Die Steintafel

Dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, war am Heiligen Abend auch nie viel los. Langohr Mohri wünschte sich, einmal sollte das ganz anders sein. Lebhaft und glanzvoll. Und so pinselte er seinen Wunsch auf einen alten Teufelsstein am Weg durch die Heide: „Wanderer, du bist eingeladen, hier den Heiligen Abend mit uns zu feiern.“

Das Jahr verging. Mohri und sein Freund, der Fuchs Listus, hatten sich fein herausgeputzt und den Stein in eine Tafel verwandelt. Darauf thronten Nüsse, Rübchen, Pilze, Kohl und schönste Waldbeeren – schließlich nahte der Heilige Abend, auch wenn Nieselregen fiel. Die Nacht war weit vorangeschritten, noch immer spähten die Zwei in die dunkle Ferne und warteten, wer sich wohl zu ihrem Festschmaus einfinden würde. Mohri wurde langsam ungeduldig und begann zu mosern: „Es ist Weihnachten, und wir haben wieder keinen Schnee, der unserer Heide ein lichtes Weiß spendiert. Wer verliert sich schon in diese nasse Einöde? Nur die tollen Rüben leuchten so schön rot, wollen wir nicht mit dem Nachtmahle beginnen?“ Listus winkte ab: „Hab noch etwas Geduld“, dann starrte er abermals in das weite Nichts.

Nebelschwaden waberten. Bald war die flache Landschaft vollständig im Dickicht versunken, aus dem es auf einmal leise kicherte, dann grunzte und schließlich knurrte. Mohri und Listus lauschten mit aufgestellten Ohren. Wer mag das sein? Mal wisperte es von rechts her, dann gluckste es von links. Fuchs und Hase wurde es unheimlich zumute. Plötzlich entsprangen dem milchigen Dunst zwei kleine Trolle. „Na, na, wer wird denn da maulen? Ohne dieses tolle Reisewetter hätten wir nicht kommen können“, meinte eines der fidelen Wesen. Sie grüßten, traten an die Tafel heran, holten ihre Wasserpfeifen hervor und genossen schmunzelnd die erstaunten Blicke ihrer Gastgeber. „Was schaut ihr so irritiert, wir sind die Gebrüder Sanft und Mut, geboren in einer Weihnacht unter diesem Stein, und keine Trolle der bösartigen Sorte. Ihr könnt euch also entspannen.“ „Hohoh“, raunte Listus, „das kann ja jeder behaupten. Gewöhnlich bringen Trolle nur Ärger und Schabernack mit sich. Wir aber wünschten uns eine gesellige, friedliche Heilige Nacht.“ Der Fuchs blieb misstrauisch, er mochte keine Geisterwesen. Der Hase starrte indessen ein schwarzes Loch in den Boden: „Unter diesem Teufelsstein?“ Mut grunzte vor Lachen: „Was heißt hier Teufel-, es ist ein Trollstein. Vorzeiten  hat just an dieser Stelle ein gemütlicher Riesentroll den Sonnenaufgang verpasst und wurde vom ersten Tageslicht in diesen Stein verwandelt.“ Instinktiv wich das Langohr furchtsam von dem Steine zurück und musterte ihn mit gebührlichem Abstand. Nein, ein Trollgebilde ließ sich darin nicht wirklich erkennen: „Ach, ihr tischt uns bloß ein Schauermärchen auf.“

Sanft schaute sanftmütig und flüsterte: „Glaubt es nur. Seit Jahren versuchen wir ihn zu erwecken, wissen aber nicht, wie das gelingen kann. Wir haben ihn schon untergraben, dann gerollt, gekitzelt, selbst freche Witze haben wir ihm erzählt – ohne Wirkung.“

Listus umkreiste den alten Feldstein, schnupperte hier, klopfte dort und kratze sich schließlich nachdenklich am Haupte: „Was soll‘s, es wird wohl niemand mehr kommen, lasst uns endlich speisen. Wir werden euren Gevatter kaum erwecken. Der Stein liegt hier seit Fuchsgedenken ungerührt. Außerdem würde unser Vorrat wohl kaum für einen Riesen ausreichen.“ Sprach’s und lächelte versöhnlich.

Sodann schmausten sie genüsslich. Mohri und Listus hörten weitschweifende Geschichten,  von garstigen und guten Trollen, von Unholden und ihren Feen. Und es war gerade so, wie es sich Mohri gewünscht hatte: Lebhaft und feierlich. Der Himmel hatte sich gerade gelichtet, und der Stern der Weihnacht beleuchtete die kleine Gesellschaft, als Sanft inne- hielt: „Wartet, wir sind nicht nur zum Plaudern gekommen. Jetzt beginnen die geheimnisumwitterten Stunden, in denen sogar kalte Herzen schmelzen und vielleicht, ja vielleicht auch Steine erweichen.“

„Was habt ihr denn vor?“, fragte der Hase aufgeregt und schon wieder etwas bammelig. „Keine Ahnung“, gab Sanft zu, „einfach nur warten, und bei ihm sein.“ „Und das allein soll diesen Stein schmelzen?“ – der Hase schaute ungläubig, aber auch erleichtert. „In einer Heiligen Nacht – vielleicht“, murmelte Sanft kaum vernehmbar.

„Wozu wollt ihr eigentlich den Riesen erlösen?“, bohrte Listus neugierig. Mut räusperte sich: „Es ist ein ganz besonderer seiner Art. Einer, der wilde Flüsse und Stürme zähmt, die Ernte beschützt, Streit schlichtet und Sanftmut verbreitet. Er ist unser Großvater, und sein guter Zauber fehlt nicht nur uns Trollen.“ „Das könnte sein“, fand auch der Fuchs.

So saßen sie also die ganze Nacht lang hoffnungsvoll, aber nichts regte sich. In der Dämmerung mussten die Trolle aufbrechen. Schließlich wollten sie nicht als kleine Feldsteine enden. Ein Blatt lag noch verloren auf der Steintafel. Schläfrig meinte Mohri: „Es wird Zeit zu gehen, habt dank für eure Gesellschaft, und kommt nun gut nach Haus.“  Zum Abschied spöttelte er noch: „Das leckere Blatt lassen wir ‘mal vorsorglich für euren Riesen zurück“, dann machten sie sich auf ihre Wege. Ein Hauch von Schnee kam mit dem ersten Weihnachtsmorgen über die Heide, und in dem alten Stein rührte sich ungesehen Leben.

Der Waldschrat

Eine Weihnachtsgeschichte

Tief im märkischen Wald, auf den Hügeln über dem Roten Luch, lebte weltabgewandt der alte Waldschrat Karl mit seinem Raben Kuno. Der schwarze Vogel war sein einziger Gefährte durch die Zeit. Sommer wie Winter ging der Mann sockenlos nur in Sandalen. Sein graues Haar fiel struppig und reichte weit über seine schmalen Schultern. Nur sein abgetragener schwarzer Anzug ließ vermuten, dass der Alte schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. Wenn Karl die Wälder durchstreifte, um Holz, Pilze oder Beeren zu sammeln und dabei gelegentlich auf Wanderer traf, erschreckten sich die Menschen vor der bizarren Gestalt. Grußlos war er ihnen begegnet und scheu, gebeugt rasch wieder im Unterholz entschwunden. Nur Kunos „Krarr, krarr“ war noch ein Weilchen vernehmbar. So nährte der Mann mit dem Raben im nächsten Dorf eine wüste Mär von dem unheimlichen Hexer im Luchwald. Mehr und mehr mieden die Menschen die Gegend um Karls windschiefe Holzhütte.

Der alte Waldschrat bemerkte nicht, wie er wirkte. Zu schwer trug er an einem Kummer, der ihn einst in diesen Wald trieb. Damals, als er, der eigentlich ein begnadeter Pianist war, mit seinem Klavierkonzert für „Eulen und Raben“ beim Publikum durchfiel. Verletzt vergrub er sich seither in der märkischen Stille und lebte von dem, was die Natur darbot. Die Hütte hatte er vorzeiten von einer alten Tante geerbt, auch ihre Notate für die Waldküche und ein paar Bienenvölker. Sehr bald nach jenem unglücklichen Konzert versorgte sich der Mann völlig selbst. Nur etwas Salz und Mehl beschaffte er sich gelegentlich im sieben Kilometer fernen Dorfladen. Aber sein Erscheinen dort erzeugte nur sehr verstörte Blicke. So wurde Karl immer wunderlicher.

Nun hatten sich aber die Zeiten sehr verändert. Es gab in der Gegend kaum noch Arbeit, die Sozialkassen waren leer, und die Kinder des Dorfes litten unter dem Mangel am meisten. Der nahe Wald mit seinen Früchten lockte unwiderstehlich schon den ganzen Sommer lang. Schließlich war ihr Heißhunger auf zuckersüße Himbeeren, Walderdbeeren und Brombeeren größer als jede Angst. Doch der unheimliche Ruf einer Eule und das Krächzen von Kuno hielten die Kinder immer noch fern von Karls Hütte.

An einem kühlen Tag, kurz vor Nikolaus, machte sich die kleine Marie auf den Weg in den Wald, um nach den letzten Haselnüssen zu suchen. Der Wind pfiff scharf über die kahlen Felder. Marie war froh, den schützenden Wald zu erreichen. Doch Nüsse fand sie einfach keine. Weihnachten ohne Nussplätzchen? Marie gab nicht auf und lief immer tiefer in den Forst, in dem es auch kleine, aber nicht wirklich gefährliche Moorfelder gab. Plötzlich brach unter ihr der Boden. Das Kind rutschte und fiel mit dem Kopf auf einen Stein. Ohnmächtig lag es da in der Kälte, doch glücklicherweise war Karl zum Holzsammeln unterwegs und fand das Mädchen.

Als Marie erwachte, rieb sie sich vor Erstaunen die Augen: Im Kerzenschein des engen Raumes sah sie Unmengen von großen Gläsern, prall gefüllt mit getrockneten Früchten. Sie glaubte sich fast im Schlaraffenland, bis ein „Krarr, krarr!“ ihr Staunen unterbrach. Ängstlich schaute sie auf den zauseligen Mann, der ihr eine Handvoll getrocknete Himbeeren reichte. „Nimm, sie sind süß und lindern dein Fieber“, raunte Karl. Und Marie schob erst skeptisch, dann voller Gaumenfreude Beere für Beere in den Mund. „Och“, sagte sie schließlich, „du hast so viele Schätze hier, und die Kinder im Dorf werden dieses Jahr zu Weihnachten wohl nicht einmal bunte Teller bekommen.“

„Steht es so schlecht“, fragte erschrocken der Waldschrat und hörte daraufhin nur ein leises „Ja.“

Betroffen schlug Karl das verletzte Mädchen in eine dicke Decke und trug es durch den kalten Wind zurück ins Dorf, in dem bereits helle Aufregung herrschte. Hunde bellten, und Lichter flackerten im nahen Luch. Die Männern suchten schon Stunden nach dem Kind. Karl war unbemerkt in die Siedlung gelangt. Wortlos übergab er die schlafende Marie der erschrockenen Mutter und verschwand sogleich wieder in der Nacht wie ein flüchtiger Schatten. Erst am Weihnachtsabend schlich der Mann aus dem Wald abermals in das Dorf und hängte heimlich an jede Haustür ein Leinensäckchen, voll gestopft mit Trockenfrüchten, Honig und Nüssen. Natürlich waren die Geschenke sehr bald entdeckt, denn Kunos „Krarr, krarr“ hatte einen der Bauern aufhorchen und nach dem Rechten sehen lassen.

Die ganze Dorfgemeinschaft freute sich über die unverhofften Gaben. Nur Marie schwieg nachdenklich, bis sie in die fröhliche Runde fragte: „Und wer beschenkt heute Abend den alten Mann im Wald? Er könnte mindestens ein paar Socken gebrauchen.“ Ein paar Handgestrickte waren schnell gefunden, und dann brach das ganze Dorf zu einer Nachtwanderung in den tief verschneiten Winterwald auf. Karl war es erstmalig richtig unheimlich, als die vielen brennenden Fackeln auf sein Haus zukamen. Aber als der stille Mann die fröhlichen Stimmen vernahm, öffnete er sein Haus und braute den Gästen über einem lodernden Feuer im Schnee einen kräftigen Weihnachtspunsch.

Fortan trug der alte Karl sommers wie winters handgestrickte Socken. Die Dorfkinder besuchten den Waldschrat seit jenem Weihnachtsabend, wann immer sie wollten und lernten dabei, wie man manchen Mangel selbst beheben kann. Karl wurde darüber wieder ein heiterer Mann, der zuweilen auch sein Konzert für „Eulen und Raben“ seinen Gästen vorspielte, und jene mochten und verstanden seine Musik.

Text & Zeichnung: Petra Elsner

 

Vom Zauber der Weihnachtsfeen

Ein weihnachtliches Abenteuer von Petra Elsner

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

Das Flügelmädchen Malve erwachte im Moos als es zu schneien begann. Leise wisperte es seine Klage: „Ich friere so sehr.“ Malve zitterte und senkte wieder die Lieder. Der Eichelhäher hörte das Jammern und weckte mit seinem lauten Rätschen den ganzen Wald. Alvin, der Eichkater blinzelte verschlafen aus seiner Baumhöhle und entdeckte im Flockenwirbel die zarte Gestalt. Schnell raffte er seine rote Schlafdecke und war mit flinken Sprüngen bald bei der Winselnden: „Dich hat wohl der Sommer vergessen?“ Er wickelte fürsorglich die Decke um Malve, doch genau in diesem Augenblick wurde sie von der Erde verschluckt und das rote Tuch sackte als leeres Häufchen zusammen.
„Wer oder was war das?“ schrie Alvin entsetzt. Indem schwebte der Eichelhäher aus einem Baumwipfel zu dieser Stelle. Dort klaffte ein dunkles Loch, in das der Rabenvogel lugte und schließlich krächzte: „Zeigt euch ihr Erdlinge – alle!“ Der Wald begann zu rascheln und zu knistern. Soweit das Auge schauen konnte, öffneten sich Höhlengänge, scharrten sich unzählige Mäuse und Maulwürfe, kleine Kobolde und große Käfer hervor. Selbst eine fast erstarrte Ringelnatter hob ihren Kopf in die Winterluft und eine alte Kröte auch. Die hustete und raunte dann: „Es war der Riesenratterich. Der stiehlt alle Wesen, die einen guten Zauber verströmen. Auf das winterlahme Flügelmädchen hat er schon lange gelauert.“
„Oh, wie entsetzlich! Ich muss hinterher und Malve retten“. Der Eichkater wollte schon in das Erdloch springen, da stöhnte die Kröte noch: „Das wird schwer, denn der Riesenratterich atmet auch den Mutigen die guten Gedanken weg und ersetzt sie gegen Frust und Gier. Du musst dich sehr in Acht nehmen.“ Dann grub sich die alte Kröte zurück in das Erdinnere.„Wie soll ich mich schützen?“, fragte sich der Eichkater ratlos und tippelte nervös auf und ab. „Schöpf dir etwas Blaunebel aus der Dämmerung und verberge dich in ihm, wenn du in die Erde steigst“, flüsterte ein listiger Mooskobold. Gesagt, getan. In der Blauen Stunde fing sich Alvin mit einem großen Tuch Blaunebel ein und huschte mit dem Bündel über die dünne Schneedecke zu dem Erdloch, in dem das Flügelmädchen verschwunden war. Vorsichtig stieg er ab. Es roch modrig und seine dunklen Augen mussten sich sehr anstrengen, um etwas zu entdecken. Irgendwo in der Ferne blitze ein schmaler Lichtschein in den schwarzen Gang. Der Eichkater schlich dem Licht entgegen und linste in den hellen Schein. Da sah er sie, viele kleine Weihnachtsfeen, gefesselt an Händen und Füßen, und dort hockte auch Malve. Sie alle schienen steif vor Angst. Der Riesenratterich marschierte durch den Kerker und drohte: „Keine von euch wird dieses Jahr ihren Weihnachtszauber in die Welt bringen, denn ich werde all eure guten Wunschgedanken verbrauchen, bis ihr gar nichts mehr könnt.“ Die Feen schluchzten leise vor sich hin, als der Unhold sich eine von ihnen griff und ihren Atem aufsog. Danach hing sie nur noch schlapp in seiner Pranke.
Der Eichkater fuhr erschrocken zurück ins Dunkel. Was für ein Ungeheuer! Es schauderte ihn bis in die letzte Fellspitze, aber er musste etwas tun. Der Blaunebel würde ihn verbergen. Alvin öffnete das Bündel und zwängte sich im Schutz einer blauen Wolke durch den Spalt in den Kerker. Die Feen zuckten etwas erschrocken, als plötzlich irgendetwas ihre Fesseln zernagte. Sie hielten aber still, damit der Riesenratterich nichts davon bemerkte. Der verließ inzwischen den Kerker, um wieder auf Jagd zu gehen. Da sprang Alvin aus dem Blaunebel und rief den ängstlichen Feen zu: „Ihr müsst euch wehren!“ „Wie soll das gehen? Wir sind viel zu schwach mit unserem kleinen Zauber“, hauchten die Zarten. „Na, dann vereint eure Magie! Ihr müsst einfach nur alle das Gleiche wünschen!“, rief der Eichkater. Die Weihnachtsfeen waren immer allein unterwegs, so war ihnen dieser Gedanke nicht gekommen. Sie tuschelten sehr aufgeregt miteinander. Als die knarrende Kerkerpforte wieder aufsprang schrien sie wie mit einer Stimme: „Her mit dem guten Zauber, der dir nicht gehört!“ und hielten dem Ungetüm ihre funkelnden Zauberstäbe entgegen. Da hustete und pustete der Riesenratterich, sein Atem fuhr wie ein Wind aus ihm, und er schrumpfte dabei zu einem Staubkornwinzling. All die ausgesogenen Wesen erwachten hier und überall im Land wieder zu neuem Leben. Die Feen staunten über die Kraft ihrer Gemeinschaft. Das würden sie niemals vergessen. Während sie den düsteren Ort verließen, schlug Alvin die rote Decke um das immer noch frierende Flügelmädchen und fand: „Jetzt siehst du fast wie eine Weihnachtsfee aus.“ Malve fragte „Was müssen Weihnachtsfeen können? Ich tanze ja nur mit den Blumen und belohne die Menschen mit einem freundlichen Zauber.“ Der Eichkater lächelte: „Das machen die Weihnachtsfeen auch. Du musst halt nur mit den Flocken tanzen lernen und für den guten Geist der Weihnacht sorgen.“ Malve raffte entschlossen die schleifende, rote Decke und verschwand mit einem „Das will ich tun!“ in der Winternacht.

Das Pralinenmädchen

Zeichnung Petra Elsner
Zeichnung Petra Elsner

Eine Weihnachtsgeschichte:

In der Weihnachtszeit war Johanna immer mit einem Bauchladen voller Köstlichkeiten unterwegs. Abends vor dem prächtigen Theater und später von einer Gastwirtschaft zur nächsten. So wie die Schmuckhändler, die Brezel- oder die Rosenverkäufer hoffte sie auf spendable Kavaliere, die ihrer Herzdame eine Aufmerksamkeit offerierten. Johanna sang im Gehen leise: „Feine Köstlichkeiten mit Knuspereffekt, fruchtig-würzige Aromen in mundfertigen Portionen.“ Sie schwang dazu die Hüften im Rhythmus der Worte und zog so die Blicke auf sich: erheiterte, aber auch gierige und feindselige. Nicht jeder Dame war ihr aufreizender Anblick recht. Aber Johanna ließ sich nicht schrecken und säuselte weiter: „Zart schmelzende Seelenschmeichler, verführerisch wie ein Kuss. Eine Praline für einen Euro. Meine Herren, cremig weiß oder geheimnisvoll dunkel?“ Sie spielte mit den Anzüglichkeiten, um ihre fliegende Ware schnell umzusetzen. Das musste gelingen, sonst fiele Weihnachten für die Geschwisterkinder aus. Johanna wäre nur zu gerne in einer Konfiserie beschäftigt, aber das war ihr nicht gegeben. Wenn schon, sie hatte das „Rezeptbuch für feine Pralinés“ ihrer Großmutter geerbt und deren Talent, daraus ließ sich etwas machen. Sicher war die Stadt um diese Jahreszeit vollgestopft mit Leckereien, aber nichts war so raffiniert wie das verzierte Herzkonfekt, das Johanna durch die Nacht trug.
Sie huschte mit ihrem beleuchteten Bauchladen gerade aus dem Ratskeller und wollte zu dem Caféhaus nebenan, als sie ein alter Mann aufhielt: „Haben Sie auch ein süßes Häppchen für mich?“ Er reichte ihr mit zittriger Hand einen Euro, und die junge Händlerin ließ ihn dafür wählen. Der Weißhaarige griff sich ein tiefschwarzes Herz mit Kaffeestaub, fegte seinen mächtigen Schnauzbart theatralisch beiseite und schob sich die Süßigkeit genüsslich auf die Zunge. Seine zauseligen Brauen begannen zu hüpfen: „Hm, unglaublich, dieser Schmelz und dieses sinnliche Aroma im Abgang! Wer hat dieses Praliné gemacht?“
„Na ich, wer sonst?“, antwortete Johanna.
„Kannst du mir die Rezeptur verraten, du prächtiges Pralinenmädchen?“
„Um nichts in der Welt.“ Johanna wollte weiter, weg von dem merkwürdigen Alten.
„Nein, bleib, ich möchte noch ein anderes probieren.“ Er fingerte in seiner Jackentasche nach einem Geldstück, und als er es hatte, wanderte seine Hand über die leckere Auslage – er konnte sich nicht entscheiden: „Weißt du was, Pralinenmädchen, ich nehme sie alle, samt Tablett.“
Johanna schaute ungläubig, aber der Alte meinte nur: „Na, mach schon.“ Er zählte ihr 50 Euro vor, ergriff die Auslage und eilte schnurstracks davon. Johanna staunte ihm mit offenem Mund eine Weile nach und fragte sich, was war das: ein Produkt-Scout, ein Pralinensüchtiger oder der Weihnachtsmann inkognito?
Am nächsten Abend war das Pralinenmädchen wieder in der Altstadt unterwegs, und abermals begegnete ihr der seltsame Mann: „Hast du heute neue Kreationen dabei?“ Sie nickte und zeigte auf schokolierte Mandeln, die auf Nugat-Rauten thronten. Der Bärtige konnte nicht widerstehen, und als das kleine Kunstwerk auf seiner Zunge zergangen war, brachte er sich in eine offizielle Haltung: „Pralinenmädchen, willst du mir in meiner Weihnachtsbäckerei helfen? Meine Schokoladenköchin ist erkrankt.“
Johanna war irritiert und murmelte: „Du willst mir bloß meine Rezepturen stehlen.“
„Eine könntest du mir überlassen, dafür bekommst du etwas, was dein Leben ändert. Vertrau‘ mir.“
Das war schwer für Johanna, aber einmal Schokoladenköchin zu sein, das reizte sie. Und so ging sie auf das Angebot des Alten ein.
Den ganzen Advent zauberte Johanna die wundervollsten Süßigkeiten, die man sich denken kann. Tausende Stücke, ganz allein, und die Rezeptur des tiefschwarzen Herzens mit Kaffeestaub schenkte sie dem Alten für diese Chance. Am Heiligen Abend zahlte er das Pralinenmädchen großzügig aus und legte eine Rolle in seine Hand: „Erst nachsehen, wenn ich weg bin.“ Johanna nickte und dankte dem Alten und er ihr. Als sie ins Freie trat, hatte sie ihren Schal vergessen. Sie drehte sich um, doch hinter der Tür öffnete sich nur eine staubige Halle, keine Spur von der duftenden Weihnachtsbäckerei. Wie konnte das sein? Sie löste das Siegel der Rolle und las: „Zertifikat für die meisterliche Schokoladenköchin im Dienste des Weihnachtsmanns. Alle Jahre wieder an einem anderen Ort.“
Petra Elsner

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Himmlische Begegnung

Am zeitigen Nachmittag des 24. Dezembers war Norbert mit seinem sperrigen Gitarrenkasten unterwegs. Spät am Abend wollte er mit ein paar Musikerfreunden in seiner Stammkneipe für die Gäste aufspielen, aber bis dahin waren es noch Stunden. Letztes Weihnachten hatte um diese Zeit seine Mutter für ihn gekocht. Er liebte Gans mit Kraut und Klößen und das sah man auch. Norbert war ein runder, gemütlicher Mann Ende vierzig, mit einer schwermütigen Seele, immer schon. Vielleicht gehen deshalb seine Shantys den Menschen so zu Herzen, weil er eben ein echt Trauriger ist. Doch an diesem Nachmittag war Norbert in besonders trüber Stimmung. Seit einigen Wochen lebte seine Mutter im Pflegeheim, und dort hatte er sie gerade besucht. Aber was er sah, gefiel ihm gar nicht. Und weil der angegraute Mann so ratlos war, wie er das Elend abwenden könnte, suchte er sich die nächstbeste Kneipe, um seinen Kummer erst einmal hinunter zu spülen. Schließlich kehrte er in das Lokal namens „Bumerang“ ein. Am Tresen saßen ausschließlich Männer und alle umgab etwas Verwaistes. Norbert stellte seinen Gitarrenkasten ab und bestieg wortlos einen der Barhocker. Den Raum durchwaberte eine schwere Stille bis der Wirt aus seiner Küche hervorsprang und zu Norbert sah. Der bestellte tonlos: „Bier und Whisky.“ Der Wirt zapfte und musterte den neuen Gast. Als er ihm die Getränke vor die Nase schob, fragte er kurz: „Mutter im Pflegeheim, Frau über alle Berge und die Tochter macht auch ihr’s?“ Norbert staunte und nickte. Woraufhin der Wirt meinte: „Nun, denn setz’ Dich mal dort hinten mit an die Tafel. Auch die anderen Männer verließen den Tresen und nahmen jetzt an einem langen, festlich gedeckten Tisch Platz. Kaum saßen sie, da öffnete sich die Tür zur Küche und es wurde aufgetragen: Hühnersuppe mit Eierstich, Klöße und Gänsebraten, Grün- und Rotkohl, Eis mit heißen Himbeeren, Bier, Wein und andere geistige Getränke. Die Männer strahlten und keiner von den Tafelgästen wusste so recht, wie ihm geschah. Als Norbert gegen 22 Uhr seine Stammkneipe zum Musizieren betrat, war er schon satt angetrunken, aber er spielte und sang so herrlich, als hätte ihn das Glück gestreichelt, und in den Spielpausen erzählte er euphorisch: „Ich bin heute Nacht einem Engel begegnet …“