie nach ihrem grauen Zopf, atmete tief und verscheuchte den Nachhall der merkwürdigen Episode mit ihrem nächsten Abenteuer.

 

© Petra Elsner
24. Juni 2019

Seltsame Welt (Abschnitt 3)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Man weiß es nicht, es schleicht sich an. Wieder hörte sie: „Komm, schenk mir deinen Atem, du hast mich doch eingeladen!“
„Ich hab dich nicht eingeladen!“
„Doch! Du hast meinen Hut angenommen und aufgesetzt.“
Luise verteidigte sich: „Er hat mich verwundert. Ein atmender Hut, das ist doch merkwürdig – oder? Wer bist du eigentlich?“
„Ich bin das ultimative Ende und empfange dich gerade in meinem Vorzimmer.“
Luise spürte eine sanfte Berührung. Sie fühlte sich nicht bedrohlich an, aber sie war einfach nicht bereit, sich irgendeinem geschwätzigen Ende hinzugeben. Sie wollte zurück in ihre Welt, raus aus dieser haltlosen Schwebe. Doch indem sie das dachte, dröhnten die Worte fordernder: „Komm endlich, gib mir deinen Atem! Du kannst nicht ewig in diesem Zwischenreich ausharren!“
Aber Luises Wille kämpfte gegen den Sog: „Lass mich in Ruhe!“
Der Hut zeigte jetzt seinen roten Mund. Der säuselte verführerisch: „Was hält dich auf? Komm, die Ewigkeit hinter dem Ende deiner Zeit ist schön. Ich weiß es.“
Luise konnte ihren gestaltlosen Körper nicht bewegen, wie sollte sie dem Dunkel entkommen? Sie musste es erfragen: „Wieso hast du mir deinen Hut in den Weg gelegt?“
„Weil es an der Zeit war, dir ein Zeichen zu geben, die alten Kleider abzulegen.“
„Und wenn ich den Hut nicht aufgesetzt hätte, dann wärst du wieder gegangen?“
„Vielleicht.“…

© Petra Elsner
23. Juni 2019

Seltsame Welt (Abschnitt 2)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Der Postbote klingelte erfolglos und fragte schließlich im Nachbarhaus nach, ob er die Paketsendung für Luise Knopf hier hinterlegen könne. Die Nachbarin nickte abwesend und meinte nur beiläufig: „Ach, die Frau Knopf schläft gern mal länger, seid ihr Hugo nicht mehr lebt.“
Doch das Paket wurde auch am nächsten Tag nicht abgeholt. Als die Begonien auf dem Fensterbrett von Luise Knopf darbten, wurde die Nachbarschaft unruhig. Etwas stimmte nicht. Man rief die Feuerwehr, um die alte Eichentür zu öffnen und nach dem Rechten zu sehen. Doch das Haus schien verlassen. Dass vor dem leicht erblindeten Gründerzeitspiegel ein Hut schwebte, hatte niemand bemerkt. Oder war er für die anderen nur nicht zu sehen?

Es fühlte sich merkwürdig unter dem Hut an. Sie spürte kein Zeitvergehen, keinen Hunger, keinen Durst. In einer Art Schwebe hörte sie in dem Dunkel immer nur die Worte „Schenk mir deinen Atem!“ Luise konnte sich nicht rühren und nichts erkennen. Sie hatte sich in ein großes Nichts aufgelöst, scheinbar. Aber noch atmete sie und endlich konnte sie auch wieder denken und sprechen. „Schenk mir deinen Atem!“ dröhnte es wieder und Luise antwortete: „Auf keinen Fall, ich brauche meinen Atem noch.“
„Wofür? Am Ende braucht man nichts mehr.“
„Ich bin nicht am Ende!“, rief Luise erschrocken. Ein kalter Schauer traf ihr unsichtbares Herz. Ja, sie wusste, dass seit Wochen etwas in ihr wucherte, dass sie welken ließ. Aber war das schon das echte, allerletzte Ende?…

© Petra Elsner
22. Juni 2019


Seltsame Welt (Abschnitt 1)

Von heute – eine Kurzgeschichte in Arbeit:

Irgendetwas war anders. Die alte Luise spürte es ganz deutlich – ein leiser Atem. Er kam aus dem begehbaren Kleiderschrank. Die Frau fingerte nach dem eisernen Feuerhaken, der neben der Kochmaschine hing. Fest und entschlossen ergriff sie ihn. Sie fürchtete sich kein bisschen, sie war nur verärgert, dass da irgendwer einen Unfug mit ihr trieb. Einfach reinatmete in ihr Reich. Niemand darf das seit Hugo nicht mehr lebte. Sie schlich zur Schranktür im Schlafzimmer, drehte den Schlüssel und die Tür knarrte auf. Immer wenn die feuchte Herbstkühle kam oder Gewitterschwüle herrschte, jaulte diese Tür. Sie muss die Scharniere ölen, gleich nachher. Luise lugte vorsichtig in den Raum, da war niemand, trotzdem hörte sie diesen Atem, leise und schwer. Ihr Blick wanderte über die beladene Kleiderstange, suchte die Regale mit Pullovern, Schals und kleinen Kappen ab. Dort! Ihr Blick erfasste einen schwarzen Hut. Der war heute Morgen noch nicht hier. Sie griff nach dem unbekannten Filz, betrachtete ihn kopfschüttelnd, denn ganz offensichtlich war es der Schlapphut, der hier so geheimnisvoll atmete. Seltsam, dachte die Alte, trat vor den großen Gründerzeitspiegel, setzte sich den Hut auf ihr graues Zopfhaar und verschwand …

 

 

© Petra Elsner
21. Juni 2019

Teetassen (Abschnitt 5 – der Schluss)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:
…Gegen 23 Uhr setzte Toms Mutter ihren schlanken Fuß im roten Schuh auf den Bahnsteig. Annie Kelly war 60 Jahre alt, doch immer noch leichtfüßig wie eine junge Frau. Sie trug taillierte Kleider mit schwingenden Röcken. Ihr Kommen und Gehen war immer zugleich Auftritt. Jetzt stand sie da, als suchte sie nur nach einem Kofferträger. Tom griff nach den weißen Handschuhen in seiner Jackentasche, zog sie an und ging auf seine Mutter zu. Der Klavierlehrer wusste mit aufblühenden und welkenden Diven umzugehen: „Ist es Ihnen recht, wenn ich Ihnen das Gepäck abnehme?“ Annie Kelly nickte blasiert, dann lagen sie sich herzhaft lachend in den Armen.
Während sie ein Taxi suchten und bestiegen, fragte Annie Kelly: „Und Luci, gibt sie mir die Ehre oder hat sie sich verdrückt?“
„Komplett verdrückt. Sie ist gestern Nacht ausgezogen, offenbar für immer.“
Die Abneigung der Frauen war gegenseitig, Annie Kelly brauchte also ihre Erleichterung nicht verbergen: „Du kannst dich nur verbessern.“
Tom seufzte genervt. Ja, er hatte wenig Geschick mit der Liebe, ganz wie seine Mutter, die sich morgen wieder in seinem Tag breit machen würde.
Um Mitternacht stießen die Zwei in der Wohnung an der Schönhauser mit Sherry-Tee auf Toms 30. Geburtstag an. Eine Nachtigall sang dazu im grünen Hinterhof. Irgendwann setzte der Sohn seinen Ein-bisschen-enttäuscht-Blick auf und murmelte: „Und nächstes Jahr, Mam, kommst du nicht nach Berlin. Da steige ich an meinem Geburtstag in den Nachtzug nach Moskau und dort in die Transsibirische Eisenbahn und suche unterwegs nach den schönsten Teetassen der Welt und einem neuen Leben.“

© Petra Elsner
16. Juni 2019

 

Teetassen (Abschnitt 4)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Die kompakten Männer traten vor das Dienstabteil und baten höflich um einen weiteren Tee. Sie flirteten mit der hantierenden Schaffnerin. Sie schien an den Worten der Reisenden zu wachsen. Tom lächelte in sich hinein und dachte bei sich, jeder braucht so seine Streicheleinheiten. Erst jetzt fiel ihm wieder seine Mutter ein. Ach herrje, wie konnte ihm das nur passieren? Er sah nach der schönen Lika am Samowar und wusste weshalb. In Frankfurt an der Oder verabschiedete er sich von ihr, dankte für die Teestunde und sie schenkte ihm das bewunderte Glas im fein ziselierten Halter. Wenn Russen einen ins Herz schließen, verschenken sie glatt ihr letztes Hemd. Tom nahm das Glas gerne an und winkte der Frau in dem anfahrenden Schnellzug noch einen Moment lang nach. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig stand die Regionalbahn der Linie R1, die den Teetrinker ein paar Minuten später zurück nach Berlin brachte. Leider war das Begleitpersonal dieses Zuges nicht annähernd so charmant wie die schöne Lika. Er fing sich erst einmal einen schroffen Rüffel ein, weil er die Bahn ohne Fahrschein betreten hatte. Nur sein Ein-bisschen-enttäuscht-Blick rettete ihn vor einer satten Strafzahlung. Der Spielraum dieser Menschen in Uniform ist mächtig.
Am Ostbahnhof war der ICE aus Hamburg noch immer nicht eingetroffen. Irgendein Stellwerk auf der Strecke funktionierte nicht. Ein Glück für Tom. Was hätte er seiner Mutter erklärend sagen sollen: Ich war im Nachtzug nach Moskau ein Stündchen Teetrinken? Das hätte sie ihm nie geglaubt…

© Petra Elsner
15. Juni 2019

Teetassen (Abschnitt 3)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Sie stand in dieser Wagentür stolz und anmutig, aber auch ein wenig hochnäsig in ihrer schicken Uniform. Irgendetwas an ihr kam Tom vertraut vor. Nur was war das? Er wusste es nicht. Seine Augen fixierten die Frau während seiner Erinnerungssuche und sie fühlte sich seltsam von seinem Blick berührt. Sie sah zu dem Wartenden und fragte in fließendem Deutsch: „Auch einen Tee?“
Tom stutzte, nickte, stand auf, hob sein Päckchen mit einer Hand in die Höhe und meinte: „Ich habe sogar Tassen dabei.“ Nach diesem Satz zuckte er innerlich zusammen: Wie blöd war das jetzt? Er stand noch unbeholfen mit seinem Karton in der Luft, da winkte die Schaffnerin schnippisch ab:
„Meine sind schöner, komm!“
Tom dachte nichts mehr, er stieg ein, der Zug ruckte und fuhr los. Vergessen war die Mutter im ICE. Die Schaffnerin duftete nach Orchideen. Sie schob ihn zu einem Platz im Dienstabteil am Ende des Gangs, neben dem ein mit Holzkohle beheizter Kessel siedendes Wasser bereithielt. Er sah ihr fasziniert zu, wie sie aus einem kleineren Teekessel etwas Sud in eins dieser prächtigen Gläser goss und es mit heißem Wasser aus dem Samowar auffüllte. „Das ist russische Teekunst“, säuselte sie selbstbewusst.
Er nippte vorsichtig: „Oh, wunderbar aromatisch! Wie bereitet man ihn zu?“
Sie setzte sich zu ihm und erklärte ihm das Samowar-Prinzip: „Russischen Tee lose in den Teekessel geben. Für jede geplante Tasse einen Teelöffel voll. Ein wenig Wasser dazu, dann den Teekessel auf den Wasserkessel setzen und mit kochendem Wasser auffüllen. Etwa ein Viertel des Wasserkesselsinhaltes. Nicht länger als 20 Minuten ziehen lassen. Das geht nur mit Russischem Schwarztee. Du kannst nicht irgendeinen anderen dafür nehmen, sie werden alle zu schnell bitter. Ausgenommen Türkischer Tee, der tut es auch.“
Sie schwiegen und tranken ihren Tee. Draußen flog die Landschaft vorbei…

© Petra Elsner
14. Juni 2019

Teetassen (Abschnitt 2)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… In den Allee-Arcaden fand er nicht, wonach er suchte. So lief er zielstrebig den Prenzlauer Berg hinunter zum Alexanderplatz. Dort, im S-Bahnhof, hatte er neulich ein Bremer Teekontor entdeckt, das neben hochwertigen Tees aus aller Welt auch elegantes Glasgeschirr anbot. Noch schlenderte er durch den Straßenlärm und die feinstaubschwere Luft, dann lief er immer schneller. Das Leben an dieser Straße sah so schön bunt und lebendig aus, aber war im Grunde eine Zumutung für Körper und Seele. Die Enge, die Fülle, der Gestank und der Schmutz machten die Menschen aggressiv. Sie schnauzten und rempelten einander an. Der Verkehr staute, die Straßenbahnen quietschten, die Hochbahn ratterte, auf dem Gehweg sauste ein Radfahrer haarscharf um eine Mutter mit Kinderwagen. Tom stockte der Atem.
Als er am Alex Teetassen und seinen Irish Blend ergattert hatte, stieg er in eine volle, stickige S-Bahn, Schweißperlen traten auf seine Stirn und jemand rammte ihm seinen Ellenbogen ins Kreuz. Tom setzte seinen Ein-bisschen-enttäuscht-Blick auf und erreichte so schadlos den Ostbahnhof. Eine Computerstimme quäkte durch die Halle: „Der ICE aus Hamburg verspätetet sich! Wir bitten um Verständnis und um Geduld.“ Verschnaufzeit, dachte Tom, suchte sich eine Bank und wartete. Das Tassenpaket wippte mit dem Sekundentakt der Bahnsteiguhr nervös auf dem Schoß. Wo würde Luci jetzt sein? Kurz vor 20 Uhr lief ein Schnellzug der Russischen Bahngesellschaft RZD in das Ferngleis ein. Die Wagentür öffnete sich und eine junge Schaffnerin schaute mit einem Teeglas in der Hand nach Passagieren für den Wagen 212. Zwei kompakte Männer mit großen Plastiktaschen stiegen ein. Die Schaffnerin prüfte ihre Fahrkarten und Reisepässe, dann starrte sie nach der Uhrzeit auf dem Bahnsteig. Noch zwei Minuten. Sie schlürfte an ihrem heißen Tee und Tom starre währenddessen auf den feinziselierten Teeglashalter aus Silber in ihrer Hand…

© Petra Elsner
13. Juni 2019

Teetassen (Abschnitt 1)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

Ein bisschen enttäuscht blickte er in die Neige seines Sherry-Glases. Nein, der hellgoldene Aperitif mit seiner trockenen Note war nicht schuld daran. Sie war nicht zurückgekommen. Er würde jetzt stundenlang orakeln, weshalb sie ihn wirklich verlassen hatte. Ein Gedankenbandwurm würde wachsen: Hätte sich seine Mutter nicht angekündigt, wäre es nicht zum Streit gekommen; Luci hätte nachts um drei Uhr nicht wirklich alle Tassen schreiend an die gegenüberliegende Hinterhofwand geworfen und damit die Nachbarschaft geweckt, die nun weiß: Luci hasst seine Mutter und ist gegangen. Hätte Tom seine Mutter ausgeladen, wäre er jetzt nicht allein, aber er hatte den irischen Dickschädel seiner Mutter geerbt. Doch war es wirklich der Grund für Lucis Flucht aus seinem Leben oder war die mütterliche Besuchsankündigung nur ein passender Anlass? Tom schüttelte seinen Kopf, er wollte das alles nicht bedenken, goss sich den zweiten Sherry ein, trank ihn in einem Zug aus und verließ sportlichen Schritts die Wohnung an der Schönhauser Allee. Er musste Tassen kaufen, feine gläserne Teetassen…

© Petra Elsner (Text & Zeichnung)
12. Juni 2019