Morgenstunde (1082. Blog-Notat)

Es ist der Geburtstag meines Sohnes Jan. Er ist jetzt in den Jahren, in denen Frauen ewig 39 sind. Mit scheint, Menschen, die vom überbordenden Jugendkult gelenkt sind, haben es noch schwerer älter zu werden. Ich war kaum 19 als er geboren wurde. Seither habe ich viele Kilos verloren, aber ich habe meine Entscheidung für das Kind nie bereut.

WAGNIS

Am Haus der Engelmacherin in der Kleinen Auguststraße schlug ihr das Herz bis zum Hals. Würde sie wirklich über diese Schwelle gehen? Sie zögerte. Oft hatte sie Frauen wie fahrige Schatten in dieses schmale Haus schleichen sehen. Jetzt wusste Klara, was jene in diese Zumutung getrieben hatte. Eine falsche Liebe, ein Leichtsinn oder die Furcht vor Armut. Was wäre, wenn sie es behalten würde – diese Handvoll Kind? Sie wusste es nicht, spürte aber, es wäre ein langes, ungewisses Wagnis. Sie grübelte. Nein, es geht nicht um Mut zum Risiko, sondern um – Verantwortung. Was für ein hartes, forderndes Wort! Wollte sie die allein übernehmen, jetzt, wo doch ihr Leben gerade erst begann? Klara Heidenreich lehnte sich in ihrem schwarzen knöchellangen Kapuzenmantel an die Hauswand neben der Haustür und rauchte eine „Alte Juwel“. Es würde ihre letzte Zigarette sein, wenn sie nicht die Stufen zur Engelmacherin hinaufstiege. Trotzig pustete sie Kringel in das Wintergrau und sah danach auf ihre Taschenuhr, die ihr der Großvater letzten Sommer vermacht hatte. Die junge Frau war für ihre Unpünktlichkeit berühmt. Schon sieben Uhr. Ihr Lehrmeister würde ab jetzt auf sie warten, jede weitere Fehlminute würde sein explosives Gemüt anheizen. Na und, dachte Klara, sie wusste mit dem dickleibigen Mann umzugehen, der ein Berlinisch quasselte, das mit „mir“ und „mich“ so seine Probleme hatte. „Sie“ statt „Ihnen“ – Klara grinste, schnippte die Kippe weg und verließ den Ort an der engen Straße.

Erst zwanzig Jahre später kam Klara Heidenreich wieder in die Kleine Auguststraße. Sie machte Fotos von Berlins Mitte, die den Wandel zwischen Schrott und Stein einfingen. Graugepellte brö­ckelnde Fassaden überall, aber das letzte Haus hinten rechts leuchte­te in abenteuerlichem Cobaltblau. Knallbunte Graffiti darauf signali­sierten – hier wohnen alternative Künstler. Wieder schlug Klaras Herz wie wild. Sie war jetzt 39 Jahre alt. Eine späte Schöne. Ihr Sohn jobbte weit weg in der Schweiz. Die Wende in Ostdeutschland hatte in ihrem Leben keinen Stein auf dem anderen gelassen. Nichts hatte mehr Bestand, außer der Liebe zu ihrem erwachsenen Kind. Selbst ihr Fernstudium, das sie erst im Wende-Herbst abgeschlossen hatte, war wenige Monate später wertlos geworden. Arbeit gab es auf lange Zeit nicht. Ein ungewollter Freiraum entstand, der ein neues Wagnis hervorzauberte: Nach all den verpflichtenden Jahren legte die Frau in dieser Zeit die alte Verantwortung ab. Als sie vor das Blaue Haus in der engen Straße trat, ahnte sie, wohin ihr fliegendes Herz sie führen würde. Vom Dunkel ins Licht. Das Blaue Band der Freiheit konnte sie nur selbst fliegen lassen.

Petra Elsner

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