Erinnerungen

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Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

Klick-klack, klick-klack tippelt es stelzend im Innenhof des HdjT (Haus der jungen Talente) in der Klosterstraße. Eine Frau durchquert zügig den unbedachten Raum, in dem sich ein milder Herbstabend fängt. 4.11.1990. Im großen Saal referieren internationale Mitglieder und Gäste des Europäischen Bürgerforums. Aber ich konnte mich dort nicht erwärmen, taub für den bedeutsamen Redeschwall. Das Gemäuer wirft das Echo meiner Jugend zurück. Es ist lauter. Gesichter tauchen vor mir als Irrlichter auf und verschwinden wieder im wirklichen Menschengewühl. In einem Seitengang lehne ich mich in ein geöffnetes Fenster und rauche. Mir ist schlecht vor Einsamkeit. Was hat mich nur geritten, hier alleine aufzutauchen? Aber am 4.11.89 war ich ja auch alleine unter einer halben Million Menschen. Hans wollte damals wie heute nicht mit. Heute – nun gut, aber vor einem Jahr ließ sich in der Redaktion auch keiner auf Verabredungen ein. Dabei ging es doch auch um uns Journalisten: „Meinungsfreiheit, Pressefreiheit…“.

Der Mann, der in der „Jungen Welt“ am 8.10.89 seinen Kommentar zu den vornächtlichen Ereignissen mit der Frage „Wer seid Ihr?“ überschrieb, schreckte die Kollegen bei einem Verlagsforum am 3.11.89 mit den Worten: „Wer da (am 4.11.) hinginge, stütze die Konterrevolution!“ Eigentlich ging es am 3.11. um Analytisches zu rechtsradikalen Tendenzen im Land. Doch die eingestreute Warnung wirkte auf viele. Auf mich nicht mehr. Ich sah die Dinge schon anders, aber keineswegs klar. Erst unterwegs, in diesem Riesenstrom der unterschiedlichst denkenden Menschen begriff ich, es geht auch um die unkaschierte Meinungsfreiheit eines jeden. Ungeheuerlich. Warum ist mir das nicht schon früher bewusst gewesen? Wie kam ich denn nur darauf, dass es ausschließlich um Presseleute gehen könnte? Und keiner da, mit dem man dieses obskure Erwachen bereden könnte. Beängstigend. In diesen Tagen verklickern sich mir die Ausmaße meiner Denkfehler. Immer noch mehr ahnungsreich als wissend. Und das widerfährt jedem Beteiligten in der ehemaligen DDR auf andere Art und in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Es sind die jungen Leute, mit denen ich, durch meine Arbeit in der Jugendpresse, jetzt am besten reden und denken kann, während meine Verwandten und Bekannten noch in ihren Grübelkisten sitzen. Aber heute? Als „PeP“ (ein Wendemagazin) tot war, ich so den Leuten im Haus der Jugend unter den Linden nicht mehr nützlich schien, wurde ich auch dort zum Fremdkörper, mit dem man nur noch höflich umging. 4.11.90 im HdjT – das ist auch nicht mehr die Szene der Akteure und Zaungäste der gewaltigen Demo des Vorjahres. Die Jungen, 16- bis 18jährigen, erobern sich ihr Haus zurück. Wehmut? Ja. Gespaltenes. Ich habe bekannte Gesichter erwartet. Nicht nur die Crème de la Crème der Wende. Aber nichts da. Stattdessen tänzeln mir verstaubte Lieben im Kopf herum und die Aktionen im damaligen Iskraclub des Hauses. Die Nächte, in denen wir Angela-Davis-Plakate malten und Petitionen für Corvalan verfassten, die ungezählten elitären Politdiskussionen. Bettina Wegners „Eintöpfe“. Diese couragierte Liedermacherin, die selbst hochschwanger in engem, schwarzem Zeugs gegen die vielen Stasiisten im Saal ansang. Und hinter der Foyer-Diskothek Bastians Erzeuger. Man, ist das lange her. 1971/72. Fünfzehn Jahre später stand der Typ vor meiner Tür und wollte erstmals „seinen“ Sohn sehen. Klick-klak tönt es wieder vom Hof verloren durch die Nacht: Was willst du noch hier? Hast dich in der Party geirrt? Geh nach Haus spätes Mädchen…

(Aus meinem “Wendestrudel” – unveröffentichte Notate aus jenen Tagen.)

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