Wende-Strudel (5)

März ’91

Schizoid, aber da habe ich doch wirklich noch einen Teich im Hausgarten angelegt, obgleich doch völlig unklar ist: werden wir übers Jahr hier noch wohnen? Sicher ist nur, die Westeigentümer haben kein Interesse und wollen verkaufen. Aber wer im Ossiland hat schon eine halbe Million? Wenige. Und Kredite, ja wenn, dann, um sie in Arbeit zu investieren, denke ich. Ich schaue vom Wohnzimmerfenster aus stolz auf dieses beruhigende und nützliche Suchbild, während hinter mir eine Reportage vom Landessender Brandenburg flimmert. Westhäuser in Kleinmachnow, ihre früheren und jetzigen Bewohner werden befragt. Ein Wessi schnaubt und empört sich, sein In-Bälde-Wieder-Eigentum besichtigend „…die haben ja alles verkommen lassen…“. Da kocht es schon wieder in mir, dünnhäutig geworden, gegen solche Typen. „Alles verkommen lassen!“ Alles? Dieses „Alles“ bohrt. Ja, ich kenne ostdeutsche Städte, habe vieles verfallen sehen. Doch dieses „Alles“ stimmt einfach so dahingeschwätzt nicht und mit den Westhäusern hat es seine eigene Bewandtnis:

Das gelbe Haus. Zeuthen, Bahnstraße 10, anno 1990
Das gelbe Haus. Zeuthen, Bahnstraße 10, anno 1990

Das gelbe Haus

Dieses abgetakelte gelbe Haus an der Bahnlinie ‘gen Osten ist das Haus meines Lebens. Hier lernte ich laufen, zwischen Hühnerdreck und Mülllöchern, welche die Wirtin alljährlich im Garten ausheben ließ, um die Abfuhrkosten zu sparen. Die Schrödersche blieb in meiner Erinnerung eine zänkisch-knauserige und schroffe Person. Hinter dem Küchenfenster parterre lauerte sie unseren Kinderspielen auf. Wenn Mutter abgespannt vom langen Tag gegen 18.00 Uhr in der Veranda nach ihrem Hausschlüsselbund suchte, zog der graue Besen flugs die schwere Holztür auf und überfiel sie mit vorwurfsvollen Worten: „Frau Segert, ihr Kinder haben schon wieder…“ Ria Segert entzog sich höflich, laute Wortgefechte waren nicht ihre Stärke. Im Treppenhaus machte sich der süße Duft von Rias Parfüms breit. Signalhaft – ich komme, ihr Spatzen. Sie gab den Gram von der Treppe nicht an uns weiter. Stolz soll die Schrödersche gewesen sein, dass im Hause, seit es errichtet wurde, nicht mehr renoviert worden sei. Seinerzeit schrieb man das Jahr 1929. Als in den Fünfziger Jahren der Kessel für die Heizungsanlage reparaturbedürftig wurde, ließ sie lieber eiserne Öfen aufstellen. Den Erlös für die gebrauchten Heizkörper goss sie sich im „Haus Zeuthen“, einer rauchigen Bahnhofskneipe, hinter die Binde. ’61 war sie plötzlich weg. Bei den Kindern in Westberlin geblieben, hieß es. 1961 war ich acht Jahre alt. Der Fakt an sich blieb mir nur deshalb im Gedächtnis, weil ich eines Tages von der Schule kommend, vor unserer Gartentür eine mächtige Menschenansammlung vorfand. Niemand wollte mich durchlassen. „Wir stehen auch an!“, zischte es giftig aus der Menge. Irgendwie verwirrte mich das, denn es hatte an dieser Pforte noch nie etwas zu kaufen gegeben. Schließlich musste ich wahrhaftig über den hohen, wackligen Maschendrahtzaun steigen, um aufs Gehöft zu gelangen.

In der unteren Etage versteigerte man die Schröderschen Habseligkeiten. Zum ersten, zum zweiten und zum dritten dröhnte es noch Stunden hoch zu mir in den oberen Stock, wo ich mich zu meinem Wellensittich hingeflüchtet hatte. Meine große Schwester war noch zum Gitarrenunterricht, und mir war’s unheimlich mit den vielen Fremden im Haus.

Fortan, so schien es mir jedenfalls, sah das Haus bessere Zeiten. Die Bewohner mühten sich nach Kräften und entsprechend ihres schmalen Geldbeutels. Instandsetzungskredite für Mieter gab es nicht. In die Schröderschen anderthalb Zimmer mit Küche und Bad zogen zwei junge Leute ein. Ein Mittzwanziger mit seiner kränkelnden jüngeren Schwester. Vorn daneben wohnte noch die einsame Tante Hedi. Unter ihrem Fenster sähte sie jedes Frühjahr dieselbe Sommerblumensorte aus. Hedi’s Schwester und deren Sohn waren längst in den Westen geflohen. Der Junge soll geschmuggelt haben. Aber nichts Genaues drang an mich. Jetzt hatte Hedi wenigstens etwas Platz und brauchte nicht mehr in der acht Quadratmeter großen Küche auf einem mickrigen Kanapee zu schlafen. In der Schule saß sie an warmen Tagen kartoffelschälend vor der Küche und besserte sich so die schmale Rente auf. Still und freundlich. Auf das windschiefe Klo im Garten brauchte Hedi nun nicht mehr bei Wind und Wetter. Die jungen Leute boten ihr und uns die Badmitbenutzung an. Aus dem stinkenden Bretterverschlag machten sie Brennholz.

Nach und nach verschwanden die rostigen Küchenausgüsse, neue Kachelöfen kamen in jedes Zimmer. Die Innenwände sahen überall frische Farben. Zeitungen von Anno 1920 kamen unter der vergilbten Wohnzimmertapete ans Licht. Wer da so alles wofür annoncierte… – spannend. Wir verrenkten uns mit dem Spachtel in der Hand die Köpfe, denn Sahne und Butter gab’s noch auf Marken, und Fleisch zu holen, hieß Schlange stehen; wie für vieles andere auch.

Das verwahrloste Umland des Hauses wurde endlich zum Garten, mit jungen Obstbäumen und Blumen, Steingarten und einem Kräuterbeet, wie man damals halt Gärten anlegte. Den Müll holte jetzt der städtische Abfuhrbetrieb. Was das kostete, berappte die Wohnungsverwaltung von unseren kleinen Mieten. Wir kümmerten uns bei den Instanzen, zäh, hartnäckig und mit spitzer Feder, dass sie wenigstens das Notwendigste reparierten. Was gar nicht so leicht war. Westhäuser durften ja gesetzlich in ihrer baulichen Substanz nicht verbessert werden. Doch es fanden sich Wege, wenigstens den Verfall aufzuhalten. Allgemein möglich, wenn die Mieter nicht allenthalben wechselten. Sturmschäden beispielsweise, dafür gab es spezielle Fonds. So kamen wir nach einem der typischen Januarstürme, bei dem die Ziegel wie Blätter im Wind abhoben, zu einem neuen Dach. Oder, wenn Einsturzgefahren drohten und kleine Kinder im Hause lebten, ließ sich mit unermüdlichen Eingaben an die Wohnungsverwaltung etwas ausrichten. Man musste halt auch einigermaßen penetrant mit seinen Forderungen sein. Das brachte die neue Kellertreppe und eine Abwassergrube, neue Keller- und Küchenfenster. Das Bad fliesten wir selbst. Ernst und Ria bauten sich Gasheizungen ein, wir im Bad Therme und Gamat. Immerhin. Nur der Putz rieselte von Jahr zu Jahr mehr. Natürlich hätten wir auch gern das geändert und manches mehr modernisiert. Doch wer hier ehrlich lebte und kein Altvermögen besaß, dem war das mit seinem Einkommen kaum vergönnt. Obgleich Vater und Mutter vollbeschäftigt arbeiteten, sie als Rundfunkjournalistin, er als Ökonom, reichte ihr Verdienst meist nur über den Monat. Den dünnen Überhang sparten die Eltern für schlicht-nützliche Geschenke zu den Feiertagen und die alljährliche, sehr preiswerte Urlaubsreise im Land. Später erst, als wir zwei Geschwistermädchen aus dem Hause waren, konnten sich Ernst und Ria alle zwei Jahre eine Reise nach Bulgarien, Rumänien oder in die CSSR leisten. Ein Auto fuhren sie nicht. Dafür war das Haus an der Bahn immer reich an Gästen. Besonders sommerwärts, wenn der wilde Wein sein Gemäuer umschlang und die Tante-Hedi-Blumen blühten…

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