12. Klausur-Schnipsel – der Schluss

zu “Die verlorene Geschichte”:
… Sie hatte ihn gebeten, falls er wieder einmal so einen Bedenk-Schnipsel aufstöberte, ihn ihr zu schicken. Es würde ihr helfen, sich zu erinnern. Maja Hügel hatte den Übergang von einem Land zum anderen verdrängt; oder war er nur überlagert von ihrem damals beschädigten Sein? Wahrscheinlich. Sie saß gerade an sehr aufwändigen Kinderbuchillustrationen, als die Mail von Elias aufploppte. Sie las alles in einem Rutsch und musste immerzu schlucken. Bei Hajos Bericht kamen ihr die Tränen. Er erinnerte sie an die wütenden Übergriffe ihres Ex-Mannes. Not verändert, Not zerstört. Als Maja damals zu ihrer Mutter floh, war sie nur noch ein Wrack, abgemagert, fahrig, ängstlich, ohne Stolz. Es hat Zeit gebraucht, sich aus dem Zustand der Apathie zu erheben. Der mütterliche Schutzraum und die feinsinnige Arbeit halfen dabei. Denn jedes gestaltete Blatt, das zu einem schönen Buch verhalf, nährte einen neuen Stolz. Die Mutter bekochte sie und nähte ihr weite gemütliche Patchwork-Kleider. Es war eine Art Langzeit-Reha, nach der der bunte Vogel wieder sang, nur nicht mehr im Duett. Vor ein paar Jahren erkrankte Majas Mutter an Krebs. Er wurde erst im Endstadium diagnostiziert, und so starb sie nach sechs Wochen. Maja pflegte sie und blieb nach dem Tod der Mutter allein. Bis vor ein paar Tagen gab es nie einen Mann in diesem Häuschen. Die gutsituierten Großeltern hatten es für ihre verlassene Tochter bauen lassen, die in ähnliche Bedrängnisse geraten war. Maja wusste noch nicht, ob sie das Weiberexil für etwas Gemeinsames öffnen könnte, aber sie war dabei, es zu überdenken. Besucher kommen und gehen, er könnte bleiben wollen.

Der Mann schlenderte durch seinen Kiez. Er war eine seltene Spezies geworden. Natürlich hatte er den Wegzug der vertrauten Nachbarschaft sehr wohl bemerkt, aber die Arbeit ließ ihn kaum aufblicken. In Zeiten spürbarer Einschnitte, dem Sparzwang bei den klassischen Medien, waren es die Freiberufler, denen man zuerst die Honorare kürzte und Pauschalverträge aussetzte. Elias Kühn war, wie viele seiner Artgenossen, im Älterwerden zu immer mehr Arbeitsleistung genötigt, um sein Leben zu finanzieren. Maja erging es ähnlich. Sie kämpfte schon lange gegen die Konkurrenz der glatten, preisgünstigen und fixschnellen Computer-Grafik. Mit Stift und Pinsel konnte sie den neuen Sehgewohnheiten kaum noch entsprechen. Zwei Hamster im Laufrad. Erst als Elias sich Zeit gönnte, erfühlte er den urbanen Wandel seines Stadtquartiers, und auch, dass ihm dieser Ort nicht mehr so viel bedeutete wie einst, als die Kunstszene, die Punks und all die schrägen Falter hier noch steppten. Er fühlte sich wie ein gealtertes Überbleibsel. Ein Faktotum, das seine Geschichte irgendwo vergessen hatte.  Aber die Suche hatte ihm Maja beschert. Er trug diese stille Freude in sich, und jeder, der es sehen wollte, bemerkte diese Verzauberung. Natürlich war dem Mann klar, dass Maja mit ihrer Vorgeschichte vor schwierigen Entscheidungen stand. Er wollte es ihr etwas leichter machen und sie zugleich überraschen.

Elias Kühn fuhr mit einem Mietwagen in den Norden Brandenburgs. Gegen Mittag betrat er den väterlichen Dreiseitenhof, den seine Stiefmutter mit ihrem neuen Mann weiter bewohnte. Sie wusste sofort, weshalb er kam. Die Frau von Mitte Siebzig trat vor die Tür, überreichte ihm wortlos einen Schlüssel, dann schloss sie die Tür. Manche Brüche heilen nicht. Sie hatten sich im Streit voneinander gelöst und vereinbart, irgendwann würde er Vaters Wohnwagen QEK Junior – sein kleines Erbe – abholen. Er schloss die alte Scheune auf, und sein Gedächtnis schickte ihm sofort beklemmende Spukbilder: Der Vater am Seil. Langsam wandte er sich ab von diesem Totenplatz. In einem dunklen Winkel unter dem Heuboden stand das verhüllte Gefährt. Elias zog die mächtige Plane ab. Der weiße Lack war noch tadellos. Drinnen sah alles aus, wie er es erinnerte: Kochnische, Einbauschänke, Klapptisch, Klappstühle, Doppelliege. Er schob das Mobil schnaufend auf den Hof, schloss die Hänger-Kupplung des Mietwagens an, stieg ein und startete. Jeden Meter Abstand, den er zwischen sich und den Hof brachte, machte ihm das Herz leichter.

Drei Wochen später. Das Wohnmobil parkte im Hinterhof seiner Stadtwohnung. Es war inzwischen in der Werkstatt durchgecheckt worden, und ein Tischlerfreund aus dem „Blauen Licht“ hatte den Innenausbau modernisiert. Elias kaufte neues Bettzeug, schicke Decken, Kissen und Akku-Lampen. Neues Besteck sollte die stumpfen Alulöffel ersetzen. Als er den hölzernen Besteckkasten aus der Lade hob, fand er einen Umschlag. Sein Hellgrün war inzwischen gräulich und roch alt. Er öffnete ihn vorsichtig und fand darin eine karierte Schulheftseite, auf der stand „Verzeih mir“. Elias atmete schwer. Der Vater. „Was, um Himmels Willen, soll ich dir verzeihen?“, brummte der Sohn. Noch ein Geheimnis. Er schüttelte den Kopf. Nicht einen neuen Albtraum bitte. In diesem Moment entschied Elias Kühn, nicht seiner dunklen Ahnung nachzugehen und nach möglichen Stasiakten zu suchen. Genug, fand er. Dieser Teil der Geschichte hat so grell im Licht der Öffentlichkeit gestanden und alles andere überschattet, er durfte sich langsam abnutzen. Jedenfalls die Gefühle dazu. Der Mann kippte den kompletten Kasteninhalt in die schwarze Hof-Tonne und warf die Zettelnachricht in die Blaue. Elias Kühn interessierte die andere Geschichte.

Für das Osterwochenende war er in Eichwalde angekündigt. Der Frühling schüttete seinen Glanz aus und alles drängte zum Licht. Elias kutschierte sein Gespann über die Landstraßen, im Konvoi mit unzähligen anderen, die es Ostern in die Landschaft zog. Tempo 40, es war ihm egal. Er sah das leuchtende Forsythiengelb, das helle Blattgrün der Sträucher, Vogelzüge am Himmel, klappernde Störche auf Dachhorsten. Frühjahrsromantik beschlich den Mann am Steuer. Als Maja ihn begrüßte, sah sie verwundert auf das Gespann vor ihrer Gartentür. Elias legte den Arm um die Frau und fragte erwartungsvoll: „Was hältst du von einer Nacht am Meer?“ In der Dämmerung standen sie an einem wilden Strand. Zeit für wundersame Träume und Lustbarkeiten.

Im Morgengrauen verschwanden sie von diesem illegalen Platz an der Düne. Maja hatte für das Osterfest mit Elias vorgesorgt, und sie wollten nicht die überfüllte Küste bei Tag erleben. Während sie heimfuhren, fragte Maja: „Weißt du, was aus deinen ‚Insulanern‘ geworden ist?“ Er schüttelte den Kopf: „Fast alle weg, irgendwo in der Welt. Sie waren ja damals schon von ihrer Insel abgeschüttelt worden. Jetzt sind sie etwa 50 Jahre alt und stecken in neuen Bündnissen. Ihre Welt von damals gibt es nicht mehr.“ „Bitter?“, fragte Maja nach. „Nein, nicht bitter. Sie sind irgendwo angekommen, denke ich. Ich sammele derweil nur brüchiges Wissen, falls sie mich irgendwann mal danach fragen.  Und du, wie geht es dir jetzt? Maja schweigt ein paar Sekunden lang: „Ich nehme meine Zeit an. Sie gehört mir. Gelegentlich binde ich mich an Projekte, klare übersichtliche Aktionen. Meine Weltsicht wandelt sich so wie sich die Welt wandelt, die lässt sich nicht in ein Parteienkorsett quetschen. Das hatte ich mal in dem alten Land, ist mir nicht gut bekommen. Deswegen bin ich auch von den Forum-Leuten weg, als die politischen Einfluss anstrebten. Aber wir sind stets das, was wir waren. Das können wir nicht abstreifen, wer auch immer das von uns verlangt.  Ein Malerfreund aus der Lausitz malte in den 90er Jahren mit der Herdasche seines für die Kohlebagger leergezogenen Hofes. Das war extrem und so gar nichts fürs Wohnzimmer. Aber er musste seinem Verlustschmerz Gestalt geben. ‚Landsucher‘ nannte er seine abstrakten Aschefiguren. Ich habe für meine Verluste ein ähnliches Bild gefunden: Die Zeitschatten. Verstehst du, was ich meine?“
Elias nickte und legte sich das Wort noch einmal auf die Zunge: „‘Zeitschatten‘, das ist es wohl, was ich suchte, ein Wort, für ‚Die verlorene Geschichte‘. Schenkst du es mir?“ Maja hob die Brauen, als wollte sie das erst einmal gründlich bedenken, dann prustete sie: „Aber ja doch, es passt zu dir.“

                                                                            ENDE

Danksagung

Ich danke meinem Liebsten für die Geduld mit mir, dass ich nun schon zum zweiten Mal eine Winterklausur für ein schwergewichtiges Thema verwandte. Für etwas, das bleibt – vielleicht.
Dankbar bin ich ganz besonders meiner Freundin Ines Wagenbreth, die mein Schreiben ermutigend begleitete und während des Schreibprozesses Korrektur las. Sie hat manchen Gedankenknoten gelöst. Sei umarmt dafür!
Dank gilt auch meinem Künstlerfreund Micha Seidel, der mich aufforderte, meine fünfseitige Kurzgeschichten-Idee auszuweiten und mir als Entschädigung für den erneut durchlebten Erinnerungsschmerz eine Kiste Wein und ein langes Gespräch schenkte… das hat geholfen 😊.
Und auch allen Lesern und Leserinnen des Blogs, die mir während der Klausur Zuspruch spendierten, sei herzlich gedankt.

Mancher wird sich vielleicht fragen, ob es meine Geschichte sei, die hier verhandelt wurde. Nein, die Hauptfiguren sind erfunden, sie sind auch zehn Jahre jünger als ich, aber sie nehmen natürlich mein Zeitenwissen in sich auf. Andere, die in kleinen Szenen auftauchen, sind hier und da reale Menschen, wie beispielsweise die Aufwindleute. Auch die Lisa-Runde erzählt mit veränderten Namen wahres Leben. Aber manches durfte in meiner Novelle noch ein kleines bisschen länger leben, was in Wahrheit gar nicht mehr existiert, wie das „Blaue Licht“. Es war einmal…

Nachtland

Komm leg‘ dich in meinen matten Schatten.
Die Nacht tanzt voller Gespenster
wild und uferlos.
Komm feg‘ deine Furcht aus meinem Nacken
und mach‘ die Leinen los.
Die Zeit nimmt Fahrt auf – gegen Gischt und Sturm.
Der Kurs heißt: Nachtland,
auf dem der Schatten thront.
Komm pflück‘ dir einen Stern aus meinem Himmel,
und steck‘ ihn dir an deinen Hut.
Er leuchtet durch die längste Nacht
und gibt dir wieder Mut.

Spende? Ja, gerne.
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Stimmen zur Novelle und zum handgefertigten Künstler-Heft:

Andre Jahr, 1. März 23: Danke Petra!
Es passt für mich und es sollten noch mehr Menschen lesen. Erinnern, Klarheit bekommen und an die Jüngeren weitergeben, denn sie bekommen kein reales Bild der Zeiten vermittelt. Dazu können aber wir etwas tun. 💕

Barbara Liebrenz, 1. März 23: Sehr, sehr emotional und stimmig.

Ines Wagenbreth, 8. März 23: Meine liebe Petra, ui, da hab ich mich aber gestern gefreut, als ich deine Post öffnete! So eine schöne Ausgabe. So feines Papier! Es machte Freude, darin zu blättern. Sehr edel!

Reinhard Gundelach, 8. März 23: Heute bekam ich Post, eine wunderbare Novelle. Kann das Büchlein nur empfehlen! Wer daran Interesse hat, sollte die Autorin Petra Elsner kontaktieren.

Bianca Tiedt, 18. März 23: Hab’s mit Freude gelesen. Bin auch sehr gut reingekommen (lese ja sonst nicht so oft). Besonders gut hat mir die Geschichte zwischen Elias und Maja gefallen 🥰 hab mir da irgendwie immer dich und Lutz vorgestellt GRINS… Auf jeden Fall sehr spannendes Thema!!! Hab ja von der Zeit nu nicht wirklich was mitbekommen, um so interessanter finde ich es immer, wenn Leute davon berichten, wie sie das so erlebt haben! Also dicken 👍🏻 nach oben!!! Hat mir sehr gut gefallen 😊

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