Der Grausammler

Eine neue Kurzgeschichte entsteht, hier der 1. Absatz und die Zeichnung von heute:

Er kratzte an der fischen Tünche der Hinterhoffassade. Wo war es nur hin? Es musste doch unter diesem brüllenden Hell zu finden sein – das schöne Grau. Der Grausammler kam aus der grauen Zeit und er hatte alle Grau-Tode gesehen. Nun war er auf dieser schillernden Zeitebene ganz allein. Alle Nuancen seiner unbunten Farbe waren verschwunden. Aber aus ihrem Reiz zwischen Schwarz und Weiß entstand sein Gespür für Schatten. Hubert Gram war ein Schattenphilosoph, den keiner mehr brauchte, weil das, was er erforschte und interpretierte längst verloren war. Aber in dem flüchtigen Grau steckte irgendwo, weit entfernt, eine Würde, um die es ihm beim Forschen ging. Nur er und eine Handvoll anderer Schattendenker betrachteten noch diesen merkwürdigen Abschnitt zwischen Bekannten und Unbekannten in der verbrauchten Zeit. Aber sie wussten nichts voneinander, denn jeder lebte nur in seinem eigenen Schattenreich….

© Petra Elsner
16. August 2019

Scherbenkinder

Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Der Schluss):

…Benjamin fixierte wieder ihre Sommersprossen. „Was ist, sitzt eine nicht richtig?“ fragte sie spitz in seinen Blick. Ein befreiendes Gelächter nahm die Schärfe aus dem Gespräch und der Zwei-Meter-Mann gestand noch prustend: „Weißt du, ich mag solche Schlagabtausche nicht. Sie verhindern, dass man wirklich spricht. Jeder sucht nur nach Argumenten für die eigene Lebensposition und blockiert damit das Bedenken des anderen Standpunkts.“
„Stimmt schon, aber ich ertrage es einfach nicht, wenn einer so angepasst durch die Welt stakst.“
„Nur unauffällig, nicht angepasst. Ich will mich nicht mehr, wie meine Eltern, so oft dafür rechtfertigen, dass ich im falschen Land geboren wurde.“
„Also Sohn der Spree – ein bisschen mehr Courage bitte“, verlangte Sophie streng. „Schließlich wissen wir als Scherbenkinder dafür eine Menge über Brüche, Endzeitstimmung und das den Kopf in den Sand stecken Veränderungen nicht aufhalten kann. Sie kommen wie das nächste Sommergewitter. Viele glauben heute, man muss den Istzustand nur ständig verfeinern, damit das Wohlstandsgefüge erhalten bleibt. Aber Demokratie braucht mutige Ideen, nicht bürokratische Monster. Mit ein bisschen Petersilie auf verstaubten Ansichten, lässt sich kein modernes Staatswesen in die Zukunft führen. Die Zeit wird bleiern und das System bröckelt. Auch das kennen wir. Du musst mutiger werden, nicht nur funktionieren.“
Benjamin rieb sich verlegen die Hände: „Und du musst eine Ausbildung machen, sonst bist du bald weg vom Fenster. Dein Vorsprung schmilzt.“
„Ich weiß“, flüsterte die Sommersprossenfrau. Er hatte ihren wunden Punkt berührt, aber sie fühlte sich nicht angegriffen, im Gegenteil. Das Gespräch schwappte in die nächste Runde. Sie plauderten über das Leben an sich, gegen die einsame, innere Härte. Es wurde Abend. Kurz vor der Dunkelheit stiegen sie die Stufen zur Straße hinauf. Die Oranienburger lärmte immer noch sommerlich laut. Die leicht bekleideten Bordsteinschwalben warteten bummelnd auf Freier. Eine Straßenbahn zog in die Kurve zum Hackeschen Markt als leuchtende Bewegung unter dem Nachthimmel. Die zwei Ungleichen beschlich eine seltsame Melancholie, wie sie nur Scherbenkinder befallen kann.

© Petra Elsner
13.  August 2019

Scherbenkinder

Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Abschnitt 2):

… Benjamin Richter spürte ihren verächtlichen Blick so unangenehm, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Das konnte nicht so weitergehen, er musste diese knisternde Situation zwischen den Schreibtischen entschärfen. Nur wie? Bis zum Abend war ihm nicht wirklich eine Idee gekommen, so griff er nach dem Naheliegendsten und fragte schlicht, als sie schon in der Tür stand: „Lust auf ein Feierabendbier?“
Sophie glaubte sich verhört zu haben: „Bier? Ich dachte du trinkst nur stilles Wasser. Aber gut.“
Benjamin raffte seine paar Sachen, kaum später liefen sie die Oranienburger hinunter. „Wo kommst du eigentlich her“, fragte Sophie. „Aus Hamburg, aber geboren wurde ich gleich um die Ecke in der Charité.“ „Ah, ein echtes Kind der Spree und deine Alten, sind die mit nach Hause gekommen?“
Benjamin schüttelte seinen Kopf und sprach etwas belegt: „Nein, die hatten den Osten restlos satt, sind 1989 über Ungarn mit mir getürmt, waren stinksauer als ein paar Wochen später die Mauer fiel, und haben sich dann nie mehr Richtung Osten umgedreht. Nur geackert, um irgendwie Fuß zu fassen und wohlstandmäßig aufzuholen. War nicht einfach, die stehen immer noch unter Dauerdruck und stottern ihre Kredite ab.“ Sie schwiegen nachdenklich und ließen zu ihren Schritten ihre Augen wandern. Die Reste der verwegenen Zeit Anfang der 90er Jahre waren entlang der Meile nur noch spärlich zu entdecken, längst erstickten Baustellen die Magie des Szenekiezes. Nur in den Quartieren spürte man noch gut den Puls jener Zeit. In dem gemütlichen Kellercafé „Assel“ gegenüber dem Monbijou Park bestellten sie sich ein großes Weizenbier. Sophie fragte, während sie sich zuprosteten: „Und du hast offenbar viel von dem Druck abbekommen, und lebst deshalb so hübsch angepasst?“
„Quatsch, ich will nur meine Chancen nutzen.“
„Nee, mein Lieber, du hast nur echt schiss, irgendeinen lächerlichen Fehler zu machen.“
Benjamin sah Sophie an, als zählte er jede einzelne, der zweihundert Sommersprossen und sie sah, dass ihre Worte ihn aus der Fassung gebracht hatten. Sie hatte keinen Spaß daran und wollte sich schon entschuldigen, denn schließlich ging sie ja seine Lebensart gar nichts an, da antwortete er angesäuert: „Aber dir scheint ja alles Wurst zu sein. Du hältst dich an keine Regeln. hast keine Manieren und bist stur wie ein Panzer.“
„Aber begabt, in allem, was ich tue“, grinste Sophie. „Der Rest ist einfach Wendeschaden, wie bei dir auch, da kommt es eben zu Mutationen. Du bist ein hipper Nordwestdeutscher geworden und ich bin so unangepasst, wie es nur irgend geht. Denn meine Alten sind hiergeblieben, aber geblieben ist ihnen nix, trotz guten Glaubens, Hoffnung und viel Fleiß. Mit mir machen sie das nicht, kannste wissen.“
„Verstehe“, murmelte Benjamin und nippte an seinem Weizen…

© Petra Elsner
12.  August 2019

Scherbenkinder

Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Abschnitt 1):

Er war der Mann, der sich fehlerlos gab, was Sophie von vorneherein suspekt war. Sie trug heute die eine Strähne, die aus ihrem kahlrasierten Haupt fiel, verwegen in einem leuchtenden Blau, was jedem sogleich signalisierte: Bin heute auf Krawall gebürstet – geht mir besser aus dem Weg! Aber der Zwei-Meter-Typ sah sie einfach kompromissbereit zu allem an, dass verdarb ihr sofort die Laune. Diese Spaßbremse, fluchte sie stumm in sich hinein. Und immer dieses makellose Outfit, wie aus einer Illustrierten geschnitten. Nie ein Haar auf der Schulter oder gar eine Schuppe. Jeden Morgen sah Benjamin Richter sie mit diesem aufgeräumten Blick an, als hätte er gerade eine wochenlange Schlafkur hinter sich. Lebte der Typ überhaupt oder funktionierte er nur? Ja, der neue Kollege war ein perfekter System-Optimierer, aber als Mensch fühlte er sich irgendwie nicht echt an. Getarnt, gespielt, wie eine Blaupause von Supermann, aber dafür war er dann doch viel zu ausgeschlafen. Wahrscheinlich war er eher eine heimlich eingeschleuste künstliche Intelligenz. Der Prototyp der Zukunft: Geschmeidig, gehorsam, genügsam, fließbandfleißig und ohne jede Rebellion. Gruslig, dachte Sophie, pustete sich die blaue Strähne aus ihrem Sommersprossengesicht und warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
Sophie war das ganze Gegenteil von diesem gestylten Tarnwesen. Sie lebte den Punk, wie schon ihre Eltern, es war ihr egal was, wer von ihr dachte. Nur wenn ihr jemand ihren Weg verbaute, wurde sie sauer. In diese Technik-Crew war sie ungelernt als Naturtalent eingestiegen. Von der Spielkonsole im Kinderzimmer rutschte sie in den Chaos Computer Club. Auf einem CCC-Kongress entdeckte sie ihr späterer Chef und bot ihr den Job als Computersicherheits-Administrator an, gleich nach der Mittleren Reife. Nicht ungewöhnlich für jene Jahre, als das Computerzeitalter erste Schritte in die Wirtschaft setzte. Inzwischen war die junge Frau mit der wilden Strähne eine Institution in der Hacker-Szene und nun das: Die Firma setzte ihr so einen glatten, studierten Schnösel vor die Latichte…

© Petra Elsner
11.  August 2019

Am Ende der Zeit (3)

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte (Der Schluss):

Sie posierte vor dem alten Spiegelschrank die Rolle der Drachenschlange, aber sie hatte nicht wirklich gutes Gift und vernichtendes Feuer zu versprühen. Für eine kapriziöse Diva fehlte ihr nicht nur die glamouröse Garderobe und auch die komische Alte stand ihr nicht so recht. Schließlich goss sie sich einen Schoppen Rotwein ein, setzte sich die Brille auf die Nase und begann sich ihre großen Lebensrätsel anzusehen. Der unverdaute Berg kam ihr mächtig vor, aber diesmal wollte sie wirklich alles bedenken, und sie begann mit der offenen Frage: Warum verlangt schwindende Kraft nach Lebenshunger? Weshalb begehrte das eine das andere? Eleonore Wundersam las sich in die Welt hinter der Frage, wälzte alte Bücher und klickte sich durch online-Essays. Lesen hilft durch jede Lebenszeit. Es sind die inneren Bilder, die das Erlesene zu eigenen Gedanken stimulieren.  Dabei fand die Frau zu diesem Gleichnis: Wenn der Frühling mit all seinen frischen Farben unsere Sinnlichkeit berührt, ist es der Schnee im kahlen Winter, der alle Konturen schärft. Auf den Verlust der Farben folgt der klare Blick, die reife Erkenntnis. So halten sich Jugend und Alter die Waage und jedes hat deshalb gleichgewichtigen Wert. Eleonore lächelte, während sie das notierte. Sie spürte, wie sie plötzlich gelassener auf die Hiebe der Zeit sah. Ihre Neugier auf all diese Rätsel trieb sie nun an, jeden Morgen am Ende der Zeit aufzustehen, um sich ein neues Rätsel aus dem Berg der Zeiten zu ziehen.

***

 

© Petra Elsner
7. August 2019

Am Ende der Zeit (2)

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte (Abschnitt 2):

… Wie konnte das sein, bis eben wurde sie von den Menschen noch reichlich wahrgenommen. Man besuchte sie und holte sich Überlebensratschläge bei ihr. Doch plötzlich war das allgemeine Interesse erloschen. Die Moderne schaute lieber in den Jungbrunnen nach Visionen. Während sich Eleonore Wundersam umsah, fühlte sie sich wie auf das Abstellgleis des Lebens geschoben. Sie nickte in sich hinein, denn sie hatte es kommen sehen: Alte Frauen sind nicht vorführbar. Immer noch nicht, setzte sie gedanklich nach. Die politisch Korrekten unter den verehrten Lesern werden jetzt sofort empört kontern: „Das stimmt doch gar nicht. Die Jutta Speidel oder Katharina Thalbach beispielsweise zeigen ihre Lebensfalten in jedes Rampenlicht oder die Kanzlerin…“ Ja, natürlich, dass wusste Eleonore auch, ein paar Frauen kämpfen sich durch, aber es sind vergleichsweise wenige. Als die Direktorin einer ländlichen Grundschule neulich am Telefon das Alter der Vortragsreisenden Eleonore Wundersam erfragte und die Zahl 64 vernahm, räusperte sich jene verlegen und meinte dann hart: „Eigentlich hatte ich an eine jüngere Person gedacht.“ Sie legte auf. Hiebe, die die Zeit austeilt. Nicht mehr erwünscht, verstand die Vortragsreisende. Sie grummelte: Natürlich ist das Altersrassismus vom Feinsten. Sie könnte gerichtlich Respekt einfordern, aber was sollte das schon, denn Respekt erwirbt man sich so nicht. Trotzdem ärgerte sich die Frau. Sie dachte an die vielen alten Männergesichter, die auf keinem gesellschaftlichen Parkett fehlten. Männerfalten adeln das Alter, Frauenfalten verstören.
Offensichtlich hatte Eleonore Wundersam das Ende, der ihr zugebilligten öffentlichen Zeit erreicht. Am Ende der Zeit war sie damit noch nicht. Schließlich hieß sie Wundersam und sie konnte noch vieles werden: eine giftige Drachenschlage, eine launische Diva oder eine weise Seherin. Denn wie lang das Ende dauern würde, bis es wirklich am Ende der Zeit angekommen war, dass wusste selbstverständlich auch eine Frau Wundersam nicht …

© Petra Elsner
6. August 2019

Am Ende der Zeit

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte (Abschnitt 1):

Sie sah die Weite nur in der Distanz des nächsten Atemzugs. Nur so war es ihr möglich den ganzen Weg klaglos anzunehmen. Dabei hatte sie gar nicht bemerkt, wie lange sie schon unterwegs war. Als sie diesen klaren Morgen grüßte, war ihre helle Stimme brüchig geworden. Vielleicht hatte sie ja genug erzählt und sollte fortan schweigen. Wer weiß. Jeder Wandel birgt ein Rätsel. Man muss es nicht lösen, aber es vielleicht wenigstens annehmen. Eleonore konnte das nicht. Sie schluckte die Rätsel unverdaut und schleppte sie mit sich wie eine Wanderdüne, bis in diesen Moment hinein, in dem ihr die Stimme versagte und es ihr war, als müsste sie all diese Rätsel aus ihrem Leib kotzen. Die Last leichter machen, um den Weg ihrer aussichtslosen Suche fortsetzen zu können – jetzt eben schweigsam.
In jeder Zeit ihres Lebens wälzte Eleonore die zermürbende Frage „Wer bin ich jetzt und darf ich so sein?“ neu. Sie drehte und wendete die Situation, aber sich tatsächlich in sie hineinzufinden, dass gelang ihr nicht. Und so bröselten die Begebenheiten und Veränderungen missmutig in ihr herum, bis sie an den imaginären Punkt der Offenbarungen gekommen war: Sie, Eleonore Wundersam fiel gerade aus der Zeit…

© Petra Elsner
5. August 2019

Wagnis (2 – der Schluss)

Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte:

… Erst zwanzig Jahre später kam Klara Heidenreich wieder in die Kleine Hamburger. Sie machte Fotos von Berlins Mitte, die den Wandel zwischen Schrott und Stein einfingen. Graugepellte bröckelnde Fassaden überall, aber das letzte Haus hinten rechts leuchtete in abenteuerlichen Cobaltblau. Knallbunten Grafits darauf signalisierten – hier wohnen alternative Künstler. Wieder schlug Klaras Herz wie wild. Sie war jetzt 39 Jahre alt. Eine späte Schöne. Ihr Sohn jobbte weit weg  in der Schweiz. Die Wende in Ostdeutschland hatte keinen Stein auf dem anderen in ihrem Leben hinterlassen. Nichts hatte mehr Bestand, außer der Liebe zu ihrem erwachsenen Kind. Selbst ihr Fernstudium, dass sie erst im Wende-Herbst abgeschlossen hatte, war wenige Monate später wertlos geworden. Arbeit gab es auf lange Zeit nicht. Ein ungewollter Freiraum entstand, der ein neues Wagnis hervorzauberte: Nach all den verpflichtenden Jahren legte die Frau in dieser Zeit die alte Verantwortung ab. Als sie vor das Blaue Haus in der engen Straße trat, ahnte sie, wohin ihr fliegendes Herz sie führen würde. Vom Dunkel ins Licht. Das Blaue Band der Freiheit konnte sie nur selbst fliegen lassen.

© Petra Elsner
31. Juli 2019

Wagnis

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte (Abschnitt 1):

Am Haus der Engelmacherin in der Kleinen Auguststraße schlug ihr das Herz bis zum Hals. Würde sie wirklich über diese Schwelle gehen? Sie zögerte. Oft hatte sie Frauen in dieses schmale Haus wie fahrige Schatten schleichen sehen. Jetzt wusste Klara was jene in diese Anmutung getrieben hatte. Eine falsche Liebe, ein Leichtsinn oder die Furcht vor Armut. Was wäre, wenn sie es behalten würde – diese Handvoll Kind? Sie wusste es nicht, spürte aber, es wäre ein langes ungewisses Wagnis. Sie grübelte. Nein, es geht nicht um Mut zum Risiko, sondern um – Verantwortung. Was für ein hartes, forderndes Wort! Wollte sie die allein übernehmen, jetzt, wo doch ihr Leben gerade erst begann? Klara Heidenreich lehnte sich in ihrem schwarzen, knöchellangen Kapuzenmantel an die Hauswand neben der Haustür und rauchte eine Alte Juwel. Es würde ihre letzte Zigarette sein, wenn sie nicht die Stufen zur Engelmacherin hinaufstiege. Trotzig pustete sie Kringel in das Wintergrau und sah danach auf ihre Taschenuhr, die ihr der Großvater letzten Sommer vermacht hatte. Die junge Frau war für ihre Unpünktlichkeit berühmt. Schon sieben Uhr. Ihr Lehrmeister würde ab jetzt auf sie warten, und jede weitere Fehlminute würde sein explosives Gemüt anheizen. Na und, dachte Klara, sie wusste mit dem dickleibigen Mann umzugehen, der ein Berlinisch quasselte, dass mit „mir“ und „mich“ so seine Probleme hatte. „Sie“ statt „Ihnen“ – Klara grinste, schnippte die Kippe weg und verließ den Ort an der engen Straße…

© Petra Elsner
30. Juli 2019

Versteck unter dem Hut (Abschnitt 5 – der Schluss)

Öffentliches Arbeiten an einer Kurzgeschichte:

… Er sah unruhig auf seine Uhr. Gleich 12 Uhr Mittag. Sein Blick suchte die pulsierende Straßenlandschaft ab, da tippte ihm jemand sacht auf die Schulter. Vor ihm stand die Zauberin mit einer großen Sonnenbrille auf der Nase. „Schlecht geschlafen?“ fragte er vielsagend und zog ihr den Stuhl neben sich zurecht.
„Zu wenig.“ Sie reichte ihm die Hand: „Tina Morgenstein und Sie?“
„Julius Silvester. Ich habe Sie gestern Nacht hier wirklich bewundert, Sie können Handlinien lesen?“
„Nicht nur das, denn von irgendetwas muss man ja diese irren Mieten zahlen können, dafür reicht mein Bürojob schon lange nicht mehr aus.“
„Verstehe. Und was können Sie noch?“
„Och, Feuerspucken, Jonglieren, Tango tanzen, Socken stricken und Geheimnisse hüten.“ Sie grinste, er lachte: „Eine Verschwiegene, dass ist selten.“
„Verschwiegen heißt nicht schweigsam.“ Dass bekam der Mann in den nächsten Stunden zu spüren. Sie erzählte und gestikulierte. Der Abend kam, sie tranken Wein bis sie trunken waren, etliche Tassen Kaffee machte sie wieder nüchtern. Als sie am Morgen den Biergarten verließ, glaubte er ihr ganzes Leben zu kennen. Seines hatte sie erspürt, als er den bunten Hut ablegte. Vorsichtiges Zutrauen lag in dieser Geste. Zu seiner Überraschung hatte sie seine traurige Seele nicht verschreckt. Sie würden sich nach ihrer Ostseetour wiedersehen. Doch Julius Silvester litt von der ersten Minute nach ihrem Abschied an schmerzhafter Sehnsucht. Die Zauberin besetzte sein Herz und seine Gedanken. Zwei Tage später stieg er abends am Alexanderplatz in den Fernbus nach Norden.

Tina Morgenstern hantierte elegant mit ihren Flämmchen auf der Heringsdorfer Promenade und ein Musikerkollege spielte dazu französische Melodien auf dem Akkordeon. Als Julius Silvester in den Halbkreis der Zuschauer trat, fauchte sie einen Feuerbogen in den Nachthimmel. Der Schlusspunkt ihrer Show brachte die Menge zu einem entzückten Raunen. Im prasselnden Beifall zogen sich die beiden Künstler zu einer Parkbank an den Dünen zurück, um zu verschnaufen und etwas Wein zu trinken. Das Meer rauschte. Julius Silvester trat zu den beiden in das Halbdunkel: Darf ich um ihre Hand bitten, verehrte Feuerzauberin?“
Tina Morgenstern lächelte etwas irritiert und reichte ihm zögerlich die Hand, die er leicht drehte und mit einem Feuerzeug beschien: „Sehen Sie hier, diesen Abschnitt ihrer Schicksalslinie, der bis ans Ende aller Tage reicht? Er markiert jenen Tag dieses Sommers, als es Pappelsamen schneite.“ Er hielt seine Hand daneben: „Und nun schauen Sie genau hin, meine Schicksalslinie zeigt von diesem Punkt an exakt den gleichen Verlauf. Sie wissen, was das bedeutet?“ Die Zauberin schmunzelte, ergriff seine Hand und zog den Mann unter dem bunten Hut über das Strandland in das große Rauschen des Blutes und der Wellen.

© Petra Elsner
17. Juli 2019