Drei Engelshaare für einen Weihnachtsmuffel

Am Heiligen Abend nahm sich der kleine Schutzengel Jonathan frei. Er spendierte Axels sonderbarem Weihnachtsbaum – einer kahlen Birke – noch drei Engelshaare, dann verdrückte er sich grußlos auf leisen Pantoffelsohlen. Axel bemerkte Jonathans Abwesenheit nicht sogleich, als Weihnachtshasser war er eigensinnig mit dem Pulsieren seiner Feiertagslaune beschäftigt. Eine Stunde vor dem Schutzengel ging Luise. Nicht so lautlos wie Jonathan versteht sich, sondern ausgesprochen demonstrativ. Sie war es, die als x-te Festbaum-Alternative jenen nackten Winterbaum erfand und aufstellte. Die Frau bewaffnete sich mit einer Klebstoffpistole und schmückte das kahle Geäst mit Nüssen und Früchten aus. Während sie die erste weiße Kerze montierte, zischelte Axel giftig: „Total verkitscht. Musst Du denn unbedingt diesen kommerziellen Scheiß mitmachen?“ Luise atmete tief aus und schien dabei irgendwie zu schrumpfen, als wollte sie in Deckung gehen. Dann aber fasste sie sich ein Herz. Schließlich war diese extrem-spartanische Weihnachtsdekoration ihr letzter Versuch, Axels Weihnachtsphobie nicht herauszufordern. Dieses Jahr würde es den obligatorischen Heilig-Abend-Krach nicht geben, denn Luise sehnte sich nach feierlichem Frieden. Ganz gleich, was sie in den vergangenen Jahren zu diesem Fest ausprobierte – immer ging es schief. Selbst wenn sie statt einer Gans schlicht Spagetti mit Tomatensoße auftischte, waren es am Ende die Serviettenmotive – güldene Sterne -, die Axel auf die Palme trieben. Luise huschte in den Flur, schlüpfte in ihren Mantel und rief nur noch: „Pflege du mal schön deine Weihnachtsmeise, ich geh!“ Die Wohnungstür fiel theatralisch ins Schloss, dann war es still. Gruselig still.  Axel wunderte sich zunächst, er hatte doch noch gar nicht richtig losgelegt, weder Weihnachtskugeln zertöppert, noch radikal-feudalistische Debatten losgetreten, er hatte noch nicht bösartig die Weihnachtsgeschenke der Schwiegermutter zurückgewiesen und Luise echt spießbürgerliche Ambitionen vorgeworfen. Aber gut, wenn die Frau unbedingt unter einem Weihnachtsbaum singen will, soll sie doch.

Axel hockte sich vor seinen Computer und dachte, vielleicht könne er ja virtuell mit jemandem herumstänkern. Aber sein Postfach gähnte vor Leere, kein Mensch bedachte Axel noch mit Weihnachtsgrüßen, selbst sein Apotheker hatte ihn aus seiner Adresskartei gestrichen. Kein Wunder, niemand mag auf herzwarme Grüße (selbst wenn es sich dabei um versteckte Eigenwerbung handelt) Antworten wie: „Ich verbitte mir diese schwülstigen Belästigungen, Du Cocacola-Idiot!“ empfangen. Kurzum: Mit Axel spielte an diesem Abend niemand mehr, und just das machte den Mann dann doch nervös. Noch nie war er am Heiligen Abend allein gewesen. Es war ihm nicht wirklich klar, dass er im Grunde diesen Weihnachtshass nur leben konnte, wenn ihm beim Hassen jemand zusah, er sozusagen Publikum für seine schlechte Laune brauchte. Jetzt hatte er keines. Indem er sich dieser Umstände gewahr wurde, fand er Weihnachten allein eigentlich noch schlimmer als den ganzen Budenzauber.

Dem Manne fröstelte, es war eben jener Moment, der ihn spüren ließ, dass selbst Jonathan von seiner Seite gewichen war.  Axel fühlte sich plötzlich mager und schutzlos. Er stand vor Luises im Grunde doch sehr schöner Baumkreation und fand die drei Engelshaare. Ein himmlisches Geschenk, für ihn, den Ungläubigen? Er besah sich die hauchdünnen Fädchen aus purem Gold und wusste, es war so: Er, der Weihnachtshasser Axel, bekam in dieser Heiligen Nacht eine Chance geschenkt. Lange starrte der Mann aus dem Fenster in die dunkle Nacht und überlegte, dann öffnete er die Fensterflügel, warf die Engelshaare in die Finsternis und rief ihnen vom 10. Hochhausstockwerk hinterher: „Ich wünsche mir Luises Rückkehr, einen Festtagsbraten und ein gutes Leben!“ Während er noch ein schwaches Echo seiner eigenen Worte empfing, schloss es an der Haustür …           

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