Scherbenkinder

Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Der Schluss):

…Benjamin fixierte wieder ihre Sommersprossen. „Was ist, sitzt eine nicht richtig?“ fragte sie spitz in seinen Blick. Ein befreiendes Gelächter nahm die Schärfe aus dem Gespräch und der Zwei-Meter-Mann gestand noch prustend: „Weißt du, ich mag solche Schlagabtausche nicht. Sie verhindern, dass man wirklich spricht. Jeder sucht nur nach Argumenten für die eigene Lebensposition und blockiert damit das Bedenken des anderen Standpunkts.“
„Stimmt schon, aber ich ertrage es einfach nicht, wenn einer so angepasst durch die Welt stakst.“
„Nur unauffällig, nicht angepasst. Ich will mich nicht mehr, wie meine Eltern, so oft dafür rechtfertigen, dass ich im falschen Land geboren wurde.“
„Also Sohn der Spree – ein bisschen mehr Courage bitte“, verlangte Sophie streng. „Schließlich wissen wir als Scherbenkinder dafür eine Menge über Brüche, Endzeitstimmung und das den Kopf in den Sand stecken Veränderungen nicht aufhalten kann. Sie kommen wie das nächste Sommergewitter. Viele glauben heute, man muss den Istzustand nur ständig verfeinern, damit das Wohlstandsgefüge erhalten bleibt. Aber Demokratie braucht mutige Ideen, nicht bürokratische Monster. Mit ein bisschen Petersilie auf verstaubten Ansichten, lässt sich kein modernes Staatswesen in die Zukunft führen. Die Zeit wird bleiern und das System bröckelt. Auch das kennen wir. Du musst mutiger werden, nicht nur funktionieren.“
Benjamin rieb sich verlegen die Hände: „Und du musst eine Ausbildung machen, sonst bist du bald weg vom Fenster. Dein Vorsprung schmilzt.“
„Ich weiß“, flüsterte die Sommersprossenfrau. Er hatte ihren wunden Punkt berührt, aber sie fühlte sich nicht angegriffen, im Gegenteil. Das Gespräch schwappte in die nächste Runde. Sie plauderten über das Leben an sich, gegen die einsame, innere Härte. Es wurde Abend. Kurz vor der Dunkelheit stiegen sie die Stufen zur Straße hinauf. Die Oranienburger lärmte immer noch sommerlich laut. Die leicht bekleideten Bordsteinschwalben warteten bummelnd auf Freier. Eine Straßenbahn zog in die Kurve zum Hackeschen Markt als leuchtende Bewegung unter dem Nachthimmel. Die zwei Ungleichen beschlich eine seltsame Melancholie, wie sie nur Scherbenkinder befallen kann.

© Petra Elsner
13.  August 2019

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Scherbenkinder

Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Abschnitt 2):

… Benjamin Richter spürte ihren verächtlichen Blick so unangenehm, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Das konnte nicht so weitergehen, er musste diese knisternde Situation zwischen den Schreibtischen entschärfen. Nur wie? Bis zum Abend war ihm nicht wirklich eine Idee gekommen, so griff er nach dem Naheliegendsten und fragte schlicht, als sie schon in der Tür stand: „Lust auf ein Feierabendbier?“
Sophie glaubte sich verhört zu haben: „Bier? Ich dachte du trinkst nur stilles Wasser. Aber gut.“
Benjamin raffte seine paar Sachen, kaum später liefen sie die Oranienburger hinunter. „Wo kommst du eigentlich her“, fragte Sophie. „Aus Hamburg, aber geboren wurde ich gleich um die Ecke in der Charité.“ „Ah, ein echtes Kind der Spree und deine Alten, sind die mit nach Hause gekommen?“
Benjamin schüttelte seinen Kopf und sprach etwas belegt: „Nein, die hatten den Osten restlos satt, sind 1989 über Ungarn mit mir getürmt, waren stinksauer als ein paar Wochen später die Mauer fiel, und haben sich dann nie mehr Richtung Osten umgedreht. Nur geackert, um irgendwie Fuß zu fassen und wohlstandmäßig aufzuholen. War nicht einfach, die stehen immer noch unter Dauerdruck und stottern ihre Kredite ab.“ Sie schwiegen nachdenklich und ließen zu ihren Schritten ihre Augen wandern. Die Reste der verwegenen Zeit Anfang der 90er Jahre waren entlang der Meile nur noch spärlich zu entdecken, längst erstickten Baustellen die Magie des Szenekiezes. Nur in den Quartieren spürte man noch gut den Puls jener Zeit. In dem gemütlichen Kellercafé „Assel“ gegenüber dem Monbijou Park bestellten sie sich ein großes Weizenbier. Sophie fragte, während sie sich zuprosteten: „Und du hast offenbar viel von dem Druck abbekommen, und lebst deshalb so hübsch angepasst?“
„Quatsch, ich will nur meine Chancen nutzen.“
„Nee, mein Lieber, du hast nur echt schiss, irgendeinen lächerlichen Fehler zu machen.“
Benjamin sah Sophie an, als zählte er jede einzelne, der zweihundert Sommersprossen und sie sah, dass ihre Worte ihn aus der Fassung gebracht hatten. Sie hatte keinen Spaß daran und wollte sich schon entschuldigen, denn schließlich ging sie ja seine Lebensart gar nichts an, da antwortete er angesäuert: „Aber dir scheint ja alles Wurst zu sein. Du hältst dich an keine Regeln. hast keine Manieren und bist stur wie ein Panzer.“
„Aber begabt, in allem, was ich tue“, grinste Sophie. „Der Rest ist einfach Wendeschaden, wie bei dir auch, da kommt es eben zu Mutationen. Du bist ein hipper Nordwestdeutscher geworden und ich bin so unangepasst, wie es nur irgend geht. Denn meine Alten sind hiergeblieben, aber geblieben ist ihnen nix, trotz guten Glaubens, Hoffnung und viel Fleiß. Mit mir machen sie das nicht, kannste wissen.“
„Verstehe“, murmelte Benjamin und nippte an seinem Weizen…

© Petra Elsner
12.  August 2019

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Berlins alte Haut: Das Tacheles

Das Tacheles an der Oranienburger Straße wurde in der 90er Jahrer von Künstlern aus aller Welt belebt. Es begann mit einer Torsobesetzung und wuchs zu einem gigantischen Kunsthaus mit dem Charakter einer Institution. 2012 wurde es zwangsgeräumt.

Tacheles von der Oranienburger aus. Foto: Petra Elsner
Tacheles von der Oranienburger aus.
Foto: Petra Elsner

Das Tacheles um 1992 Foto: Petra Elsner
Das Tacheles um 1992
Foto: Petra Elsner

Das Kino Camera im Torbau Foto: Petra Elsner
Das Kino Camera und Ateliers
Foto: Petra Elsner

Kneipe im Tacheles Foto: Petra Elsner
Kneipe im Tacheles
Foto: Petra Elsner

Blick von innen nach außen auf die Oranienburger Foto: Petra Elsner
Blick von innen nach außen auf die Oranienburger
Foto: Petra Elsner

Wertvolle Reste im Torso. Foto: Petra Elsner
Wertvolle Reste im Torso.
Foto: Petra Elsner

Das Tacheles von der Hofseite Foto: Petra Elsner
Das Tacheles von der Hofseite
Foto: Petra Elsner

 

Eine Tür zum Hof. Foto: Petra Elsner
Eine Tür zum Hof.
Foto: Petra Elsner

 

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Berlins alte Haut: Die Assel an der Oranienburger und die Spreeinsel

Die Assel an der Oranienburger Straße 21 war 1992 meine Lieblingscafékneipe, sie war die erste Szenekneipe nach dem Mauerfall an dieser Straße überhaupt …

Berliner Assel – Innenansicht.

Berlin Mitte im Wandel (notiert 2003)

Auf der Spreeinsel – bevor das Kanzleramt kam. Im Hintergrund die Charité.

Nirgendwo hat sich Berlin nach der Wende und der Vereinigung von Ost- und Weststadt so extrem verändert wie in Mitte. Während Mauerspechte das Sinnbild des eisernen Vorhangs in einen Schweizer Käse verwandelten, waren es Künstler aus 21 Ländern, die auf die östliche Mauerschneise zogen, um die „East Side Gallery“ auf 1,3 Kilometern an der Mühlenstraße mit über hundert Kunstwerken zu gestalten. Nur wenige Werke haben die Zeit überdauert, denn das Zeugnis der Teilung ist fast vollständig aus dem Stadtbild verschwunden. Man muss heute schon ins Museum Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße gehen, um dem politischen und menschlichen Drama des monströsen Grenzstreifens nachzuspüren.

Auf der Spreeinsel nach dem Mauerfall. Im Hintergrund  der alte Reichstag.

Selbst Einheimische hatten während der intensiven Bauzeit von Beginn der 90er Jahre bis in die Gegenwart am Potsdamer Platz, der Friedrichstraße und dem Regierungsviertel zuweilen erhebliche Schwierigkeiten sich noch zurechtzufinden. Denn die alten Orientierungspunkte im Stadtbild verdecken heute ungleich viele neue. Es findet sich kaum ein Ort, der nicht verwandelt wurde.

Dort, wo heute stolz das Kanzleramt thront, lag noch vor zwölf Jahren eine grüne Brache und dämmerte in der Zeit, als urplötzlich das Herz der Großstadt hier wild und arhythmisch schlug. Ein Experimentierfeld für Schrott- und Überlebenskünstler entstand.

Berlins Mitte, das einstige Machtzentrum, bot nach NS- und DDR-Zeit mit dem Mauerfall plötzlich kreative Spielplätze, über deren Ausmaß die keine deutsche Stadt mehr verfügte. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse und die verwaisten Plätze der Macht machten es möglich. So kamen auch hierhin Künstler aus aller Welt, um zwischen Spreebogen und Spandauer Vorstadt das Vakuum mit einem bunten Zwischenleben auszufüllen, dass heute immer noch die Touristen bei ihrem Bummel zum Kunsthaus Tacheles an der Oranienburger Straße vermuten. Doch die alternative Inszenierung hat sich mit der schicken Sanierung des Viertels verflüchtigt. Die Kunst- und Kneipenszene am Straßenland entlang der Oranienburger-, Tucholsky-,  August- und Gipsstraße ist nobel geworden. Und auch in den Hackeschen- und den Sophienhöfen steppt nun lustvoll der Luxusbär.  Diese neue Flaniermeile, nur einen Steinwurf von der altehrwürdigen Museumsinsel entfernt, läuft so zuweilen dem zu DDR-Zeiten erbauten Nikolaiviertel am Roten Rathaus als touristische Attraktion den Rang ab. Indes beleben die Kreativen der ersten Stunde nach dem Mauerfall andere Quartiere. Beispielsweise den Beusselkiez im Ortsteil Moabit (Tiergarten) oder die Soldiner- und Wollankstraße im Wedding. Stadtteile, die seit 2001 zum Großbezirk Berlin-Mitte gehören.

Es scheint so, als ebnete die alternative Kunst in der Stadt immer neue Lebenswege. Öde oder vernachlässigte Winkel erhalten durch sie einen Hauch von Stadtabenteuer. Das zieht Touristen, und jenen folgen auch hier gern Investoren nach. Jene letztere kann Berlin nicht nur am Postdamer-, am Pariser Platz und am Alexanderplatz gebrauchen. Denn mit der Gründung des neuen Großbezirkes gehören nun Stadtteile zusammen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.

Mag der Übergang von der alten Mitte durch das 2002 frisch sanierte Brandenburger Tor hinüber zum Tiergarten mit dem Reichstag, Siegessäule, dem Haus der Kulturen der Welt an der Spree, der Philharmonie und dem Kulturforum am Kemperplatz seidenweich muten. In den Wohnkiezen abseits vom neuen Hamburger Bahnhof mit seinem Museum für Gegenwart, dem neuen Hauptbahnhof Lehrter Bahnhof, dem Zoologischen Garten und dem Schloss Bellevue vollzieht sich noch zäh der Stadtwandel vom Industrie- ins Dienstleistungszeitalter. Die Osram-Höfe, als inzwischen begehrter Gewerbe- und Technologiestandort und das neue Gesundbrunnen-Center, einer der größten Berliner Einkaufstempel, sind einige Startzeichen dieser neuen Zeit. Schon rund zwei Drittel der Arbeitnehmer im Ortsteil Wedding arbeiten heute im Dienstleistungssektor. Aber noch ist gerade dieser Stadtteil vom anhaltenden Verlust industrieller Arbeitsplätze besonders betroffen. Gegen den Lehrstand und somit den Niedergang von intakten Stadtlandschaften, wirken im Tiergarten und Wedding fünf Quartier-Managements mit ihren Angeboten vornehmlich Arbeitslosigkeit und Konflikten zwischen den verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen entgegen.
© Petra Elsner

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