Morgenstunde (612. Blog-Notat)

Es lohnt nicht die Klausur 2022 fortzusetzen, ich bin einfach zu kaputt von einer heftigen Bronchitis, die mein schwaches Lungensystem herausfordert (PCR-Test ist negativ!). Das sogenannte Langszeitprojekt „Roman“ wird so auf eine Novelle eingedampft, zumal – ich finde, die Handlung ist auserzählt. Die Familiengeschichte „Die Zeit der weißen Wälder“ trägt autobiografische Züge mit frei erfundenen Zugaben. Zum Beispiel sind die Emilia und der Puppenspieler nicht existent. Dieser Text verhandelt die Frage nach den Wurzeln eigener Auf- und Umbrüche, den Umgang mit persönlichen Verlusten und dem kulturellen Erbe in Zeiten des Wandels. Im Blog wird sie nicht weiter vorgestellt. Überraschungen beim Bücherkauf sollten es ja noch geben. Der Rohtext ist seit heute Morgen fertig und geht jetzt in die häusliche Korrektur. Der Liebste macht die Erste. Dann wird sie etwas auf nachfolgende (mal nicht illustrierte) Kurzgeschichten für Erwachsene warten müssen, damit sie irgendwann zwischen zwei Buchdeckel gelangt. Frau sollte sich eben nicht verbiegen, sie ist zu hippelig und schreibt dichte Geschichten. Wenn ich Bücher lese, in denen der Autor die Handlung streckt, indem er detailverliebt die Kulissen beschreibt und damit Seiten schindet – nee, dit nervt mich nur. Mein Kollege Ecki Mieder meint immer, ich sei im Galopp durch meine Geschichten unterwegs. Na gut, isso 😊, das kommt von der Journaille, aus der ich ja stamme. Meine „Erziehungsmaßnahme Roman“ für etwas mehr Langsamkeit in meinem  künstlerischen Treiben ist damit gescheitert… 😊, nicht schlimm, es bremsen ja zuweilen andere Vorkommnisse aus, beispielsweise eine Bronchitis …

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Morgenstunde (545. Blog-Notat)

Die Schmetterlingswiesen sind verblüht und stehen trockengrau, also kommt die Mahd. Gestern Nachmittag schon und heute folgt der Rest unter den Obstbäumen. Ich will die letzten trockenen Stunden dafür nutzen. Der Garten bekommt so augenblicklich wieder Weite, auch schön, aber ehrlich, die Wildblumenwiese war mir lieber, doch alles ist vergänglich…

Für Euch kommt hier eine weitere Leseprobe aus „Die Zeit der weißen Wälder“ (meinem aktuellen Roman-Projekt):

Samstagnachmittag fuhr Emilia nach Reichenbach. Schlapp 20 Kilometer waren es nur von dem Dörfchen bei Niesky. Abends würde sie in ihr Fremdenzimmer zurückkehren. Sie wollte die sichere Distanz bewahren und sich nicht sofort von der Familienvergangenheit vereinnahmen lassen. Aber würde das gehen? In der Parktasche vor dem Ackerbürgermuseum in der Görlitzer Straße stoppte sie. Es war ihr, als lächelte sie das fein sanierte, weinberankte Kleinstadthäuschen an. Sie hatte Glück, denn das Museum öffnete nur am Wochenende. Emilia trödelte ein wenig ratlos durch das rekonstruierte Hausinnere, den schönen Garten und die anliegenden Werkstätten. Was suchte sie hier? In ihrer Erinnerung hing in der Vorgängerin dieser „Guten Stube“ eine kleine Malerei ihres Urgroßvaters, aber nach der Erneuerung zierten jetzt große Fotos die sandgelben Wände. Auf dem großen Tisch in der Raummitte lagen Fotoalben, als hätte soeben ein Familienbesuch dazu geführt, den Nachfahren ein altes Foto von einer Hochzeit oder einem runden Jahrestag zu zeigen. Sie zog sich einen der dunklen Holzstühle zurecht, setzte sich und begann in die schwarzweißen Fotogesichter zu schauen. Während sie blätterte, hatte sie das Gefühl, gleich würde Fredi an den Tisch heranschlurfen und sich mit einer Tasse Eingebrocktem zu ihr setzen. Diesen Schlabberkram aus Malzkaffee, Milch, Zucker und Weißbrotstücken mochte sie so gar nicht und schüttelte sich jetzt angewidert. Ja, diese Stube atmete das Original der kleinen Leute von einst, nur war Fredis Stube viel dunkler und dichter möbliert. Die Enge zwang dazu. Emilia wollte schon gehen, als die Museumsaufsicht mit einem Stapel Broschüren das Ziegelpflaster im Hausflur betrat und den Gast freundlich ansprach: „Die Nachauflage unserer Künstler-Broschüre ist gerade eingetroffen. Möchten Sie mal reinsehen? Allein die Stadt Reichenbach hatte in den 1900er Jahren immerhin 13 Kunstmaler. Deswegen finden Sie auch keine Gemälde mehr in unserem Museum. Alle oder keiner, sonst gibt es nur böses Blut, denn für alle ist eben dieses Haus zu klein. Aber schauen Sie mal, so sahen diese Maler damals ihre Stadt und deren Umgebung.“
Emilia griff nach dem obersten Bändchen und sah, das erste Bild neben den Geleitworten zeigte ihren Urgroßvater an seiner Staffelei. Zwischen Eingangstür und Küchentür hatte er auf lumpigen zwei Quadratmetern gearbeitet. Ein paar Sonntagsstunden. Das Bildwerk darin war vielleicht 1,20 Meter breit. Eine Welt in der Welt und von dort aus, ein Blick in die Weite, die wie in Zeitlupe entstand. Minutiös, Pinselstrich an Pinselstrich glänzende Ölfarbe und ein Dunst aus Malöl und Terpentin zog durch den Raum. Emilias Sinne nahmen die Foto-Pose in sich auf und sie dachte dazu: Wie klein Fredis Welt war und doch holte er für sich und andere verlorene Landschaften zurück in diese Nachkriegsstuben: Das Isermoor, das Kirchlein von Morchenstern, die Wälder Nordböhmens. Später erst erkundete er künstlerisch die neue Heimat, den Rotstein, den Töpferberg, das Hussitentor… Still bei sich. Emilia wusste von ihrer Mutter, dass Fredi sich nie wagte auszustellen. Er fürchtete sich vor der öffentlichen Kritik, vor dem Verriss seiner Heimatmalerei als kleinbürgerlich rückständig. So schuf er nach innengewandt und in diesem Schutzraum durfte er alles.
Emilia verließ mit der Künstler-Broschüre das kleine Museum. Sie steckte das Bändchen in eine leere Papiertüte und dachte: Mutter konnte das auch – auf wenigen Quadratmetern Bilderwelten schaffen. Viele Jahre ohne Atelier. Sie legte einfach ein paar Plastiksäcke auf den Wohnzimmerboden und legte los. Sie war die Einzige dieser Familie, die sich wirklich traute, von ihrer Kunst zu leben. Wahrlich nicht immer gut. Aber gerade das fürchten die Menschen seit der Zeit der Aufklärung. Die Freiheit der Kunst von Glaubenszwängen, aber auch vom Dienstherren-Salär, führte in das Risiko der Verarmung. Heutzutage bauen sich manche gut betuchten Rentner nach einem sicheren Berufsleben  erst einmal ein stattliches Atelier, bevor sie beginnen, ihre erste Leinwand zu bepinseln. Sie nennen sich ein Jahr später „Künstler“ und stellen ihre Anfängerarbeiten in Kaffeehäusern und Zahnarztpraxen zur Schau. Aber ach, Emilia wollte das nicht weiter sinnieren. Sie startete das Auto und fuhr aus der Stadt…

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Morgenstunde (542. Blog-Notat)

Netze durchspannen die Heide. Sie sind traumschön und sie künden unmissverständlich vom Herbst. Es ist meine Jahreszeit. Ich mag das leicht Morbide, die Bilder der Vergänglichkeit, aber auch das Ernten und Winterfestmachen des Quartiers. Noch gibt es Sonnentage, Kaffeezeiten im Freien, Abende unterm Sternenhimmel und ein, zwei Herbstfeste vielleicht. Aber bald schon ziehen wir uns zurück in die Häuser und die Kerzenzeit beginnt. Ich werde mich mit dem Zeilenwerk umgeben und abtauchen in dessen Figurenwelt…

Aus „Zeit der weißen Wälder“, meinem aktuellen Romanprojekt:

… „Verstehe“, sprach der Mann jetzt tonlos. Er ahnte, welchen Prozess die Frau auf sich nahm. Er zog eine kleine Handpuppe aus seinen unergründlichen Jackentaschen und ließ den Kasper sprechen: „Sieh‘ mich an. Hundert Jahre bin ich alt und bin der einzige Kasper meiner Art. Einem Bauch- und Handgefühl entsprungen, geschnitzt von Harry. Fast 50 Jahre habe ich in einer Kiste verschlafen, bis mich der Hans fand. Der Sohn eines Nieskyer Holzhausbauers, studierte Landschaftsarchitektur und schien damit zufrieden. Doch nach dem frühen Tod des Vaters, gleich nach der Wende, fand er beim Entrümpeln die Puppenkiste des Urgroßvaters auf dem Dachboden. Da wars um ihn geschehen. Er kündigte, baute sich dieses ausgeklügelte, minimalistische Häuschen auf Rädern und fuhr einfach los. Die Oberlausitz rauf und runter, als Wanderer, der die Puppen wiedererweckt. Verstehst du worum es hier geht? Seinem inneren Klang zu folgen, aber dazu braucht es Mut.“
Emilia nickte: „Ich weiß, sonst werden mich die Toten nicht loslassen.“
„Genau, aber Geduld ist das wichtigste Gewürz der Heilung,“ sprach der Kasper noch und verschwand wieder in den schillernden Jackentaschen des Puppenspielers….

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Morgenstunde (536. Blog-Notat)

Es ist eine merkwürdige Woche. Der Muskelkater will nicht gehen und die Gedanken sind besorgt, dass uns herbstwärts das Leben weiter verhagelt wird. Die MP-Konferenz von gestern lässt ahnen, dass dieses Durchregieren ein Dauerzustand bleibt. Ein Schlafwagen parkt im Kanzleramt. Was ist nur aus uns geworden? Das Land braucht Energie für einen ungekannten Aufbruch. Der Inhalt des Wortes Ressourcen muss vollkommen neu definiert werden. Es braucht Denkfreude, Erfindergeist, einen mutigen Wandel, Empathie und Achtsamkeit. Die Welt hat Fieber… All das liegt mir dieser Tage auf der Seele…

Ich spendiere hier mal lieber einen weiteren Ausschnitt aus meinem aktuellen Romanprojekt, dem ich den Titel „Die Zeit der weißen Wälder“ gab:

… Am anderen Morgen klopfte der Puppenspieler an ihre Tür. Er lächelte geheimnisvoll. Zu ihrer Überraschung trug er heute eine rot-lila schillernde Jacke mit großen aufgesteppten Taschen und weite weiß-schwarze Streifenhosen. Der Mittfünfziger sah in ihr verwundertes Gesicht, drückte ihr wortlos eine Tüte mit belegten Brötchen in die Hände und schlängelte sich an ihr vorbei. Aus seinen großen Jackentaschen holte er eine Thermoskanne, einen Salzstreuer und zwei schöne Glasbecher. Emilia stand noch wie angewurzelt in der Tür und dachte, was für eine Verwandlung. Erst seine galante Handgeste holte sie an den Tisch. Hans, der Täuscher goss Kaffee ein und streute eine Prise Salz darüber. „Das nimmt das Bittere aus dem Kaffee,“ erklärte er und legte ein Gruppenbild zwischen die Becher.  „Es ist ein Foto von einem Treffen des Arbeiter- Turn- und Sportbundes zu Zeiten der Weimarer Republik. Und sieh mal, hier unten hocken Fredi und Harry, unsere Urgroßväter. Sie waren damals einfache Arbeiter in einer der Reichenbacher Druckglashütten. Die Eltern der jungen Männer verlangten, dass sie nach ihren Wanderjahren ihre Flausen vom Künstlerdasein sausen ließen, um endlich etwas Anständiges zu machen. So denken ja leider die meisten Leute auch heute noch. Die Familien stammten aus Nordböhmen und die jungen Männer waren im 1. Weltkriegs in eine Wiener Munitionsfabrik zum Arbeiten eingezogen worden. Als dort eine der Arbeitsbaracken explodierte, sind sie auf und davon und nach Budapest gelaufen. Es waren Hungerjahre und es hieß, in Budapest gäbe es Weißbrot. Das war ihr Antrieb. Der Fredi lernte unterwegs von einem Wandergesellen die Grundbegriffe der Ölmalerei und mehrere Musikinstrumente spielen. Harry eignete sich das Puppenspiel an, schrieb Stücke und schnitzte seine Figuren. Die beiden waren einfach unglaublich im Zusammenspiel, dass sie in den 20er Jahren in ihre knappe Freizeit verlegten mussten. Stattdessen fertigten sie nun sechs Tage in der Woche Schliffperlen für Kronleuchter. Oder sie schliffen Linsen, Signalgläser, Knöpfe, Fahrradstreuscheiben und technische Gläser.  Über die Glashütte fanden sie zum Turnen. Doch diese sozialdemokratische Sport-Bewegung wurde 1933 nach der Machtübernahme der Nazis verboten. Dieses Foto aber hat die Männer 1945 vor der Kriegsgefangenschaft bewahrt und ihnen vielleicht sogar das Leben gerettet, damals, zu Kriegsende als die Russen über die Neiße kamen. Sie konnten damit beweisen: Sozi, nicht Nazi.“
Emilia schwieg nachdenklich. In Gedanken war sie plötzlich in Fredis Laube am Sportplatz. Ein wackliges Lattenhäuschen auf schwerem, schwarzem Boden. Sie war mit ihrer Mutter für eine Ferienzeit Ende der 70er Jahre dort untergekommen. Es regnete ununterbrochen. Alles in der wackligen Bude war längst klamm, aber in Fredis Glaskiste funkelte das Licht. Es war Bruchglas oder Fehlschliffstücke, mit denen sie spielen durfte. In dieser Kiste lag der Baustoff für ein Traumzauberland. Schillernd und prächtig, ganz anders als das Grau, dass die kleine Stadt unweit des Rotsteins damals überzog. Als gäbe es gegen den Staub der Zeit keine Farbe. Ja, sie kannte den Urgroßvater noch. Er erfand für sie Geschichten von Zwergen und Räubern. Uralt sah er beim Mittagsschlaf auf dem Sofa neben ihr aus, dass es sie manchmal gruselte, er könnte nicht mehr aufwachen. Alt nicht von den Jahren, sondern verbraucht vom Leben. Eines schönen Sommertages ging er mit der Zeitung hinaus aufs Klo im Hof und kam nicht wieder. Vom Schlag getroffen. Damals hat man die Alten noch human sterben lassen, dachte Emilia. Nicht erst nach etlichen Reanimationen, nach denen das Überleben eines Hochbetagten meist kein gutes Leben mehr war. Fredi lebte 84 Jahre lang und wurde von seinem sanften böhmischen Humor getragen. Emilias Mutter hatte seine Staffelei, den Koffer mit den Ölfarben und seine Fantasie geerbt. Die Übergabe glich einer Initialisierung, denn die Mutter wurde zur malenden Geschichtenerzählerin. Als sie starb, nahm Emilia das mütterliche Skizzenbuch an sich und zeichnete darin weiter. Häuser, Stadtquartiere. Sie brauchte etwas Handfestes, etwas Relevantes, dass nicht von Stimmungen anderer abhängig war. Und doch spürte sie diffus das innere Familienband, das sie verweigert hatte. Die künstlerischen Talente der Ahnen – sie sind die Verbindung.

Der Puppenspieler sprach in ihre Gedanken: „Du starrst noch ein Loch in das Foto.“
„Entschuldige.“ Emilia legte das Gruppenbild zurück auf den Tisch und murmelte: „Was ein Erinnerungsbild so alles auslösen kann. Sogar Leben retten. Erstaunlich. Dahinter zerbröselt die Zeit, wird fremd, verfälscht. Die Wahrheit verliert sich auf kurz oder lang im Meinungsnebel.“
„Oh, ich mag Menschen, die nachdenklich Philosophieren.“
„Die meisten nennen es eher kopflastige Schwermut.“ Sie sah auf den verkleideten Mann und zog flüchtig an seinem schillernden Jackenärmel: „Ist das der echte Täuscher oder verkleidet sich der Puppenspieler nur streng?“
„Das wirst du allein herausfinden müssen.“ Er lächelte gespielt, steckte das Foto ein und fragte: „Wonach suchst du hier?“
Sie sah ihn offen an und zögerte doch einen Moment. Dann flüsterte sie fast: „Ich suche nach der Verbindung.“ …

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