Wunschpost oder das Gewicht der Träume
Spät im Dezember saß der Herr der Träume an seinem Schreibtisch und raufte sich die rosa Haare. Wie konnte das nur geschehen, noch nie waren ihm die Träume ausgegangen. Er schüttelte seine gläserne Traumkugel, aber kein Fantasiefunken entfiel ihrem Flockengestöber. Nur verwelkte und gequälte Worte wie: „Nachhaltigkeit“, „Resilienz“, „Relevanz“. Sie hatten längst all ihrer Magie verloren. Auch in seinem purpurnem Wunderkästchen gähnte nur die ganz große Leere. Der Herr der Träume war entsetzt. Irgendetwas musste geschehen. Er stieg in den Keller, um sich eine Flasche Wunschpunsch zu holen. Die sehr spezielle Substanz goss er in ein Emaile-Töpfchen und wärmte sie auf dem Kaminofen. Etwas später hockte er auf seinem Schaukelstuhl und schlürfte an dem Heißgetränk. Für gewöhnlich stiegen mit den Duftwölkchen auch ein paar Ideen in seinem Kopf auf. Aber, nein, auch dieses Ritual war völlig sinnlos. Vielleicht hatte der Herr der Träume in diesen trostlosen Zeiten zu viel gearbeitet, dass er nun in dieser Leere saß. Missmutig schlurfte er zurück zu seinem Schreibtisch, setzte sich und griff nach der Schachtel mit dem schönen Briefpapier. Dicker Staub lag darauf, denn er hatte eine Ewigkeit keinen Brief mehr verfasst. Aber nun schrieb er etwas ungelenk mit letzter Hoffnung:
„Lieber Weihnachtsmann, ich bin vollkommen ratlos, denn mir sind die Träume ausgegangen. Ohne Träume aber, gibt es keine Zukunft. Es ist seit jeher meine Aufgabe, den Entmutigten Träume zu schenken… Darf ich Dich um Hilfe bitten? Ich brauche ein bisschen neue Fantasie… Hochachtungsvoll, der Herr der Träume.“
Er faltete das Papier, steckte es in ein geblümtes Kuvert, versah es mit einer Briefmarke und sandte es an das Weihnachtspostamt in Himmelpfort. Ja, er wusste, dass dorthin eigentlich nur Kinder ihre Wunschzettelpost schickten dürfen, aber Erwachsene schreiben zuweilen auch Wünsche auf, vielleicht würde er ja erhört.
Am Morgen des Heiligen Abends fand der Herr der Träume ein unscheinbares Päckchen vor seiner Tür. Absender: Weihnachtspostamt Himmelpfort. Der Mann lächelte, öffnete den Karton und fand darin ein kleines Schlafsandsäckchen. Er räusperte sich verlegen und dachte, du meine Güte, doch nicht solche Träume! Aber was war das? Das Päckchen in seiner Hand füllte sich wundersam aufs Neue. Als er hineinsah, entdeckte er eine schillernde Traumkugel, wie man sie in einschlägigen Läden teuer kaufen konnte. Hm, sinnierte der Herr der Träume: Als Briefbeschwerer gut geeignet, aber für Träume zu Visionen, aus denen immer wieder neue Träume wuchern? Er zweifelte. Während er die Kugel auf den Schreibtisch legte, gewann das Päckchen abermals an Schwere. Diesmal enthielt es ein rotes Buch. Auf seinem Einband stand in goldenen Lettern: „Das Gewicht der Träume“. Der Herr der Träume staunte: haben Träume ein Gewicht? Seltsam. Es war kein Buch zur Traumdeutung, nein, es war ein Kompendium, das feinsäuberlich alle geträumten Träume der Menschheit enthielt. Neben jedem Traum zeigte eine kleine Waage an, ob es ein leichter oder ein schwerer Traum war. Der Mann wunderte sich. Gibt es gewichtige Träume? Ja, schon. Solche, die von einem guten Leben für alle Menschen erzählen zum Beispiel. Und wie er darüber nachdachte, erwischte er sich in einem Tagtraum von einer heilen Welt ohne Mangel und Not. Eine super-schöne Vision, wie er fand und urplötzlich blitzen aus dem Herrn der Träume wieder Fantasiegemäuer der schillerndsten Art.
© Petra Elsner
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