Das Haus der 24 Fenster

Zeichnung: Petra Elsner

Eine Weihnachtsgeschichte

Die alte Stadtvilla blickte das ganze Jahr über grau und unscheinbar auf den Fluss, doch im Dunkel des Dezembers begann sie zu leuchten. Die Villa wurde von der Familie Adventus mit ihren 24 Kindern bewohnt, die allesamt im Dezember geboren waren. So kam es, dass vom 1. bis zum 24. Dezember an jedem Tag ein anderes der Fenster besonders erstrahlte, weil dahinter ein Fest gefeiert wurde. Jedes dieser Winterkinder war besonders begabt und überraschte mit seinem Talent: Jonas spielte Geige, Emma und Frieda sangen mit glockenklaren Stimmen. Paul zupfte die Laute und Anne die Harfe. Der eine konnte gut Rezitieren, die andere gut Zeichnen, der nächste wunderbar Kochen. Zusammen war es, als wären sie auf die Erde gekommen, um den allerschönsten Abend des Jahres auszustatten. Nur Julius, der am 23. seinen Geburtstag feierte, hatte nichts dergleichen aufzuweisen. Er war stets nur der Zuschauer und strich wie ein Schatten durch das Haus der 24 Fenster.
Der Neid auf seine Geschwister wuchs von Jahr zu Jahr. Besonders auf seinen Bruder Noel, der am 24. geboren war. Mit dessen Jahresfest setzte sich der Advent seinen feierlichen Schlusspunkt und es schien so, als würde die ganze Welt mit Noel feiern, während an Julius Ehrentag alle nur in Eile waren. „Jungs, holt Holz und die Bräter aus dem Keller! Und die Mädchen rupfen die Weihnachtsgänse“, rief die Mutter in den Morgen. Julius saß allein am Frühstückstisch, blies seine Geburtstagskerze aus und schob achtlos die Geschenkschachtel beiseite. Sein Herz krampfte vor Zorn, wieder überschatteten die Vorbereitungen für den Heiligen Abend sein Fest. Während er die Stufen zum Kellergewölbe abstieg, kamen ihm schon die Brüder schwer beladen entgegen. Nur Noel hangelte noch am hohen Wandregal nach dem letzten Bräter. Er hatte ihn gerade erwischt und wollte absteigen, da kippte das klapprige Kellermöbel. Der Bräter schepperte vor Julius Füße, während der Bruder ohnmächtig unter dem Regal lag. Julius griff sich kurzerhand das Gefäß, verschloss die Kellertür, löschte das Licht und lief so schnell er konnte in die Küche, wo er ungesehen den Brattopf abstellen konnte. Eine diebische Freude stieg in dem Jungen auf, diesmal würde das Fest der Liebe ausfallen, und niemand würde die Auftritte der Geschwister brauchen. Erst am Abend fiel Noels Abwesenheit auf. Wo er nur stecke? Niemand hatte ihn in den vergangenen Stunden gesehen. Die Eltern durchsuchten Haus und Garten, ohne Erfolg. Noel war inzwischen zu sich gekommen und fror auf dem nackten Steinboden. Warum lag er hier im Dunkeln? Hatte ihn Julius eingeschlossen? Er konnte es kaum glauben, was hatte ihn nur dazu getrieben? Eifersucht? In seinem Kopf hämmerten die Gedanken und der Schmerz vom Sturz.
Draußen schlug die Turmuhr Mitternacht. Noel hatte sich in einen Jutesack gehüllt und versuchte zu schlafen. Plötzlich wippte ein winziger Funken durch das Dunkel. Noel blinzelte und lächelte: „Du bist ein Weihnachtslicht, nicht wahr?“
„Ja, ich bin gekommen, ein Herz zu erwärmen!“
Noel murmelte: „Mir ist zwar kalt, aber mein Herz braucht dich nicht. Ich kenne da ein anderes, dass dich dringend nötig hat.“  Der Funken nickte und flog durch einen Lüftungsschlitz in die Nacht. Julius lag schlaflos in seiner Dachstube. Längst war sein Neid einer mulmigen Unruhe gewichen, denn das Verschwinden Noels hatte nun auch den Abend verdorben. Keiner dachte auch nur daran, mit ihm ein Stündchen zu feiern, alle suchten nur nach dem Bruder. Etwas flackerte an seinem Fenster. Julius rieb sich die Augen und lief langsam auf das Flämmchen zu. Er öffnete das Fenster und die kleine Lichtgestalt schwebte in den Raum. „Oh, wer bist du?“, fragte er staunend.
„Ich bin ein Weihnachtslicht und gekommen, dein Herz zu erwärmen.“
Der Junge nörgelte: „Mein Herz?“
Das Flämmchen nickte: „Du musst verstehen lernen, dass ein Talent nichts ist ohne einen Zuschauer. Darin bist du einzigartig und wirst von all deinen Geschwistern gebraucht.“
„Meinst du wirklich?
„Ja, natürlich!“, antwortete das Weihnachtslicht. „Jeder hat seine Aufgabe im großen Kanon des Lebens, du wirst ein geliebter und viel beachteter Zuschauer sein, wenn du deinen Neid ablegst.“ Julius staunte. „Soll ich dir leuchten?“, fragte das Flämmchen und wippte zur Tür. Der Junge folgte ihm in den Keller. Noel schlief als sein Bruder in sacht weckte: „Bitte verzeih mir, ich war so neidisch auf dich, dass ich dir den Glanz deines Tages nicht mehr gönnte. Das Weihnachtslicht hat mein Herz berührt und meinen Sinn verändert.“  Noel lächelte versöhnlich und mit dem Weihnachtsmorgen begann eine neue Zeit im Haus der 24 Fenster, in dem wirklich jeder ganz besonders war.

© Petra Elsner


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