Ein Waldmärchen

Im Schattenwald

Im Schattenwald der guten Geister tobte der Holzmann Eichbert, als wollte er Heerscharen von Borkenkäfern eigenhändig verjagen. Das klang wie das Baumkronenschlagen im Sturm. Aber es war vollkommen windstill. Sianca, die weiße Birkenfrau, wagte sich keinen Schritt weiter. Was hatte den Holzmann so zornig gemacht? Ein Landstreicher? Ein Waldfrevler? Unter den leuchtenden Nachtwolken war die Birkenfrau leicht zu entdecken. Für sie war der Schattenwald kein sicheres Versteck. Aber dem Jähzorn des starken Waldgeistes wollte sie nicht begegnen, und so verbarg Sianca sich hinter einer dicken Buche, bis das Zornschlagen im aufziehenden Regen verstummte.
Waldrauch hing in den Baumkronen, als der Tag anbrach. Die Birkenfrau lief zum Fließ. Am Ufer entdeckte sie einen schlafenden Angler. Sie verwandelte sich in ein knorriges Moosweiblein und stupste den jungen Mann an. Der rieb sich noch die Augen, als sie ihn fragte: „Schenkst du mir einen von deinen Fischen?“ Der Angler murrte: „Warum sollte ich?“
„Weil ich alt und arm bin,“ sprach Sianca.
„Was geht mich das an? Ich brauche den Fang selbst und gebe dir keinen Fisch.“ Da verwandelte sich das Moosweiblein zurück in die bezaubernde Birkenfrau, die sich von dem Staunenden abwandte und im Gehen raunte: „Waldgeistern zu begegnen kann Glück bringen, sofern man sie gut behandelt. Du hast diese Chance verspielt.“ Plötzlich sah der geizige Angler, dass sich all seine Fische in Nattern verwandelt hatten. Erschrocken warf er den Kescher ins Fließ und lief hastig davon.
Sianca suchte den Holzmann. Im Schattenwald wisperte es von jedem Ast und jedem Halm. Die Schattenelfen trugen schwarze Kleider, so waren sie nicht zu sehen, aber zu hören. Die Birkenfrau fragte in das Dunkel: „Wisst ihr wo der Holzmann steckt?“
„Auf dem Baum der Bäume hockt er bei seinen Freunden, den schwarzen Störchen“, flüsterte ein Stimmchen zurück. Die Birkenfrau bedankte sich für die leise Antwort und ging langsam zum Baum der Bäume. Unterwegs kam sie an einem verbrannten Waldstück vorbei, und auf einmal wusste sie, weshalb der Holzmann letzte Nacht so wütend war.
Die Anmut der Schwarzstörche hatte Eichbert besänftigt, und als er die Birkenfrau sah, wärmte ihr Anblick sein Herz. „Guten Morgen, du Schöne. Hast du das Elend im Wald gesehen?“ Sianca nickte und fragte ratlos: „Warum nur verderben manche Menschen den Grund, auf dem sie stehen? Der Wald beschützt doch das Leben.“
Eichbert sinnierte betrübt. „Wer weiß, manche sind krank im Kopf, andere wollen sich rächen oder haben nur Langeweile. Wahrscheinlich wissen sie nicht mehr, dass auf manchen alten Bäumen Götter wohnten. Die Ehrfurcht vor ihnen ist hinter den Wolken verschwunden.“
„Mein lieber Holzmann, wir sind aber noch hier und wissen: der Wald mit seinem Blätterrauschen, den Düften und dem Vogelgesang kann alles heilen. Wir werden es weitersagen, bis es viele wissen. Nicht aufgeben, guter Waldgeist!“
Der Holzmann und die Birkenfrau machten einander Mut und verschenkten fortan am Wegesrand jedem achtsamen Besucher die wunderbaren Geheimnisse des Waldes.

 *Waldrauch bezeichnet die Nebelbildung in Wipfel der Bäume nach Niederschlägen.

© Petra Elsner
 

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