Morgenstunde (269. Blog-Notat)

Manchen Morgen erwache ich mit einer Schwermut, die irgendwie nicht aus meinem Leben stammt. Ich schaue in den Spiegel und denke, was machst du da in meinen Augen? Wo kommst du her, aus welcher vorgeschichtlichen Zeit hast du dich zu mir verirrt? Es ist nicht meine stille Trauer, die in mich hineinkriecht, wie etwas Unbehaustes, das Obdach sucht. Aber etwas in mir hat wohl auf diesen Anflug gewartet. Tief vergraben, verborgene Zeit, verletztes Leben. Ein Schattentanz der Erinnerungen. In meinen Geschichten „Seltsame Welt“ hab‘ ich letzten Sommer versucht, diesen Erinnerungsfetzen Gestalt zu geben, aber jemand meinte neulich: „Sie umkreisen das Eigentliche nur.“ Echt? Ich meinte mich nah dran zu sein und dachte, manche Schichten der Zeit gelüftet zu haben. Geschichten, die immer aufs Neue, in einer Art poetischem Rondo den Emotionslücken nachspüren. Kreise ziehend, Kreise berührend, atemlos tanzend. Nicht? Das verwundert mich und lässt mich ratlos zurück…

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4 Gedanken zu „Morgenstunde (269. Blog-Notat)“

  1. Ich habe eben die vier Episoden von”Seltsame Welt” gelesen (Es gibt wohl noch mehr dazu?). Es ist eine fein erzählte Geschichte, doch sie bleibt im Märchenhaften. Insofern verstehe ich den Satz „Sie umkreisen das Eigentliche nur.“ Das Eigentliche wäre in diesem Fall: warum stirbt ein Mensch? Ist es der Entschluss seiner Seele, vor langer Zeit schon gefasst, bevor sie sich erneut inkarnierte? Ist Tod eine Folge von Verführung? Kommt der Tod nur mit deinem Einverständnis? Oder ist der Tod etwas, was dich wie von außen trifft, unerwartet, ohne dass du einen Anteil daran hast? Dies ist sicher die verbreitetste Anschauung, die aber die Frage nach dem “Warum?” nicht ausschließt.

    1. Liebe Gerda,
      danke, dass Du Dir Zeit genommen hast. Sehr interessante Gedanken. Zu mir gehört immer das Märchenhafte, ich kann es nicht ablegen, denn es gibt mir die Möglichkeit, das verzaubernde Moment ins Spiel zu bringen. Die vier Abschnitte gehören zu jener Kurzgeschichte, die zugleich meinem handgefertigten „Künstler-Schmöker“ den Titel gab. Es sind insgesamt 17 Kurzgeschichten, die ich hier im Blog öffentlich schrieb. Zu finden unter: Kategorie: Öffentliches Arbeiten an Kurzgeschichten. Weil sich das rückwärts ein bisschen mühselig zu lesen geht. Kommt hier eine weitere Geschichte daraus am Stück:

      Am Ende der Zeit
      Sie sah die Weite nur in der Distanz des nächsten Atemzugs. Nur so war es ihr möglich den ganzen Weg klaglos anzunehmen. Dabei hatte sie gar nicht bemerkt, wie lange sie schon unterwegs war. Als sie diesen klaren Morgen grüßte, war ihre helle Stimme brüchig geworden. Vielleicht hatte sie ja genug erzählt und sollte fortan schweigen. Wer weiß. Jeder Wandel birgt ein Rätsel. Man muss es nicht lösen, aber es vielleicht wenigstens annehmen. Eleonore konnte das nicht. Sie schluckte die Rätsel unverdaut und schleppte sie mit sich wie eine Wanderdüne, bis in diesen Moment hinein, in dem ihr die Stimme versagte und es ihr war, als müsste sie all diese Rätsel aus ihrem Leib kotzen. Die Last leichter machen, um den Weg ihrer aussichtslosen Suche fortsetzen zu können – jetzt eben schweigsam. In jeder Zeit ihres Lebens wälzte Eleonore aufs Neue die zermürbende Frage „Wer bin ich jetzt und darf ich so sein?“. Sie drehte und wendete die Situation, aber sich tatsächlich in sie hineinzufinden, das gelang ihr nicht. Und so bröselten die Begebenheiten und Veränderungen missmutig in ihr herum, bis sie an den imaginären Punkt der Offenbarungen gekommen war: Sie, Eleonore Wundersam fiel gerade aus der Zeit.
      Wie konnte das sein, bis eben wurde sie von den Menschen noch reichlich wahrgenommen. Man besuchte sie und holte sich Überlebensratschläge bei ihr. Doch plötzlich war das allgemeine Interesse erloschen. Die Moderne schaute lieber in den Jungbrunnen nach Visionen. Während sich Eleonore Wundersam umsah, fühlte sie sich wie auf das Abstellgleis des Lebens geschoben. Sie nickte in sich hinein, denn sie hatte es kommen sehen: Alte Frauen sind nicht vorführbar. Immer noch nicht, setzte sie gedanklich nach. Die politisch Korrekten unter den verehrten Lesern werden jetzt sofort empört kontern: „Das stimmt doch gar nicht. Frauen wie Jutta Speidel oder Katharina Thalbach beispielsweise zeigen ihre Lebensfalten in jedes Rampenlicht oder die Kanzlerin…“ Ja, natürlich, das wusste Eleonore auch, ein paar Frauen kämpfen sich durch, aber es sind vergleichsweise wenige. Als die Direktorin einer ländlichen Grundschule neulich am Telefon das Alter der Vortragsreisenden Eleonore Wundersam erfragte und die Zahl 64 vernahm, räusperte sich jene verlegen und meinte dann hart: „Eigentlich hatte ich an eine jüngere Person gedacht.“ Sie legte auf. Hiebe, die die Zeit austeilt. Nicht mehr erwünscht, verstand die Vortragsreisende. Sie grummelte: Natürlich ist das Altersrassismus vom Feinsten. Sie könnte gerichtlich Respekt einfordern, aber was sollte das schon, denn Respekt erwirbt man sich so nicht. Trotzdem ärgerte sich die Frau. Sie dachte an die vielen alten Männergesichter, die auf keinem gesellschaftlichen Parkett fehlten. Männerfalten adeln das Alter, Frauenfalten verstören.
      Offensichtlich hatte Eleonore Wundersam das Ende, der ihr zugebilligten öffentlichen Zeit erreicht. Am Ende der Zeit war sie damit noch nicht. Schließlich hieß sie Wundersam und sie konnte noch vieles werden: eine giftige Drachenschlage, eine launische Diva oder eine weise Seherin. Denn wie lang das Ende dauern würde, bis es wirklich am Ende der Zeit angekommen war, das wusste selbstverständlich auch eine Frau Wundersam nicht.
      Sie posierte vor dem alten Spiegelschrank in die Rolle der Drachenschlange, aber sie hatte nicht wirklich gutes Gift und vernichtendes Feuer zu versprühen. Für eine kapriziöse Diva fehlte ihr nicht nur die glamouröse Garderobe und auch die komische Alte stand ihr nicht so recht. Schließlich goss sie sich einen Schoppen Rotwein ein, setzte sich die Brille auf die Nase und begann sich ihre großen Lebensrätsel anzusehen. Der unverdaute Berg kam ihr mächtig vor, aber diesmal wollte sie wirklich alles bedenken, und sie begann mit der offenen Frage: Warum verlangt schwindende Kraft nach Lebenshunger? Weshalb begehrte das eine das andere? Eleonore Wundersam las sich in die Welt hinter der Frage, wälzte alte Bücher und klickte sich online durch Essays. Lesen hilft durch jede Lebenszeit. Es sind die inneren Bilder, die das Erlesene zu eigenen Gedanken stimulieren. Dabei fand die Frau zu diesem Gleichnis: Wenn der Frühling mit all seinen frischen Farben unsere Sinnlichkeit berührt, ist es der Schnee im kahlen Winter, der alle Konturen schärft. Auf den Verlust der Farben folgt der klare Blick, die reife Erkenntnis. So halten sich Jugend und Alter die Waage und jedes hat deshalb gleichgewichtigen Wert. Eleonore lächelte, während sie das notierte. Sie spürte, wie sie plötzlich gelassener auf die Hiebe der Zeit sah. Ihre Neugier auf all diese Rätsel trieb sie nun an, jeden Morgen am Ende der Zeit aufzustehen, um sich ein neues Rätsel aus dem Berg der Zeiten zu ziehen.

  2. Liebe Petra, diese beschriebene Schwermut kannte ich nicht, denn ich bin ein sehr positiver Mensch, schon immer gewesen, doch eines schlechten Morgens, vor Jahren, hatte ich denselben Moment im Spiegel, welchen du erwähnt hast. Seit dem ist der dunkle Arno ein Teil von mir, mal mehr, mal weniger. Meine Mutter sagte immer zu mir, “Du hast eine russische Seele”, aber diese Dunkelheit ist anders, denn sie kann nicht produktiv sein oder künstlerisch. Sie ist einfach wie Blei in den Knochen und es hilft nur, wenn man Körper und Geist genug Ruhe gibt. 12 oder gar 16 Stunden Tage sind Geschichte, aber ich mache was eben geht, und das muss mir und den anderen eben reichen, so wie bei dir <3

    1. Lieber Arno, danke für Deine offenen Worte. Der dunkle Arno ist mir irgendwie ein Seelenverwandter. Im Grunde war und bin ich auch ein positiver Mensch, aber manche Brüche haben das geändert und so stößt mich manche Bedenkzeit ins Dunkle für ein Weilchen. Ich geh dann in den Garten Unkraut jäten… LG

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