11. Klausur-Schnipsel

zu “Die verlorene Geschichte”:

… Er hatte seinen Terminjob erledigt und etwas Zeit, wieder nach dieser flüchtigen Geschichte zu suchen. Vielleicht auch nur nach einem Textstück, dass die Zeit authentisch festgeschrieben hatte. Wie viele Wahrheiten wohl nebeneinander abliefen? Er konnte nur die eigene wiedergeben oder alte Niederschriften sprechen lassen. Aber wie war das damals? Das Bild verschwimmt, man erinnert sich kaum noch. Der Schreiber durchforstete seine Stücke, Porträts, Erzählungen und fand, diese Romanpassage hielt die Situation junger Menschen jener Tage gut fest:

Frühjahr 1991
Da saßen sie wieder um den großen mattgescheuerten Eichentisch in Lisas Küche: Chris, Jo und Hajo, der harte Kern eines Freundeskreises. Hier, zwischen Abwaschbecken, Kartoffelkorb und irdenen Gefäßen; auf unegalen, knarrenden Holzstühlen, schufen sie sich im Kopf die “Flora-Insel”, ihr Selbsthilfeprojekt. Das war im Frühjahr 1990, eine Zeit, jenseits von Gut und Böse, in der die Wohnungen nicht mehr genug Platz für die vielen Ideen und der daran klebenden Leute boten. Eine verlassene Kneipe in der Florastraße war das Objekt ihrer Begierde. Heute scheinen ihnen Welten dazwischen zu liegen. Nein, sie trinken nicht wie damals Indische Teemischungen für eine Mark und zwanzig mit ein bisschen Zucker und Zimt, damit das Getränk überhaupt Aroma bekam. Lisa verbreitete immer einen Zauber um den Tee in der dickbauchigen Steingutkanne. Es war ihr Tun und Machen, das der Teestunde so etwas Zeremonielles verlieh. Das hatte Seele. Matze erinnert sich an so ‘nen typischen Gedanken von ihr: „Die Dinge mit Freude und Muße verrichten, dann werden sie wertvoll, weil Liebe drinsteckt. Du kannst den billigsten Apfelwein auf den Tisch bringen, wenn du ihn achtungsvoll kredenzt – in polierten Römern, bedächtig, voller Genuss, begleitet von geistreichen Worten, dann nehmen ihn deine Gäste an wie ein reiches Geschenk.“
Lisa machte aus ihrer schon damals bescheidenen Lebenssituation eine Tugend. Damit lebt es sich zufriedener, als immerfort unerfüllbaren Wünschen hinterher zu hasten. Als die D-Mark kam, spielten ihre beiden Mädchen verrückt. Sie wollten auch gerne so viele schillernde Sachen, wie sie etliche Schulfreundinnen jetzt bekamen. Die alleinerziehende Pionierleiterin hätte gerne nachgegeben, konnte es jedoch nicht. Sie war – noch vor dem Parteisekretär der Schule – ihren Job los. Eines Tages nahm die stolze Frau ihre Kinder bei der Hand und setzte sich mit ihnen geradewegs vor das Metropol-Hotel in der Friedrich-/Ecke Mittelstraße. Nobelkutschen mit Geschäftsleuten fuhren hier unentwegt vor. Sie wählte eine Parkbank gegenüber dem Eingang und forderte Jenny und Fanny auf, eine Stunde lang genau in die Gesichter der Eintreffenden zu schauen. Sollte nur einer unter ihnen richtig glücklich aussehen, könnten sie sich etwas wünschen. Die Mädchen entdeckten keinen.
Lisas Gäste hatten sich verändert. Hajo studierte jetzt an der TU in Dresden, Chris im katholischen Bamberg. Es war der reinste Zufall, dass Jo’s Telefonrundruf alle in der Pankower Altbauwohnung zusammenbrachte. Doch bereits an der Tür, als sie die mütterliche Freundin wie immer umarmten, spürte jene eine merkwürdige Verlegenheit. Bis auf Matze hatte sie die anderen fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie sah in den forschenden Blicken der drei Verschollenen leichte Enttäuschung – alles noch beim Alten. Kein neues Buch, keine neue Technik, nirgends etwas modernisiert, und Lisas Augen: gerötetes Grau, ohne das bekannte Funkeln. Als Matze seinen Ökobeutel auspackte: Weißbrot, Leberwurst, Teebeutel, Weintrauben und einen Pappkarton roten Tafelwein, wussten sie, mit ihren Mitbringseln lagen sie völlig daneben. Fast peinlich berührt, stellten die drei je eine teure Flasche Wein dazu. Lauter als notwendig begannen sie sich über ihre Studienbedingungen auszutauschen.
Lisa dachte kopfschüttelnd: „Dafür hätte ich glatt ein Wochenende bestreiten können.“ Die zarte Frau ging an ihren alten Küchenschrank und suchte in einer Lade laut scheppernd zwischen metallenem Küchengerät nach einem Korkenzieher. Matze trat unauffällig daneben, legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr zu: „Sei nicht sauer. Sie haben einfach nicht nachgedacht und wollten Dir ‘ne Freude machen. Okay?“ „Hm“, gab sie ihm mit dünnem Lächeln zurück. Chris schob sich zwischen die beiden, griff nach den Gläsern im Vertiko, und Jo nahm Lisa mit einem „lass mich mal“ den Korkenzieher ab. Sodann saßen sie beim Wein, doch das Gespräch wollte nicht richtig anlaufen. Taktik kannten sie früher untereinander nie. Sie hatten sich damals sogar einen Kurzzeitwecker auf den Tisch stellen müssen – statt Glocke – damit jedem Redezeit zufiel und das Recht, gehört zu werden. Wie einst in der Volkskammer. Ein Spiel, das ihnen gefiel, und doch war es nur Lisas Mittel, sie ausreden und zuhören zu lehren. Und wenn ihnen die Anstrengung zu herb im Gesicht stand, spielten sie mit Würfeln oder Karten, auf dass der Druck des Tages von ihnen wich und sie wieder sein konnten, was sie waren – große Kinder.

Man war sich seinerzeit sehr nahegekommen. Zu nahe? Die Zeit ließ hohe, unsichtbare Hecken wuchern; jeder versiegte Traum – ein Stachel am Gestrüpp; jeder Neubeginn trieb einen steilen Ast zum Licht, der das innere der Hecke tötet. Sie hatten Unmengen an Neuigkeiten auf Lager, doch wo anfangen, wo aufhören? Diese Nacht reichte ohnehin nicht, und getrennte Zeit gebiert getrennte Wege, und dann sind noch die ungleichen Chancen. Schlimmer noch war; sie hatten keine gemeinsamen Träume mehr. Matze wusste plötzlich, das war der Knoten, der sie noch lose verband – der verbrauchte Insel-Traum. Die Erinnerung. Aber mit Anfang zwanzig will man nicht rückwärts leben. Wenn diese Gruppe sich nicht gänzlich verlieren wollte, brauchten sie neue Gemeinsamkeiten. Anders kann man füreinander nicht da sein.
Matze holt entschlossen den Kurzzeitwecker vom Herd, zieht ihn demonstrativ auf: „Also, liebe Insulaner! Wovon träumt ihr noch? Jeder hat fünf Minuten.“ Er stellt das tickende Ding vor sich und mustert schlitzohrig die Freunde wie die Spieler einer Pokerpartie. Er war der Zeit-Banker.
Chris verliert augenblicklich seine keck-fröhlichen Züge. Allein das Wort „Insulaner“ bohrte sich in sein Inneres und traf dort auf eine immer noch wunde Stelle, die er sonst, unter Fremden, mit Ironie bis Zynismus verbarg. Er war nicht umsonst nach Bamberg, diese kleine, puppige, aber langweilige Studentenstadt gegangen. Weg von all den Verlusten, dem Frust der gescheiterten, der Depression. Es war eine Flucht auf Zeit in eine heilere Welt. Abstand, damit die Trauer ihn nicht noch mehr zerstört. Weg von der Drehscheibe Deutschlands, Berlin, wo die sozialen Konflikte ungefiltert aufeinanderprallen, die Alternativen westseits schon alle gelebt und gestorben sind und der unverbesserliche Rest dessen nur noch militant seine Projekte durchzuführen glaubt. Das ließ den friedlichen Ost-Versuchen keinen Raum. Besatzermentalität auch in dieser Szene. Die Ossis sind überall in der Minderheit, auch bei den Alternativen. Chris’ Gesicht ist auf einmal wieder so aschfahl und von traurigen Falten durchkerbt, wie in jenen Tagen, als ihr Traum zerplatzte: Ein Haus in Pankow für alle, die darin aktiv sein wollen, von links bis rechts, ohne politische, soziale Ausgrenzung, friedlich, offiziell und doch selbstbestimmt. Das war sein, ihr Traum von einem gemeinsamen Ort, wo man ausprobieren kann, auf neue Art miteinander zu leben. Die Flora-Insel, ihre erste gegenständliche Wende-Hoffnung – Toleranz sei praktizierbar. Dann, wenige Wochen später, nur noch der Wunsch, sich dort einzuigeln, zu überwintern – ein Nachwendesyndrom. Sie sind zusammen alle amtlichen Wege gegangen. Ihre Konzepte fand man im Rathaus gut. Die letzten Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 90 kippten die Meinungen von Amts wegen. Auswege bot man ihnen nicht. Stilles Sterben mit siebzehn, achtzehn. Erst dann kochten wütende Gedanken. Radikalere! Einfach reinsetzen in so’n lebloses Haus, wie in der Hamburger Hafenstraße. Barrikadenträume, gezeugt aus der Ohnmacht. Im Mai 90 dann der Aufruf der Westberliner Autonomen, in die Mainzer zu kommen. Dort sammelten sich viele, und war vielleicht noch eine Möglichkeit. DIE Welt hatten sie alle längst als Denkradius aufgegeben – kein Einfluss. Was sollten da ihre Gedankenspiele um das Große? Sie wussten nicht, was und wer sie waren, und die Zeit lief nicht beständig, sondern glich einem Vulkanausbruch.
Chris fühlte sich nicht als Autonomer. Er wollte nur nicht gleich wieder in eine Zwangsjacke für die Gedanken gesteckt werden. Die Medien nannten sie linke Chaoten. Stand er links? Nein, er befand sich nur in einer Bedenkpause – nirgendwo im rechtslosen Zwischenland.
Es rasselt der Wecker und durchreißt die gedankenschwere Szene. Matze zieht die nächsten fünf Minuten auf und Chris beginnt:
„Da haben wir seinerzeit unsere Ideen ganz kleingemacht. Überschaubar, weit weg von den großen, kaputten Visionen. Doch selbst diese Kleinstvariante hat man uns nicht gelassen. Nach der Vertreibung aus der Mainzer sind wir alle irgendwohin geflüchtet, und streunen heute dort als zahnlose, einsame Wölfe herum. Wir bauen nicht mal mehr Schutzwälle gegen die Kälte des Systems. Wissen kaum noch, wie man mit dem Kummer, dem Ausgegrenzt-Sein des Nebenmenschen umgeht. Wie schnell das geht. Man gibt sich wessigemäß und baut an seiner standessuggerierten, bürgerlichen Inselvariante: Traumjob, Haus, dickes Auto oder sonst etwas, ganz für sich allein zu besitzen. Besitzen! Kohle! Darauf reduziert sich letztlich alles, auch wenn wir dem Traumding andere Namen geben, weil man’s so banal nicht sagen will. Für diese Inselvariante schuften wir und passen uns an. Ich würd’ gern als Weltbürger leben. Verschiedenste Kulturen in mir aufnehmen, überallhin Verbindungen aufbauen. Mich erdrückt die Enge in Bamberg. Aber auch für so eine Lebensart braucht man Kohle, Kopf allein reicht nicht.“
„Mag sein,“ wirft Matze ein, obwohl Chris’ Redezeit noch nicht verstrichen war. „Aber zum Weltbürgerdasein brauchst du nicht unbedingt viel Geld. Das kannst du auch als Entwicklungshelfer erlangen.“
„Blödsinn!“, Chris wirft sich ungehalten an die Stuhllehne zurück und winkt ab: „Da stülpst du auch nur Leuten etwas über. Bringst wieder in Europa ausgediente Lebensvorstellungen zu ihnen, die nicht die ihren sind, so wie die Westberliner Autonomen den Ostberlinern. Nee, Matze, das sind missionarische Einsätze – immer noch. Gut, es ist eine Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, aber mehr nicht.“
Matze schaut entgeistert in Chris’ ernstes Gesicht. So hatte er die Sache noch nie betrachtet. Chris rüttelte damit ungewollt an seiner zusammengezimmerten Zuflucht. „Aber es muss doch einen Weg geben, der beispielsweise ausschließt, dass europäische Kultur afrikanische Lebensweise zerstört“, sammelt sich Matze. „Wenn man gleichberechtigt mit ihnen zusammen lebt und arbeitet, um in ihre Welt einzutauchen, und ihre Kultur erfahren will – das ist doch ein Ansatz, oder?“
Jo gießt gelangweilt Wein in die Gläser nach, und Lisa zündet weiße schlanke Kerzen und sich dann nachdenklich eine Zigarette an. „Merkwürdigerweise ist aber der Mensch wie ein Tier, das sich nach dem stärksten seiner Art orientiert“, setzt Lisa dunkel hinzu. Während sie ruhig Weißbrot in Scheiben schneidet und mit Leberwurst beschmiert, hält sie die Zigarette lax im Mundwinkel, dabei kneift sie ein Auge schützend vor dem aufsteigenden Qualm zu, schaut kurz auf Matze und murmelt: „Kennst du doch: Peterprinzip und Hackordnung. Ich glaube nicht, dass sich so etwas außer Kraft setzen lässt. Nirgendwo. Aber behalte deinen Traum, du hast wenigstens einen, und bist jung genug, so etwas auch durchzuziehen.“
Da ist Fernweh in ihrem nochmals flüchtig erhobenen Blick. Als huschten vor ihrem inneren Auge Bilder aus Afrika vorbei: Die Weite eines unscharfen Horizonts, wo flaches Buschland und südlicher Abendhimmel flimmernd ineinander tauchen – und einsam in diesem Bild ein gigantischer Baum im Gegenlicht – apokalyptisch. „Dorthin komm ich nie“, denkt die Dreißigjährige. „Es reicht kaum für den Tag. Mein Gott, die ABM-Stelle im Frauenzentrum bringt mir wenigstens 1200 DM. Zu wenig für drei. Ich kann mich kaum bewegen. Was wird, wenn die Maßnahme in einem halben Jahr ausläuft? Wieder ein kurzlebiges Projekt? Nach ein paar Monaten Arbeitslosengeld: Sozialhilfe?“ Lisa kann nicht mehr für die Wirklichkeit träumen, ihre Gedanken sind ohne Flügel. Im Frauenzentrum sieht sie, wie das Elend wächst. Frauenarmut. Die perlt nicht ab von ihr, wie das Wasser auf einer gutgefetteten Haut, sondern dringt tief in ihre Poren und wird dort zu Angst. Lebensangst, die sie heute vor den Jungs am Tisch versteckt hält. Nicht aus Scham. Nein, weil sich nicht jedes Wissen ertragen lässt. Man verdrängt es unweigerlich, indem man ihm ausweicht. Dabei ist sie doch so froh darüber, dass die Jungs endlich mal wieder zu ihr gefunden haben. Sie will die Situation festhalten, solange sie kann. Deshalb schweigt die Frau. Denn wenn sie auf irgendeine Vision hoffen kann, dann glaubt sie, diese Vision nur noch durch diese jungen Männer zu empfangen, transfusionsartig. In ihr ist keine gestalterische, visionäre Kraft mehr, nur noch die Zähigkeit, die monoton das Leben fortsetzt.
Jo saß die ganze Zeit über unruhig in dieser Runde. Er kippelte sich mit seinem Stuhl immer weiter vom Tisch, lehnte nun bereits in der Ecke zwischen Fenster und Schrank, als er seinen Sitz krachend wieder in die Normalstellung bringt, und gleichzeitig in für ihn bedeutungsträchtigem Hochdeutsch ausstößt: „Es reicht! Ich kann die ‚Weißt-du-noch-Geschichten’ oder die ‚Wenn-dann-Geschichten‘ nicht mehr hören! Diese Leidensminen nicht mehr ertragen! Hört auf damit! Es gibt keine großen Träume mehr. Wir leben jetzt! Nicht jeder lebt gut. Aber eben jetzt! Ich will nicht ständig das Haar in der Suppe suchen, sondern die Suppe essen. Ich will schöne Klamotten tragen und mich von Lebenslust treiben lassen, ohne mir von solchen wie euch diesen abwertenden Seitenblick einzufangen. Ich will, dass die Stadt schön wird. Einfach licht, freundlich, sauber, und nicht gleich hinter jeder neuen Fassade das schmarotzende Kapital entdecken, welches mir die Illusion nimmt. Ich weiß von den Spekulanten, aber ich muss es nicht immer wissen. Ich will kein schlechtes Gewissen haben, weil‘s mir jetzt besser geht als Lisa. Vielleicht ist schon übermorgen alles vorbei, und ich bin ganz unten. Das geht doch alles so verdammt schnell. Lasst endlich jeden wie er ist! Ich sag euch ja auch nicht immerzu, ihr müsst das positiv sehen, die neuen Dimensionen und so. Seid nicht sauer, aber das gibt mir hier nichts mehr. Ich hau’ ab.“ Er springt auf, steckt sich sein im Kreuz zusammengewurschteltes, schwarzes Seidenhemd wieder korrekt in die Hose, streicht mit der linken Hand eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn, mit der rechten klopft er verabschiedend auf den Tisch und verdrückt sich hinaus ins Freie. Nur weg, keine Erwiderung abwartend.
Man hörte das Atmen am Tisch. Der unverhoffte Szenenwechsel erwischte die anderen kalt. Hajo saß verkrampft mit geschlossenen Augen da. Ihm war, als müsste er augenblicklich losheulen. Doch es war dann nur so ein sachtes Beben in seiner Stimme: „Ich versteh’ ihn. Im Dauerkonflikt lebende Menschen werden krank. Und er will sich nicht infizieren. Wisst ihr, meine beiden Alten und meine vierzehnjährige Schwester haben sich vor ein paar Tagen total gekeilt. Ich war derart erschrocken, als ich gestern von dem ganzen Schrott erfuhr. Seit Monaten läuft das Papiergeschäft meiner Eltern nicht mehr so gut. Sie haben furchtbar viel investiert, sich dabei hoch verschuldet, und jetzt bleiben die Kunden aus. Die Zinsen, die Gewerbemieten und was weiß ich belasten sie. Mutter ist durchgedreht. Wollte aussteigen. Die beiden anderen haben sie als Verräterin beschimpft und traktiert. Sie war plötzlich an allem schuld. Und da hat sie Susi für deren schlimme Anfeindungen eine gescheuert. Aber die schlug zurück. Stellt euch das vor: Meine kleine Schwester sprang unserer Mutter an die Kehle und drückte völlig enthemmt zu. Sie hätte Mutter umgebracht, wenn nicht Vater dazwischen gegangen wäre. Der hat zuletzt auf Mutters Schlag mit der Vase nicht mehr reagiert – und so hörte es endlich auf. Niemals gab’s auch nur seichte Schläge in unserer Familie. Sie sind unter dem existentiellen Druck entgleist. Mutter soll dann ins Frauenhaus gerannt sein, wo man sie eigentümlich musterte: ‚Wie bitte? Sie haben ihren Mann und ihre Tochter verprügelt und nun trauen SIE sich nicht nach Hause?‘ Meine Mutter blieb nur die eine Nacht, während Vater sich im Krankenhaus den Kopf nähen ließ und Susi einem Kinderpsychologen vorstellte. Sie hat echt ‘n Ding weg seit diesem Abend. Ich weiß nicht, ob sie das je verwindet. Jetzt läuft die Scheidung an. Eine von den neuerlichen 60 Prozent-Scheidungen, in der die ostdeutschen Eheleute mit der Axt aufeinander losgehen. Das ist doch alles irre, zum Weglaufen. Man kann es erklären, aber aushalten kann man es nicht.“
Nun brechen doch Tränen aus Hajo. Lisa war längst aufgestanden und seitlich neben ihm. Sie strich ihm sacht, fast zögernd über seine langen, aschblonden Haare, die übers rot-weißgepunktete Stirnband fielen. Da ruckte sich Hajo zu ihr herum, klebte an der flachbrüstigen Frau und weinte sich aus. Der erste milde Frühlingsabend hing im Raum, und die Menschen darin hatten ihre Kummerbrücken gespannt. Über die würden sie auch weiterhin zueinander finden. Gesprochen wurde nicht mehr viel, es gab keine helfenden Antworten. Stattdessen nahm Lisa ein Märchenbuch zur Hand und las ihnen eine lange, besänftigende Geschichte vor…

Meine Güte, dachte Elias, was für ein Gefühlschaos. Er kopierte die Zeilen, schickte sie per Mail an Maja und war gespannt, was sie dazu sagen würde…

E wie Ende.

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Morgenstunde (58. Blog-Notat)

Die Nachtgestalten

Wochenende! Und jede Menge Besuch steht an. Heute beispielsweise kommt noch ein Schlafgast (im Atelier, inmitten meines kreativen Kreises…:)). Es ist meine Freundin Trilli, mit ihr wird es garantiert ein gutes Nachtgespräch geben. Trilli lebt seit einiger Zeit wieder in Erfurt und ist eine ganz besondere Künstlerin, ein Unikat unter den vielen.  Zum Texten werde ich die nächste Zeit wenig kommen. Auch wenn es noch winterlich ist, meine öffentliche Winterschreibzeit neigt sich gerade, denn es ist Frühling und die nächsten Wochen gehören der Vorbereitung des OFFENEN ATELIERS. Ich werde also nur noch ab und zu etwas zum Krimi „Milchmond“ posten, weil das Teil jetzt einfach mal langsamer wachsen wird. Ich hoffe, Ihr könnt es verschmerzen :). Dafür wird das Bildschaffen etwas wachsen, sechs leere Leinwände warten schon auf mich. Ich wechsele also eben mal wieder die Pferde … Habt eine gute Zeit!

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Milchmond (35)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Kurz vor 13 Uhr füllte sich der Gastraum. Dörte Sandig trat zu den Nagel-Söhnen und fragte dringlich: „Könntet Ihr vielleicht mal eine Wildkamera auf Euren Kahlschlag richten? Ich hab da heute beim Joggen etwas sehr merkwürdiges gehört, nicht gesehen, aber mir war, als habe mich von dort aus etwas verfolgt. Ich wüsste einfach gerne, was das war.“
Konrad Nagel lästerte: „Ich würd‘ es ja mal mit einer Brille versuchen. Aber O.K., wir hängen Dir einen Spion auf. Neujahr reisen wir wieder ab, bis dahin werden wir schon ein paar Treffer von Deinem Geräusch ergattern. Wieso warst Du eigentlich allein im Wald, gelten für Dich die Aufforderungen der Polizei nicht?“ Dörte grinste, aber Konrad schüttelte besorgt seinen Kopf: „Mädchen, das ist kein Spaß! Das nächste Mal nimmst Du zum Joggen jemanden mit. Klar?“
„Versprochen“, salutierte Dörte und knallte dazu die Hacken zusammen. Jetzt grinste auch ihr alter Skatkumpel.
Die Tür schrammte auf und ließ eine Wolke Sandberger Familien in den Raum, darunter auch Julie mit ihrer Mutter Helene, die sie zum Weihnachtsessen aus dem Altenheim geholt hatte. Jan warf die Weihnachtslieder-CD an. Während Helene aus dem Mantel schlüpfte, summte sie sofort guter Dinge mit. Mag auch der gestrige Tag im Vergessen versinken, die alten Lieder taten es nicht.
An der Tafel erzählten Rosa und ihre Söhne inzwischen, dass die Polizei bis jetzt nichts Greifbares zu dem Holzdiebstahl herausgefunden habe. Konrad winkte gelassen ab:  „Die Stämme können wir wohl abschreiben. Schlimmer finde ich, dass sie auch bei dem Mord nicht weiter gekommen sind. Ja, da haben sie tagelang Hubschrauber über der Heide kreisen lassen, aber wer sagt denn, dass der Irre überhaupt in diesem Wald steckt. Und ob er wirklich der Täter ist, die Blutgruppe AB positiv gibt es zwar nicht oft, aber doch mehr als nur einmal.“ Rosa zupfte ihren Sohn am Ärmel und deutete hinüber zu Julie und Helene am Garderobenständer: „Hör‘ auf, Junge, heute wird nicht über den Mord spekuliert!“
Julie staunte, als Kai Fischer in die Wirtsstube trat. Jan huschte an ihr vorbei und fragte beherzt: „Em, ist es Dir recht, wenn ich den Typen da neben Dir platziere?“ Sein Blick wies zu dem Berliner Gast.
Sie zögerte einen Moment lang, dann nickte sie. Neben ihr trällerte Helene laut und brüchig „Weihnachten, Weihnachten, steht vor der Tür…“ und Julie spöttelte: „Ist schon da, Mama.“ Ihr wurde heiß, als sich Kai neben ihr auf dem Stuhl niederließ…

© Petra Elsner
März 2018

Hinweis zum Urheberrecht:

Der Text darf ohne Angabe des Urhebers nicht weiterverwendet oder kopiert werden. Auch das Zitieren von Textstellen bei Veranstaltungen bedarf meiner Genehmigung.

Alle in dieser Kriminalgeschichte vorkommenden Namen, Personen, Organisationen, Orte sind erfunden oder werden rein fiktiv benutzt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen, Orten oder Personen, lebend oder tot, sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

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Milchmond (34)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Gegen Mittag duftete das Areal rund um den Dorfkrug köstlich. Alle Jahre wieder lud das Wirtspaar zu den Weihnachtsfeiertagen zum traditionellen Entenessen. Jan hatte längst die Spuren der Nacht beseitigt und der Wirtschaft ein Festgewand übergeworfen, während die Mutter einen Berg von Geflügel zubereitete. Bernd Uhlig steckte indes im Keller ein frisches Fass Bier an und räumte Flaschen weg. Der Durst in der Heiligen Nacht muss groß gewesen sein. Ihm war es recht so.
Als Kai Fischer gegen 11 Uhr den Gastraum betrat, war er gerade aus dem Bett im Ferienzimmer gestiegen. Alleine natürlich. Julie hatte ihn auf dem Nachhauseweg zwar auf Distanz gehalten, aber nicht abgewiesen. Ganz klar, sie brauchte Zeit und er musste Gelegenheiten schaffen. Uhlig Junior hatte die Haustür gehört, er fegte hellwach aus der Küche und schickte den hageren Mann in die mollig warme Billardstube, wo bereits sein Frühstückgedeck wartete. Brötchen, Eier mit Speck in einer Wärmepfanne und Kaffee. „Na, einen schweren Kopf“, fragte der Wirtssohn und plauderte gut aufgelegt weiter. „Die Cocktails, die unsere Schweizer Garde zuletzt mixte, hatten es wirklich in sich. Ich bin kaum aus den Federn gekommen, aber die Arbeit macht sich nun mal nicht von allein.“
Kai nickte und schlachtete mit einem gut gesetzten Messerhieb sein Frühstücksei. „Kann ich noch ein paar Tage bleiben, bis Neujahr vielleicht, mit Vollpension?“
„Kein Problem, im Winter ist unser Ferienzimmer meistens frei. Zum Entenessen hab ich Dich schon mit eingeplant. Pünktlich 13 Uhr, bitte.“
Julie war an diesen Morgen in das Buch der Schatten vertieft. Sie las überrascht und vergaß vollkommen die Zeit. Es klopfte leise klirrend an die Fensterscheibe, der Rabe brachte sich in Erinnerung und hoffte auf ein bisschen Brot. Julie reagierte prompt und brachte ein trockenes Stück herbei. Der Schwarze hüpfte nur etwas beiseite als sie das Fenster öffnete und flog nicht mehr aufgeschreckt davon. Sie vertrauten bereits einander. Wenn das immer so leicht wäre, dachte die Frau bei sich…

 

© Petra Elsner
März 2018

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Milchmond (33)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Ein Leuchten lag über dem offenen Schneefeld und Dörte spürte ganz deutlich die Anwesenheit von einem Etwas unter den Zweigen. Es schlich ihr entgegen, leise und irgendwie bedrohlich. Sie späte über das Weiß, konnte aber nichts entdecken. Ihr Instinkt schob sie wieder in den Laufmodus, weg von der Waldbrache. Dörte joggte ihre Runde weiter. Nicht mehr entspannt. Diesen Bogen noch, dann den Quer-Pfad links bis zum Fließweg, der sie zurück ins Dorf schicken würde. Unterwegs entdeckte sie nichts, witterte aber eine merkwürdige Begleitung. Am Kiefernbogen verschnaufte sie einen Moment. Hinter dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren war ein leises Hecheln vernehmbar, das schlagartig inne hielt, als sie nach ihm lauschte. Ein Mensch war das nicht. Die Frau war verwachsen mit dem Wald, der sie an diesem Morgen seltsam beunruhigte, was sie zugleich ärgerte, denn schließlich war sie kein Hasenfuß. Beim Rodelberg stoppte sie kurz ihren Lauf, um die Beine auszuschütteln, die Arme zu kreisen, ihren Körper zu dehnen und vielleicht währenddessen die mulmige Stimmung abzustreifen. Doch abermals war das Schleichen in der Deckung des Buschwerks vernehmbar. Ein Knacken und ein Rascheln kaum 30 Meter entfernt. Das nervte und trieb ein dumpfes Gefühl an. Die Frau dachte an Laura, die Gewalt, die ihr angetan wurde. War sie in Gefahr? Aber nein, was sie da aus dem Unterholz fixierte, bewegte sich nicht auf zwei Beinen. Entschlossen, den Spuk zu vertreiben, klatschte sie ein paarmal laut in die Hände. Etwas lief davon. Dörte blickte dem Geräusch nach, atmete erleichtert auf und trabte schließlich zurück ins Dorf…

 

© Petra Elsner
März 2018

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Milchmond (32)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Die Frau schmiegte sich an den rauchenden Mann. Sie umfasste ihn, streichelte druckvoll seinen Rücken und atmete seinen Duft. Dörte war lange nicht mehr ihrer Lust gefolgt, aber heute pflückte sie sich diesen Jan wie einen Apfel vom Baum. Der Tresen-Mann war es gewöhnt, von Frauen verführt zu werden. Er brauchte nur ein bisschen seinen Charme spielen zu lassen und eine weltgewandte Geschichte zu erzählen, schon flogen ihm die Gespielinnen für eine Nacht zu. Mehr wollte die  Rangerin nicht und dem Mann gefiel dieser Rollentausch.
Die Nacht war Flut. Als sich Dörte am Weihnachtsmorgen räkelte, war der Platz neben ihr schon wieder verlassen. Sie lächelte, es war gut so. Beim Frühstück verspürte sie den Wunsch nach einem Waldlauf. Die Forst hatte mit ihren Holztransporten wieder neue Pisten gezaubert, so würde gut über den Schnee kommen. Wenig später joggte sie los. Die Luft war frostklar, kein Windhauch fing sich in den Baumwipfeln und der Schnee dämpfte ihre Schritte. Die Läuferin war schon eine halbe Stunde unterwegs, als sie den Kahlschlag von Rosas Wald erreichte. Wüst sah es hier immer noch aus. Nach den Sturmschäden hatte keiner Zeit, sich um das wild verstreute Nadelgrün zu kümmern. Der Schnee beruhigte nur den Anblick. Plötzlich knackte es und Dörte horchte auf. Etwas bewegte sich im Unterholz der gefällten Kronen…

© Petra Elsner
März 2018

 

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Milchmond (31)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… „Sie werden sich schon finden“, unkte der große Schatten in die Schneeweihnacht, „ganz bestimmt.“ Während die Alleinstehenden in der Wirtschaft miteinander tanzten, erschienen die Nachtschatten wieder unter den Sternen und sprachen über das große Zeitvergehen. Eine schmale, dritte Gestalt hatte sich zu ihnen gesellt. Die seufzte: „Ganz schön dunkel bei Euch.“
Der Große raunte warmherzig: „Du wirst Dich daran gewöhnen müssen, denn die Ewigkeit ist lang. In ihr begleiten wir unsere Sippe als Zeitschatten. Ab und an flüstern wir ihnen Botschaften in ihre Träume, ansonsten bewachen wir den Lauf der Zeit.“
„Deshalb sind wir hier, um unsere Liebsten zu beschützen“, fragte der neue Schatten überrascht.
Der Kleine nickte und murmelte bedächtig: „Die Lust der Menschen nach immer größerer Beschleunigung hat uns in das monumentale Jetzt getrieben. Auf immer, denn es lebt kaum noch jemand in diesem klaren Moment. Ruhelos jagen sich die Leute bis in die Erschöpfung. Der Erschöpfte aber hat keine Empathie, keinen Weitblick, ist verführbar. Er braucht unseren Beistand.“
Nebelschleier flossen um die erdigen Füße der Moosgestalten, die verschwanden als aus dem Dorfkrug ein Paar in die Nacht trat….

© Petra Elsner
März 2018

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Milchmond (30)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… „Ach, Sigmund Freud lässt grüßen!“ nörgelte Henry, als Jan Uhlig die alte Sage über die Theke erzählte.
„Wie jetzt, was hat denn der alte Seelenforscher mit unserer Wolfs-Legende zu schaffen“, fragte Jan irritiert.
„Nix, der Wolfsmann war nur sein berühmtester Fall. Der dreht sich um so einen russischen Psycho, der unter einem  Angstraum mit zwei weißen Wölfe litt. Und bei uns im Wald haben die Ahnen, als es noch Wolfsland war, eben diese Legende erfunden. Sie verrät etwas von der ländlichen Urangst. Die lebt immer auf, wenn Wölfe im Revier sind. Angst ist eben ein guter Treibstoff für die Fantasie.“
„Aber die Polizei, spricht auch von einem Wolfsmann.“
„Ja, und meint einfach einen gewalttätigen Irren“, blubberte Henry. „Komm, schenk‘ mir noch einen ein, es ist so traurig, dass es Laura erwischt hat. Ich kann’s nicht fassen. Die Schöne hätte echt noch ein gutes Stück Leben verdient, ein Jammer.“
Im Nebenraum feierte die Jugend-Runde am Billardtisch einen gut geglückten Stoß. Dörte hatte mit den Nagel-Brüdern die Skatrunde beendet, drehte den Radiorecorder lauter und schob sich dann hüftschwingend zum Tresen: „Noch eine Lage bitte, für die alten Herren und mich.“
Der Mittvierziger am Tresen lästerte leise: „Und welchen von den alten Säcken schleppst Du heut‘ noch ab?“
„Ich dachte da, eher an Dich“, antwortete sie ein wenig lasziv. Er wusste, dass sie meinte, was sie sagte und grinste anzüglich.
Julie und Kai Fischer saßen am Beobachtertisch bei den trinkenden Zwillingen, den zwei Schwestern vom Waldrand und dem Anton, der sich lieber an die Häppchen hielt. Irgendwann zog Anton eines der späten Waldmädchen aufs Parkett und tanzte seinen perfekten Foxtrott. Kaum später war die Tanzfläche rappelvoll.
Kai fragte unsicher Julie: „Willst du vielleicht auch?
Sie zuckte mit den Schultern, atmete tief durch und antwortete: „Warum nicht.“
Die Nähe machte sie geschmeidig. Sie plauderten nicht belanglos, sie wiegten sich in der Musik und taten einander ganz offensichtlich gut.
Im Krug war eine seltsame Stimmung in dieser Nacht entstanden – ein bedecktes Gemurmel, dass nur zur vorgerückten Stunde anhob, als wollte die Heilige Nacht ein fröhliches Finale haben…

© Petra Elsner (Szene aus der Kiminalgeschichte “Milchmond”)

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Milchmond (29)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Natürlich hatte die Frau diesen Blick gespürt und nach innen gelächelt. Nach außen blieben ihre Augen verschleiert. Julie wusste, dass sie sich nicht weiter vergraben durfte, um nicht  gänzlich in der Süße der Selbstzerstörung zu versinken. Diese Bittersüße, die dem Tod das Bett bereitet. Ihr Verstand riet ihr zu mehr Gesellschaft, doch ihre Seele hielt Trauer. Es war ihr nicht möglich, diesen Blick zu erwidern, aber er verstand weshalb.
Als man sich am Abend vor dem Acker-Hof voneinander verabschiedete, war es die Frage von Dörte, die eine neue Option austeilte: „Was machst Du Heilig Abend?“
Julie trat von einem Bein auf das anderen und blies sich in die gefalteten Hände. Es war kalt und alle waren rechtschaffend müde. So antwortete sie nur kurz: „Ich gehe zur Single-Weihnacht.“
„Und Du“, fragte Dörte den Berliner?
„Em, keine Ahnung.“
„Na, dann 20 Uhr im Dorfkrug, ich besorg‘ Dir ein Zimmer.“
„Em, ja, wenn das geht?“
„Das geht“, antwortete Dörte forsch, verabschiedete sich und verschwand schnellen Schritts in ihrem Winterhaus.

Jan hatte beizeiten den Kachelofen angeheizt. Der Sohn der Wirtsleute lud schon seit Jahren zur Single-Weihnacht. Dorthin kamen alle, die Lust darauf hatten. Die Jungen, die zu Gast im Elternhaus schnell die Langeweile nervte und die Alleinstehenden jeden Alters. Die Nacht der Nächte bot immer auch eine Chance, eine neue Liebe oder wenigstens eine Affäre für die Feiertage zu finden. Schönere Geschenke gibt es zu Weihnachten nicht. Jan, der auch nur zu den Wochenenden aus Berlin nach Sandberg kam, um seine Eltern zu unterstützen, spendierte dem Dorf diese Weihnachtsidee, als er selbst gerade wieder einmal Single war. Es brauchte dazu nicht viel – einen warmen Ofen und reichlich Getränke.  Die Gäste trugen leckere Häppchen herbei, damit die echten Alleinstehenden etwas Festliches verkosten konnten.
Der Abend begann immer ähnlich wie bei einem Klassentreffen. Erst mal schauen, wie die Exil-Schweizer und die Neu-Süddeutschen das Jahr überstanden hatten. Wie viele Kilos zu- oder abgenommen wurden. Ob ein neues Auto vor dem Elternhaus parkte. Welche Geschenke dieses Jahr die alleinstehenden Mütter bekamen, und ob sie ein weiteres Jahr in der Fremde verlängern werden würden oder dem ewigen Heimweh nachgeben. Die „Jugend“ des Dorfes war inzwischen Mitte 30, kinderlos und gut solvent.
Die Sandberger Eltern hatten nach der Wende beinahe alles richtig gemacht. Sie holzten keine Obstplantagen ab, verkauften kein Land, ließen keine Windräder zu. Fast alle schulten noch einmal um und machten sich selbstständig. Es gibt wohl kein weiteres Deutsches Dorf aus dem so viele Materialprüfer stammen, wie aus Sandberg.  Diese Menschen, die auf Sanddünen siedelten, entwickelten über Generationen einen weiten Blick, der sie immer dorthin führte, wo es ein gutes Auskommen gab. So lebten in Sandberg kaum Arbeitslose und die meisten Dorfkinder hatten eine gute Ausbildung im Reisegepäck. Doch nach langen Wanderjahren sehnten sich inzwischen viele nach der Heimat und einer eigenen Familie. Die Löhne stiegen endlich wegen des bedrohlichen Fachkräftemangels in Brandenburg, darüber galt es sich auszutauschen. Dieses Jahr aber war das Thema Nummer 1 bei Jans Single-Weihnacht: Der Mord unterm Milchmond…

© Petra Elsner
1. März 2018
Hinweis zum Urheberrecht: Der Text darf ohne Angabe des Urhebers nicht weiterverwendet oder kopiert werden. Auch das Zitieren von Textstellen bei Veranstaltungen bedarf meiner Genehmigung.

Alle in dieser Kriminalgeschichte vorkommenden Namen, Personen, Organisationen, Orte sind erfunden oder werden rein fiktiv benutzt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen, Orten oder Personen, lebend oder tot, sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

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Milchmond (28)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Eines Morgens waren sie aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Manche Nacht hörte er nun einen Schrei aus der Erde, aber es war kein Ton, der noch zu ihm gehörte. Frau und Tochter blieben seit jenem Unfallmorgen verschwunden in einer anderen Zeit, und er begann sein Eremitendasein ohne den Wunsch nach menschlicher Nähe. Bis zu ihrem Blick, der so traurig war, dass er ihn kaum aushielt. Seither dachte er an Julie und wartete auf ihren Anruf. Wenige Tage vor Weihnachten war es soweit. Eine schlichte Verabredung für den nächsten Tag, aber sein Herz klopfte dabei, als hätte er einen 100-Meter-Sprint hinter sich.
Sie fuhren die 70 Kilometer von Sandberg nach Pankow mit drei Autos. Dörte, Otto und Julie. Kai Fischer hatte den nötigen Parkplatz für ein paar Stunden mit einem rotweißen Band abgesperrt und wartete vor dem fein sanierten Gründerzeithaus. Als Otto Lauras Wohnung betrat, bekam er weiche Knie. Er sah sofort, dass seine Ex-Geliebte hier nur ein Zwischendasein führte, und er fühlte sich dafür irgendwie verantwortlich. Jetzt zerlegte er Regale und die Frauen packten den übersichtlichen Hausrat in Taschen und Kisten. Die ganze Aktion dauerte keine drei Stunden. Als fast alles verstaut war, stellte Julie eine Platte mit belegten Brötchen und Becher mit Kaffee auf den Fußboden und bat: „Kommt, kleine Stärkung!“ Die Helfer hockten sich wie um ein Lagerfeuer auf die blanken Dielen und langten zu.
„Was machst Du jetzt mit dem ganzen Zeug?“, fragte Dörte. Julie hing mit den Lippen pustend am heißen Kaffee und sprach ganz ruhig: „Ich bin noch nicht ganz sicher, ob dass der richtige Weg ist, aber ich muss das Leben neu zu sortieren. Hab mir überlegt, zwei Ferienzimmer auf dem Hof einzurichten, dafür kann ich die Sachen hier gut gebrauchen. Und wenn die Saison angelaufen ist, hole ich die Mutter zurück nach Hause. Wir hatten eine Verabredung, die Laura und ich, unsere Mutter kommt nicht ins Heim. Im Moment ging es für mich nicht anders, aber ich werde mein Versprechen halten.“
Kai Fischer fixierte Julie mit großen Augen und dachte: Stark, so eine tapfere Frau.
Dörte sah seinen Blick, freute sich still für ihre Nachbarin und sprach dann in das Rund. „Ferienzimmer – das ist eine gute Idee! Was meinst Du, wie oft ich nach meinen Schorfheide-Führungen gefragt werde, wo man hier ein Wochenende oder ein paar Tage unterkommen kann. Auch die Jäger suchen immer ein einfaches Quartier. Da kann ich Dir bestimmt ein paar Weichen stellen.“
Otto Ehrenburg fand die Idee auch gut und nützlich: „Wisst ihr, der Alfons aus Friedrichswalde und ich planen ab Mai Fototouren ins Wolfserwartungsgebiet. Ich bin sicher, dass diese Waldwanderer auch Übernachtungsmöglichkeiten suchen werden. Gut möglich, dass Du bald noch die Scheune ausbauen musst.“
Dörte neigte sich flüsternd zu Julie: „Spürst Du eigentlich, wie der Dich anschaut?“ …

 

© Petra Elsner
28. Februar 2018
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