Schreibzeit

In den letzten Tagen habe ich die Novelle WELTENGANG ab dem Kapitel „Trau, schau, wem“ bearbeitet und umgeschrieben. Hinweise von Freunden machten mich darauf aufmerksam, dass ich ins Berichten verfiel. Das geschieht, wenn so ein Text beim Schreiben schmerzt. Aber jetzt ist sie für mich abgeschlossen und ich kann Euch die nächste Kurzgeschichte vorstellen:

Ein wenig Geborgenheit

Hannes Knopf lebte im Herbst 1989 noch gemeinsam mit seiner Mutter und Großmutter zusammen. Die Frauen waren eiserne Kommunisten, und er hatte sechs Semester Wissenschaftlichen Sozialismus studiert. Während die Nachbarn in Westberlin nach ihrem Begrüßungsgeld Schlange standen, goss die Mutter drei Kognakschwenker halbvoll, reichte den beiden die Gläser und fragte beim Anstoßen trocken: „Nun, mein Junge, werden wir jetzt arm und bedeutungslos oder kriminell?“ Hannes riss die Augen auf. Soweit hatte er noch gar nicht gedacht.

Das mit dem Reichwerden durch kriminelle Energie hatte nicht geklappt. Hannes Knopf versuchte Flüchtlinge aus Pakistan über die Türkei nach Deutschland zu schmuggeln und wurde prompt beim ersten Mal an der Bayrischen Grenze geschnappt. Während er zwei Jahre in Haft saß, starben Mutter und Großmutter. Die Wohnung in Weißensee war also verwaist, als er heimkehrte. Die goldenen Häkeldeckchen der Großmutter waren stumpf vor Staub, nichts mutete ohne die Frauen behaglich an. Im Gegenteil, den Mann fröstelte es, obwohl es Sommer war. Hannes Knopf war unschlüssig, wie er den Abend verbringen sollte. Morgen – das war bereits vereinbart – könnte er in diesem Weddinger Letter-Shop arbeiten. Werbung eintüten und adressieren. Für „arm und bedeutungslos“ würde es reichen, dachte er.
Ein Hungergefühl trieb ihn schließlich vor die Tür. Beim nächsten Imbiss kaufte er sich zwei Bockwürste mit Brot, lehnte sich an die Hauswand und sah den Passanten zu. Alles hetzte hin und her – nur eine Person nicht. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe. Ein vollkommenes Alleinsein, so schien es. Die kleine Punkerin bummelte mit ihrem Hund als würde sie träumen. Aber sie träumte nicht, sie taumelte. Der Imbissmann kommentierte: „Die is ooch schon wieder zugedröhnt.“ Hannes nickte lustlos und winkte den Gesprächsversuch ab. Er warf die senfverschmierte Pappschale in den Müllsack, wechselte die Straßenseite und ging hinunter zum Scheunenviertel. Stadtwandern ist schön, dachte er beim Laufen, und bemerkte: viel hatte sich in den Straßen nicht verändert. Die fliegenden vietnamesischen Zigarettenhändler standen an den Kiez-Ecken und musterten jeden argwöhnisch: Geheimpolizei oder Kunde? Hier und da gab es neue Imbissangebote, ein paar Italiener, Türken und Griechen hatten Restaurants eröffnet, die sorgten für ein bisschen Flair. Aber sonst: Leerstand und viel Grau. Man nahm sich Zeit mit den versprochenen blühenden Landschaften. Hannes wollte zum ältesten Haus in der Sophienstraße, das eine schöne Kneipe und einen noch besseren Hausgarten beherbergte. Die „Sophie 11“ gab es schon zu DDR-Zeiten, da kannte er sich aus. Dort wollte er sich niederlassen und mit Rotwein seine Freilassung feiern, bis die Nacht den Tag verschluckte. In dieser Dämmerstunde gegen 23 Uhr betrat die Punkerin mit ihrem Hund den Hof. Offenbar suchte sie jemand. Sie sprach eine Kellnerin an, die nickte und verschwand im Küchenzugang. Keine Minute später huschte eine andere Kellnerin herbei und umarmte die kleine Punkerin, die sich steif machte und die Zuneigung mit dem Arm abwehrte. Hannes sah noch, wie die Frau dem Mädchen ein bisschen Geld in die Hand drückte, dann verschwand es. Es war weit nach Mitternacht, als Hannes Knopf am Tresen seine Zeche zahlte. Die zwei Kellnerinnen tranken jetzt ihren Feierabendsekt, als die zarte Dunkelgestalt sich umdrehte und ihn ansah. Das war ein Funkeln aus verheulten Augen, seltsam berührend. Hannes stand wie angewurzelt, aber sie rutschte vom Hocker und meinte nur: „Komm!“

Als er morgens erwachte, wusste er nicht mehr allzu viel vom Fortgang der Nacht. Es war ihm, als wären sie wie Raubtiere übereinander hergefallen. Heftiger Liebeshunger. Sie schlief noch, als er sich auf den Weg in den Wedding aufmachte. Er war viel zu spät dran, und sein Kopf war noch rotweinschwer, als er vor seinem neuen Chef auftauchte. Der nickte ihm zu und meinte in die Runde: „Na, der fängt ja gut an!“ Doch der Mann hatte andere Sorgen. Die Kuvertiermaschine streikte, und alle rauften sich die Haare. Hannes hatte vor seinem verunglückten Studium glücklicherweise ein Abitur mit Berufsausbildung zum Elektriker gemacht. „Kann ich helfen?“, fragte er leise.  Der Chef zog eine krause Stirn: „Kannst du das? Dann mach!“ Hannes machte. Eine Viertelstunde später lief das Maschinchen wieder und tütete in Höchstform Infobriefe ein. Der Chef war begeistert, und sein Neuling stieg gleich am ersten Tag in eine gefühlte andere Liga auf. Zwei Wochen später schmiss Hannes verlässlich den ganzen Laden. Am liebsten in den Nächten, am liebsten allein. Da brauchte er keine Fragen zu beantworten, nur der Chef wusste, dass er frisch aus dem Knast kam.

Am Wochenende ging er abends wieder in den lauschigen Hofgarten der Sophie 11. Die Kellnerin schien nicht besonders viel Notiz von seinem Erscheinen zu nehmen. Sie stellte ihm im Vorbeigehen einen Schoppen Roten vor die Nase „Spendiert!“ krächzte sie heiser. Das wars, sie hatte nebenan ihr Revier. Zur Nacht zog sie sich einen anderen Mann vom Hocker. Hannes sah zu und war irritiert, dann suchte er sich eine neue Kneipe.

Im Morgengrauen entdeckte er auf dem Nachhauseweg das Punkermädchen mit schlafendem Hund vor einer Bäckerei lagern. Verbunden nur mit diesem Tier, schien ihm eine schwere Wolke der Einsamkeit über dem Mädchen zu schweben. Der Anblick stach ihm tief ins Herz. Er ging zu ihr und sprach sie klar an: „Ich heiße Hannes Knopf, und habe ein Zimmer frei, möchtest du mit mir kommen? Nicht zicken, nicht klauen. Ich tu‘ dir nichts, ich meckere nicht, ich kann dir aber ein bisschen Geborgenheit bieten, wenn du willst. Wie heißt du?“
„Paula, 17 Jahre, mein Hund heißt Paul.“
Hannes streckte ihr die Hand entgegen, Paula ließ sich hochziehen, dann trottete sie langsam hinter Hannes her.
Als sie die Wohnung betraten, zeigte er ihr das Zimmer seiner Mutter. Er raffte die alte Kleidung aus dem Schrank, brachte Bettwäsche und ermunterte sie: „Du kannst das Zimmer nach deiner Fasson gestalten. Ich bin nur am Wochenende zuhause, sonst schiebe ich Nachtschichten und schlafe tagsüber. Aber im Kühlschrank wirst du immer was finden – und hier ist dein Schlüssel.“

Paula schaute in sein offenes Gesicht, seltsamerweise vertraute sie diesem Mann und schlief, ohne das Bett zu beziehen, ein.
Währenddessen räumte Hannes die unzähligen Golddeckchen und den Sammelkitsch der Frauen in einen Karton. Das Wohnzimmer sah gleich nicht mehr so nach alten Damen aus. Dann kochte er einen großen Eintopf und schnitt ein paar Wiener für Paul klein – und ging schlafen.
Das Leben zog weiter. Die beiden sprachen nicht viel miteinander, aber Paula hatte plötzlich Verlässlichkeit. Manchmal lag ein bisschen Taschengeld für sie neben ihrem Frühstück, oder ein neues Shirt. Eines Morgens war das Mädchen nicht in der Wohnung als Hannes von der Nachtschicht kam. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch, besorgt las er: „Ich mache jetzt einen Entzug irgendwo in Brandenburg! Ich komme wieder, Paula“

Lesekostprobe

Die ersten 10 Klausurtage sind vergangen. Die Novelle wächst. Im zweiten Teil der Klausur, werden eine Handvoll Kurzgeschichten entstehen. Gestern hatte ich dafür eine Geschichtenidee, die ich Euch zu diesem Wochenende als Lesekostprobe servieren möchte… bis demnächst wieder 😊

Das Grammophon in der Nacht

Er wohnte in dem Eckhaus mit dem besonderen vietnamesischen Spezialitätenladen. Dort, im vierten Stock, hatte er sein Versteck, ein Labyrinth aus Büchern und schönen, alten Dingen. Niemand durfte es betreten, denn wäre zufällig ein Statiker dort hineingekommen, es hätte ihn der Schlag getroffen. Es war die Zeit, in der so mancher sich einen Whirlpool in das frischsanierte Bad stellte und damit rasch mal eine Etage tiefer landete. Im Prenzlauer Berg herrschte vor den Grundsanierungen der Hausschwamm im Gebälk. Weil einst die Leute aus jedem Bau-Container das entsorgte Holz klauten, um sich daraus vielleicht ein Hochbett zu bauen. Der Schwamm durfte also auch in den Dielen von Karl Wunderlich stecken, doch der Mann hielt die Gefahr geheim. Schon immer verführte den Herrn Wunderlich dieser Hang zum Sammeln in eine leise Zeit. Zwischen all den Bücherstapeln bis unter die Gründerzeitdecke, tickte die Uhr langsamer als draußen vor der Tür. Ein Ort der Stille, an dem alles noch seinen Wert hatte, weil er die Dinge schätzte.

Der Wohn-Kietz war im Umbruch und plötzlich bemerkte Karl Wunderlich, dass alle seine Bekannten verzogen waren, selbst seine alte Stammkneipe hatte geschlossen. Er fühlte sich inzwischen sehr allein. Nun trug es sich zu, dass auch besagtes Eckhaus eine Nobelsanierung bekommen sollte. Man forderte den Mieter nicht nur einmal auf, den Umzug vorzubereiten. Aber Karl Wunderlich versteckte sich und öffnete niemandem.
In einer warmen Mainacht öffnete er seine Balkontür und stellte sein Grammophon unter den freien Himmel. Es war weit nach Mitternacht als er die erste Schellackplatte auflegte: Heinz Rühmann und Hans Alberts knisterten mit „Jawohl, meine Herr’n“ über die Balkonbrüstung. „Ich hab dich und du hast mich“ trällerte und pfiff Ilse Werner anschließend und plötzlich tanzte ein Pärchen auf der Straßenkreuzung. Die Nostalgie der Töne lockte Nachtschwärmer herbei. Junge Menschen, die regelrecht verzückt waren von der schrulligen Stimmung. „Bitte leg noch was auf!“ riefen sie dem Mann auf dem Balkon zu. Karl Wunderlich lächelte, winkte scheu den Leuten zu und kaum später leierte Lale Andersens „Lilli Marleen“ durch die Nachtluft. Unterdessen rollte eine Polizeistreife heran. Karl Wunderlich hob den Tonarm von der Platte und schloss seine Balkontür. Die Tänzer drehten sich in einen Kuss und tummelten sich dann, als wäre nichts gewesen.

In der nächsten Nacht rief eine kleine Menschentraube nach ihm: „Hallo, Grammophon-DJ, leg uns ne Scheibe auf! Bitte!“ Warum nicht, dachte Karl und zog seine Kiste mit den 20er Jahre-Platten auf den Balkon. Diesmal tönte frecher Schlager-Swing über die Brüstung. „Wer hat nur den Käse zum Bahnhof gerollt“, dann „Mein Papagei frisst keine harten Eier“. Die Magie der Geräusche lud Passanten ein, zu verweilen. Das ging einige Nächte so weiter und endete immer damit, dass eine Polizeistreife heranrollte. Ganz langsam, damit die Szene Zeit hatte, sich zu zerstreuen. Niemand hatte sie gerufen, aber auch die Uniformierten waren verzückt von diesem hübsch altmodischen Flashmob.

Doch die Zeit drängte. Karl Wunderlich musste raus aus der Wohnung und sich kümmern. Nachts reagierte er nicht mehr auf die Rufer. Er packte völlig verstört Kartons, als es an der Wohnungstür klingelte. Zaghaft öffnete er. „Herr Wunderlich, wollen Sie mit Ihrem Grammophon zu unserem Hoffest kommen? Es wäre uns eine Freude.“ Karls Augen leuchteten, aber er winkte zugleich ab. „Es geht nicht. Ich muss morgen umziehen und weiß gar nicht, wie das gehen soll.“ „Wieso?“ fragte der junge Mann. Der Sammler gestattete ihm einen kleinen Einblick. „Ach herrje, das ist wirklich viel! Aber was solls, bestellen Sie ruhig den Transporter, ich besorge Leute, die das runtertragen und auch wieder rein in das neue Quartier, wenn Sie nächsten Samstag zu uns kommen.“ Karl Wunderlich nickte aufgeregt und sehr erleichtert.
Es kam, wie versprochen. Wunderlichs gigantischer Umzug wurde vollbracht. Zu seiner Freude, denn das Ausweichquartier entpuppte sich als Ladenwohnung, aus der Herr Wunderlich nach ein paar Wochen ein magisches Antiquariat der Bücher und Töne zauberte. Mit rotem Canapé und Messingteetischchen im Fenster. Ein Geheimtipp und ein Ort, an dem manche Nacht ein Käse zum Bahnhof gerollt wird.

©Petra Elsner