Himmelsschwingen

Einst schwebte unter dem Himmel über einem winzigen Eiland ein prächtiger Vogel. Der war so schön, dass bei seinem Anblick die Menschen glaubten, er sei ein Gesandter direkt aus dem Paradies. Niemals ruhten seine schillernden Schwingen. Bei Tag nicht und auch nicht bei Nacht. Es war, als würde er zu keiner Zeit den Boden berühren. Kein Sturm drückte das Schwebewesen zu Boden, keine Sonnenglut ermattete es. Und so galt der kreisende Vogel den Insulanern bald als der Wächter des Glücks.

Seit der Ankunft des Vogels schaute vom weißen Strand jenes Eilands ein Sänger sehnsüchtig zum Himmel und sag‘ dem Vogel jeden Tag eine Hymne. Er träumte davon, mit ihm frei durch die Lüfte zu fliegen. Es war des Sängers einzige Vorstellung vom Glück. Doch weil es ihm so unerreichbar schien, wurde er darüber von Tag zu Tag trauriger. Nur wenn der Vogel scheinbar im Wind Prunkfedern verlor, sammelte sie der Sänger auf, steckte sie sich in Haar und Kleider und lächelte dabei einen Moment lang versonnen. Darüber vergingen die Jahre.

Inzwischen trug der Sänger ein Kleid aus brillanten Federn und auf seinem Kopf einen Federfächer. Längst nannten ihn die Inselbewohner „den Paradiesvogel vom Strand“, aber meinten damit, er wäre ein schriller Kauz. Doch wenn der Mann sang, war es den Zuhörern als würden sie auf seiner Melodie aufsteigen in höhere Sphären. Dieses gute Gefühl trugen sie später froh mit sich nach Haus, doch der Sänger blieb traurig und einsam am Strand zurück.

Eines nachts weinte der Mann darüber so herzzerreißend, dass es den Vogel hoch über ihm schauderte. Schließlich schoss er hinab aus den Wolken und hockte sich zu dem jammernden Mann, der seine allerbesten Federn trug. Der Vogel fragte besorgt: „Was klagst du, mein Freund?“ Der Schluchzer hielt inne und staunte. Noch nie hatte er den prächtigen Vogel so nahe gesehen. Er rieb sich die Augen, weil er meinte, es würden sich eben Himmel und Erde berühren. Ein aufwühlendes Gefühl durchströmte den Sänger, der nun dem Vogel gestand: „Ich bin so traurig, weil ich nicht wie du frei ´gen Himmel fliegen kann.“ Der wundersam leuchtende Vogel schüttelte ungehalten sein weises Haupt: „Aber deine Gesänge. Habe ich dir nicht zum Dank für deine himmlischen Hymnen jeden Tag eine meiner Schmuckfedern geschenkt? Sieh zu welch‘ einem prunkvollen Gewand du darüber gekommen bist! Und die Menschen hören es doch auch, dass deine Stimme so schön ist wie Flug des Paradiesvogels selbst. Deine einfältige Trauer hat dir offenbar die Sinne betäubt. Also wisse: In den Himmel führen viele Wege.“
Mit diesen Worten erhob der Vogel sich wieder in die Lüfte, und der Mann am Strand dachte noch lange über die seltsame Begegnung nach.

Anderen Tags lief der Sänger mit wachen Augen landeinwärts und sag dazu seine schönsten Lieder. Da sein Blick nicht wie sonst in den Wolken haftete, sah er plötzlich die Freude, die sein Gesang auslöste. Diese Freude steckte ihn an und inspirierte ihn zu immer neuen Melodien. Bald war der Sänger mit der paradiesischen Stimme weit über das Eiland hinaus bekannt. Und manchmal wuchs aus der Freude der Menschen so ein mächtiger ein Jubel, der den Sänger wahrlich in den Himmel hob. Dorthin gibt es eben viele Wege.

© Petra Elsner, 2007

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