Morgenstunde (596. Blog-Notat)

Die üppige Briefpost zum Weihnachtsfest habe ich inzwischen geschafft. Aber alle kann man/frau auf diese Weise nicht beglücken, die meisten bekommen eine festliche Mail, die aber haben noch Zeit. Die Dunkelheit macht uns zu schaffen, also werfen wir Vitamin D ein und hoffen auf hellere Stimmung und weniger Müdigkeit. Die Roman-Seite ist gestern noch zustande gekommen, wer mag kann sie hier lesen…

Aus meinem Roman-Projekt:
“Die Zeit der weißen Wälder”

…Das war ihr Wunsch. All ihre Toten standen imaginär hinter ihrem Rücken und schupsten sie leise dorthin, wo sie jetzt stand: An einem Wendepunkt. Sie war zurückgegangen, um das Band aufzunehmen. Jetzt wusste sie, wie sie vorwärts gehen würde. Einen Augenblick machte sie das leicht und stark zugleich. Sie stellte die Kunstfotos ins Netz und betrachtete noch einmal prüfend das Ergebnis. Danach schrieb sie entschlossen ihre Kündigung und schickte sie per Mail an Herzog.

Sehr geehrter Herr Herzog,

es hat etwas gedauert, bis die Gewissheit in mir wuchs, dass ich meine Kraft nicht mehr in die Planung von städtischen Großsiedlungen stecken möchte. Diese Behausungen sind seelenlos. Ich werde mich zukünftig künstlerischer Arbeit widmen und kündige hiermit unseren Vertrag. Fristlos, denn ich nehme jetzt all meine unbezahlten Überstunden aus 18 Arbeitsjahren in Anspruch. Sie reichen weit über ein Vierteljahr hinaus.
Mit freundlichen Grüßen
Emilia Bach

Herzog war sauer und schlug mit der flachen Hand auf seine Tischplatte. „Fristlos? Eine Frechheit!“ Er stand auf und lief durch den großen Raum. Runde um Runde um Schreib- und Sitzungstisch. Wie konnte sie nur ihren sicheren Job gegen eine ungewisse Freiberuflichkeit eintauschen? Er fluchte gallig: „Der blanke Leichtsinn! Eine Weiberlaune! Kunst – in diesen Zeiten! Pa, wer braucht denn sowas! Das machen doch sowieso bald nur noch die Computer! Die hat einfach zu lange in ihren Albträumen gesessen!“ Marta Liebig, die Sekretärin öffnete sehr vorsichtig die Tür zum Chefzimmer: „Ist etwas, Herr Herzog? Brauchen Sie irgendetwas?“ „Raus!“ brüllte der Mann.  Die Tür schloss sich noch langsamer als sie sich geöffnet hatte. Herzog holte sich ein Glas Whisky aus der Büro-Bar und ließ sich damit in seinen Lesersessel fallen. Ja, klar, die Bach war eine gewande Zeichnerin, aber glaubte sie denn wirklich davon leben zu können?  Dieser Gedanke besorgte den Mann nicht wirklich. Es war eher der Umstand, dass er nun selbst diese ungeliebte Studie zu Ende führen musste und Vorschläge für eine komplexe Sanierung eines Großwohnblocks des Typs WBS 70 entwickeln musste. Er musste sich sozusagen schnellstens eine Platte machen, denn es gab niemanden im Team, dem er das überhelfen konnte. Und wenn er der Bach mehr Geld anbieten würde? Er griff spontan zum Telefon, wählte; Emilia sah die Nummer auf dem Display und drückte sie schmerzfrei weg.
Er hatte sie verloren.

Frei sein – das fühlte sich merkwürdig an. In diesem Land reden die Leute ja andauernd von Freiheit. Aber die allermeisten waren in ihrem Alltag nicht frei, sondern abhängig von Tausenderlei. Das spürte Emilia jetzt ganz deutlich. Natürlich wird Freiheit den Menschen in Deutschland sogar per Gesetz  zugesichert: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Reisefreiheit… Aber die Lebensverhältnisse sind übergriffig und schränken die wahren Möglichkeiten ein. Durch Einflussnahme und Machtmissbrauch. Emilias Arbeitsverhältnis hatte in den letzten Jahren dazu geführt, dass sie sich nicht mehr spürte. Kein Teil von ihr schien ihr noch zu gehören. Alles ordnete sich diesem hochwertigen Job unter, der auch außerhalb der bezahlten Zeiten verlangte, dass sie bergeweise Fachliteratur las und forschte. Der Kopf war nicht frei. Deshalb war es so unermesslich schwer aus der Bahn auf einen anderen Pfad zu springen. Selbst wenn sie sich irrte, sich fürchtete, vielleicht versagte, sie war aus freien Stücken unterwegs und der Raum, der sich ihr jetzt öffnete, war weit…

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Morgenstunde (594. Blog-Notat)

Es ist gerade noch so dunkel draußen, dass wir schon am Morgen die Kerzen anzünden. Noch weitere 20 Tage, dann ist Wintersonnenwende – also der kürzeste Tag und die längste Nacht. Danach gehts wieder aufwärts, aber augenblicklich stecken wir im tiefsten Dunkel.

Zur Ablenkung gibts hier einen weiteren Ausschnitt aus meinem Roman-Projekt: “Die Zeit der weißen Wälder”

….Emilia zeichnete. Schwarze, fließende Linien auf langen, weißen Gewebebahnen. Meterlange Lianen, die sich zu Worten wanden, ausstrahlten, um abermals zu zerfließen zu Pfaden, Jahresringen, Lebenslinien. Ihr Thema – das Menschenband, die Verstrickungen der Generationen. Plötzlich wusste Emilia, dass es genau dieser Gedanke war, der sie aufgerufen hatte, ihm Gestalt zu geben. Eine innerliche Initialisierung mit Imperativ: Du musst es zulassen und ihm folgen! All diese Linien ergaben atmende Muster, ein rhythmisches Zusammenspiel, wie ein lebender Organismus. Fieberhaft entwickelte die Frau ihren Stil in absoluter Stille. Kein Radio, kein Fernseher, nur sie und dieses schwarze Acryl auf weißen Bahnen, die an der Decke der einen Wand hingen, abwärts schwebten, über den Boden liefen, um gegenüber an der anderen Wand wieder aufzusteigen. Meterlange Gebilde und mittendrin eine Frau auf der Suche nach dem Gespür dieses großen Zusammenhangs. Sie experimentierte mit natürlichen Pflanzenfarben aus Holunder- und Blaubeeren, aus der Gerbsäure der Walnussfrucht und Spinat. Dieses kräftige Farbspektrum verdrängte das schwarze Acryl vom Malgrund. Emilia hatte das Gefühl, ihre Mutter sah ihr über die Schulter und lächelte. Eine leise Zufriedenheit machte sich in der Suchenden breit. Nur nachts lag sie unruhig und stundenlang schlaflos. Ihre Nachtgedanken kreisten um den Puppenspieler.

Sie war genervt. Seit Tagen baute sie an ihrer Website. Ihr Nacken schmerzte und die Augen waren trocken vom zu langen Starren auf den grellen Bildschirm. Emilia ging ins Bad und träufelte sich Tropfen in die Augen. Dabei dachte sie: Du hast dir den schlechtesten Zeitpunkt für deinen kreativen Aufbruch ausgesucht. Corona verschloss auch diesmal die Kulturstätten und es plante inzwischen niemand mehr wirklich eine Ausstellungszeit. Deshalb wollte sich die Frau eine virtuelle Galerie einrichten, einfach, um sich irgendwie zu zeigen. Ausgang offen – ein Versuch für öffentliche Wahrnehmung. Doch es ging ihr einfach zu mühselig voran. Aber heute könnte sie endlich beginnen, ihre schier endlosen Gewebebänder als Rauminstallation ins Netz zu stellen. Dann könnte sie ihr Wohnzimmer wieder „entkleiden“, aufräumen, um neu zu beginnen.
Während sie den Raum optimal ausleuchtete und zu fotografieren begann, befielen sie wieder diese Selbstzweifel. Was ist es wert? Wer braucht das? Sie änderte ihre Perspektive und schoss im Liegen Ansichten vom Aufsteigen und Fallen der Strukturbänder. Würde sie jemand verstehen? Was löst diese Kunst aus? Könnte sie das Denken beeinflussen? Wegführen von dem detailversessenen Aufflackern von Ideen, die sehr bald wieder niedergerissen werden, ausgelöscht und vergessen? Wäre es möglich, das menschliche Sein als Ganzes anzunehmen. Altes nicht zu verwerfen, sondern einfach Neues dazuzufügen? Um wieviel reicher wäre die Welt? Und man/frau müsste nicht allenthalben Vergessenes neu bergen, um es wieder nützlich zu machen. Das Band der Generationen würde so sichtbar sein. Kein dünner Faden, sondern ein dickes Seil…

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Morgenstunde (552. Blog-Notat)

Das ganze Häuschen duftet nach trocknenden Steinpilzen. Zauber oh Zauber für die Fantasie, aber das Märchen von der Raupe Nimmersatt gibt es ja schon… Heute wird Zeit sein für ein paar neue Romanzeilen, denn die Hexe ist abgesprungen – endlich, ich kann wieder länger am Computer sitzen! Abends gibt es ein kleines Spätsommerfest in Krohnhorst, und morgen kommt mein Sohn mit Freundin zum Pilze suchen, da gibt’s Nachschub für die Trockensiebe auf der Fensterbank und den Duft.

Zum Wochenende kommt hier eine weitere Leseprobe aus “Die Zeit der weißen Wälder”, mein aktuelles Roman-Projekt:

… Scheitern macht ungelenk und Marks Spruch „Du trägst den Tod mit dir!“ hatte Emilia emotional schwer verunsichert. Sie gab sich seither ruppiger und fegte zuweilen wie eine Böe durch den Tag. Aber jetzt, hier am Feuer erwärmte sich ihr Herz. Sie hatte jemanden gefunden, der aus ihrer Zeit kam und sich offenbar auch dem neuen Rhythmus entzog. Sie gerade eben erst, aber er schon Jahre. Wie stolz er da saß. Dieser Stolz verriet innere Balance, nicht übermäßiges Ego. Hans, dachte sie, war die freie Variante des Gauklers. Ein Ungebundener, der jetzt nur die Feuerfunken zu zählen schien. Doch da schlich vorsichtig der Kasper aus seiner Jackentasche und räusperte sich. „Mit den Toten zu sprechen ist Gabe Emilia, aber es ist auch Fluch. Denn nur wenige verstehen das. Viele fürchten sich stattdessen vor solchen Menschen. Harry erzählt ihm manchmal, wie er mit dem geerbten Schatz hantieren muss. Wenn Harry zu Hans spricht, zerfließen die Grenzen. Verstehst du das?“
Emilia nickte und sah den Kasper an: „Weißt du, ich glaube, dass alles beseelt ist. Jeder Stein und jedes Blatt. Das Göttliche ist in allem und nichts geht verloren in der Welt, neben der es auch noch andere Welten geben kann. Für die Toten gibt es keine Grenzen, nur für die Lebenden. Aber manchmal ist es anders. Dann lässt das Band der Liebe sie miteinander sprechen, wenn man es zulässt und sich nicht fürchtet.“
„Du bist ein kluges, spätes Mädchen“, hauchte der Kasper. „Die Geheimnisse allen Lebens – wir kennen sie kaum, aber einige berühren wir und sind verwundert.“ …

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