Morgenstunde (582. Blog-Notat)

Es ist schaurig-schön vor der Tür. Der Wind ist ruppig unterwegs und singt sein Novemberlied. Eine gute Zeit, wieder schreibend abzutauchen… Hier kommt der nächste Auszug aus meinem aktuellen Roman-Projekt “Die Zeit der weißen Wälder”:

 ….Liebe Frau Bach,
bitte entschuldigen Sie meinen unangekündigten Besuch. Ich wollte nicht übergriffig sein, aber ich brauche Sie dringend im Institut. Die Studie über die Zukunft von städtischen Großraumsiedlungen kommt ohne Sie nicht zum Abschluss. Wir brauchen Ihren sozialen Scharfsinn dafür. Bitte melden Sie sich …
Emilia las nicht weiter. Sie verschob die Mail in den virtuellen Papierkorb. Herzog störte. Aber die Frau wusste inzwischen, ohne den Verlustschmerz zuzulassen, würde sich ihre Trauer nicht legen. Deshalb verweigerte sie sich dem gewohnten Leben. Stattdessen holte sie sich aus dem Schuppen die nächsten Kisten und es war ihr, als würde sie in all der Fülle förmlich ertrinken. Die ungelesenen Bücher und Manuskripte der Mutter – unaufgeräumte Herzstiche.

*

Der erste Herbststurm riss das Goldlaub von den Bäumen und peitschte das Land. In der Dämmerstunde fiel Strom aus. Es war wie ein Zeichen für Emilia, das Sichten zu beenden. Sie räumte auf und verschloss die Kisten wieder. Nur die mütterlichen Geschichten behielt sie bei sich. Bücher, die lange in der Finsternis davon träumten, dass sie jemand aufschlug und ihren Schatz entdeckte. Es wurde dunkel als der Sturm endlich einschlief, doch der Strom fehlte weiter. Die Frau stellte gerade Kerzen auf, als es sacht an die Fensterscheibe klopfte. Emilia blickte auf und sah den Kasper hinter dem Glas, der ihr vorsichtig zuwinkte. Na sowas, der Puppenspieler, dachte sie und öffnete die Tür mit klopfendem Herzen. „Ich kaufe keine Taschenspielertricks an der Haustür,“ spöttelte sie.
„Na, dann lass uns doch einfach reingehen,“ antwortete der Kasper und Hans, der Täuscher grinste.
„Von welchem Parkplatz hat es denn dich hierhergetrieben? Und wer hat dir verraten, wo ich lebe?“, fragte Emilia distanziert.
„Die Wirtin deines Ferienzimmers, war so frei. Ist zwar nicht datenschutzkonform, aber du weißt ja, ich habe bei ihr einen zeitweiligen Stellplatz.“ Hans, der Täuscher legte ein Foto in den Kerzenschein auf dem Küchentisch. Er setzte sich und wartete, dass Emilia es ansah. Sie brachte zwei Becher Rotwein herbei und erblickte das Bild: „Meine Großmutter Ria und Harry beim Puppenspiel?“
Hans nickte: „Ja, sie musste ihn im ersten Nachkriegssommer über die Dörfer begleiten, sollte erst einmal irgendetwas lernen. Aber sie hat nicht durchgehalten. Der alte Harry nahm es mit der Hygiene nicht so genau, wenn er Überland reiste. Er stank einfach entsetzlich in der Sommerhitze. Da ist sie auf und davon und Fredi war sauer.“
Emilia schüttelte ungläubig den Kopf: „Für mich war Ria eine Kabarettistin auf irgendwelchen Arbeiterbühnen. Nebenberuflich nur, weil auch Fredi, genau wie seine Eltern, von ihr verlangte, einen anständigen Beruf zu ergreifen. Sie lernte schließlich Stenotypistin, wurde Sekretärin. Weil so viele Männer im Krieg geblieben waren, gab es in den 50er und 60er Jahren eine bemerkenswerte Frauenförderung. Ria kam so zu einem Fernstudium: Regie und Journalistik. Danach wurde sie Aufnahmeleiterin beim Rundfunk und schrieb später für eine Radiosendung sehr durchschnittlichen Sketsche. Sie war nicht glücklich in alledem und deshalb kam wohl der Krebs. Großmutter hatte nur einen Bruchteil von Fredis Talenten geerbt, doch nie konsequent daran gearbeitet. Aber Talent ohne Training ist nichts. Ria war einfach eine leichtfüßige Lebefrau. Von ihrem Ausflug ins Puppenspiel hatte sie nie erzählt. Es muss sie abgeschreckt haben.“
„Na ja, es waren ihre Sturm-und-Drang-Jahre. Sei nicht so streng. Wir alle sind Kinder unserer Zeit. Damals herrschte der feucht-fröhliche Überschwang, eine feierwütige Freude, weil man am Leben geblieben war. In diesem Taumel ging sie nach Ostberlin und spürte ihren Chancen nach. Man sah sich danach nur noch selten und wurde sich schließlich fremd.“
Emilia nickte nachdenklich: „Als ich zwölf war, ist sie gestorben.“
„Ich weiß“, flüsterte der Mann, „danach riss die Freundschaft. Wir haben einfach nichts mehr von den Berlinern gehört. Aber es gab dieses Band zwischen unseren Sippen.“
Sie tranken den Wein in großen Zügen. Emilia schenkte nach und schmierte ein paar Schmalzbrote. Hans sah sich inzwischen in dem Raum um. „Sehr aufgeräumt.“
„Hättest ein paar Stunden früher kommen müssen. Totales Chaos. Da hockte ich noch inmitten des mütterlichen Nachlasses. Völlig versunken in der verschwommenen Vergangenheit. Tagelang. Ein wirres, schmerzhaftes Suchen war das.“
„Und, bist du fündig geworden?“
„Ich weiß nicht, vielleicht. Meine innere Stimme sagt mir: ‚Steig aus dem Hamsterrad! Folge deinen Talenten!‘, aber ich fürchte mich.“
„Wovor?“
„Zu scheitern.“…

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