Morgenstunde (1073. Blog-Notat)

Mittsommer. Heute, am 21. Juni ist Sommersonnenwende – der längste Tag und die kürzeste Nacht des Jahres. Das Wetter spielt mit.  Nachmittags steigt im Dorf das diesjährige Sommerfest. Das halbe Jahr von 2025 ist nun schon vorbei. Aber noch wächst das Grün und seine Früchte reifen. Seidenweiche Zeit.

Mittsommer

In einer Mittsommernacht ritt der alte Nix auf seinem Wellenross über den Großen Döllnsee. Er grummelte so dumpf wie die Gewitterfront in seinem Nacken. Seine schönen Töchter waren vom Mittsommernachtsball noch nicht zurückgekehrt, und der Wasserfürst fürchtete das Schlimmste. Würden sie sich in einen Menschenmann verlieben, verlören sie ihre Unsterblichkeit.
Der alte Nix hasste jene helle Nacht, in der sich seine Töchter ihrer Flossen entledigten, um in Mädchengestalt zu tanzen. Wütend peitschte er das Wasser, das sich dabei zu einer mächtigen Welle auftürmte, die zwei entsetzten Fischer mit ihren kleinen Booten ins Schilf schickte. Kopfschüttelnd sahen sie dem alten Zausel nach, der mit wehendem Leinenjäckchen und rotem Krönchen seinem väterlichen Zorn frönte.
Am Döllnfließ tanzten die Nixen mit dem Wind über die sumpfigen Wiesen, die so zart gesprenkelt blühten, als hätte ein Maler Hand angelegt. Ihre weißen Gewänder flatterten wie Segel. Längst klebten ihre Tanzpartner Halt suchend an knorrigen Weiden, als der Nix vor sie hin schwappte und sehr böse dröhnte: „Es mag ja sein, dass der Sonnengott in dieser Nacht seine höchste Macht erreicht hat, aber alles, was aufstrebt, wird auch wieder sinken, und ihr, meine Töchter, seid Kinder des Wasserfürsten und habt nur ihm zu gehorchen.“
Die jungen Nixen aber waren so verzückt von der Fülle der Zeit und den schönen Jünglingen, dass sie nicht gewillt waren, ihrem Vater so gleich zu gehorchen. Nein, einmal nur, wollten sie ein loderndes Sonnenwendfeuer erleben und schweigend sieben Sorten wilder Blumen von sieben verschiedenen Wiesen pflücken, um zu erfahren, wen sie freien werden. Sie kicherten und entschwanden in den Holunderbüschen.
Da schickte ihnen der Nix einen mächtigen Schwall. Das Feuer zischte und das Wasser flutete die Wiesen, in denen nicht nur seine Töchter Blumen suchen. Es sah so aus, als würde der See das Land nehmen wollen. Blitze zuckten, und Wind peitschte die Wellen. Von den Fluten eingeholt, wuchsen den Nixtöchtern augenblicklich wieder Flossen. Fortan hatten die Nixen ländliches Tanzverbot, und damit sie sich daran auch halten, streift der alte Nix seither von Sommerfest zu Sommerfest. Gut verkleidet. Allein am feuchten Saume seiner Robe könnte man ihn erkennen.

©Petra Elsner (aus „Die Gabe der Nebelfee“)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.