Morgenstunde (387. Blog-Notat)

Es ist ein kleines Wunder, was ein Menschenleben erträgt. Aber wenn es mager und beschädigt ist, kein Tanz mehr möglich, keine Liebesnacht, nur ein schwindendes Dasein, dann fragt es sich: Macht es noch Sinn? Selbst der Heiterste kommt um diese Frage nicht herum, ob er es auslebt oder selbst Hand anlegt. Als sich diese Frage in mir anstimmte, machte sie mich unglaublich traurig. Jetzt schon? Sie kam ganz sacht, wie ein leiser Zweifel, wuchs zum Grummeln, bis sie sich demonstrativ in meinen Weg stellte und mich nötigte, sie zu beantworten. Eigentlich wollte ich mir einen schönen Baum suchen, wenn es soweit ist, aber ehrlich, ich wäre sowieso nicht mehr rauf gekommen, um in die Schlinge zu springen. Und schließlich kann man den Liebsten nicht bitten, mir die Leiter zu dem Baum zu tragen. Um so etwas darf niemand seine Liebe bitten. Niemals! Aber plötzlich und unerwartet, war da diese Neugier in mir, zu sehen, wie das Leben im Übergang ist. Die Pforte dahin hatte ich längst passiert, aber wie lebt es sich auf der letzten Stufe vor dem Fall ins Licht oder ist es doch nur das große Nichts? Das wird sich nicht klären lassen, aber das lautlose Gehen. Ich habe mich immer schon gefragt, weshalb sich die Alten so heimlich zurückziehen und dabei regelrecht unsichtbar werden. Jetzt weiß ich es. Es ist nicht die Scham zu welken, die anderen, die Lebenstüchtigen gehen einem einfach auf den Geist. Sie nerven mit ihrer Kraft und ihrem Tempo. Und sie schauen einen an, als wären Alter und Krankheit etwas, dass ihnen niemals widerfahren würde. Hah., glaubte ich auch – einst. Als junges Mädchen beobachtete ich eine arg zerknitterte alte Frau in der Berliner S-Bahn und dachte über diese Furchen in ihrem Gesicht: die müssten doch weh tun. Tun sie nicht. Aber wenn Lunge „vergisst“, verbrauchte Luft wieder auszuatmen, dann wird gruslig. Angst ist jetzt ganz schlecht. Ruhig atmen, die Angst weg atmen, sich ablenken. Eine Buchseite lesen, ein Wimmelbild betrachten, einen Brief schreiben. Menschen mit COPD Stufe IV und obendrauf ein diffuses Asthma haben nicht mehr viel Lebenszeit, wieviel genau lässt sich nicht sagen. Vielleicht eine Handvoll Jahre, eher weniger. Ich versuche gegenzusteuern mit Atemtraining, leichter Gymnastik, gesunder Ernährung, trotzdem schreitet der Prozess voran und ich würde lügen, wenn ich hier erzählen würde, dass ich mich nicht fürchte. Aber damit kann ich nicht andauernd meine Zeit verbringen. Es gibt gute Zeitfenster, in denen ich all das vergesse und arbeite, auch körperlich, selbst wenn ich sehr rasch hochrot dabei werde und schnaufe. Ich bin nicht so der Hängemattentyp. Aber dann gibt die anderen Tage, da steh ich schon nach wenigen Schritten und japse wie eine alte Dampflok. Das treibt mir Tränen in die Augen und die bange Frage ins Herz: Wie lange noch? Das Rätsel ist nicht zu erraten, schiebt mir aber das Dunkel ins Hirn, ach, das verbraucht nur Zeit. Ich seufzte in Lyrik-Krümeln oder trinke an solchen Abenden zu viel von dem kühlen Wein, was solls.

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