Die Mappe meiner Großmutter lag immer in ihrem beigefarbenen Küchenbüffet über den gläsernen Dosen für Zucker, Salz und Mehl. Das schwarz-grüne Gebinde kam stets auf den Tisch, wenn die leise Frau etwas Nützliches erfuhr oder Rat suchte. Ich mochte es, wenn sie nach dem zerlesenen Zettelungetüm griff. Dann nämlich schien die Zeit alle Eile verloren zu haben. Großmutter setzte ihre merkwürdige Hornbrille auf ihre spitze Nase und schmunzelte, während sie die unzähligen Blätter und Zettelchen zielsicher wendete, um nach einer Rezeptur zu suchen. Offenbar kreisten ihre Erinnerungen um den jeweiligen Spender, so als würde man in einem betagten Fotoalbum nach Freunden und Bekannten schauen.
Inzwischen wohnt Großmutters Mappe auf meinem Küchenbord und nährt sich immer noch weiter. Ich gebe zu – erst als naturbetonte Lebensweise wieder in Mode kam. Der lederne Einband ist noch speckiger geworden, doch ich konnte mich einfach nicht entschließen, der geerbten Mappe ein neues Outfit zu verpassen. Denn wenn ich heute nach dem zerfledderten Teil greife, ist es, als würde die alte Dame für einen stillen Moment neben mir stehen und „Kindchen, alles kein Problem“ murmeln. Und in der allergrößten Hatz des Alltags scheint mich plötzlich Großmutters ruhige Natur zu fluten. Das ist zumindest immer dann von Wert, wenn mich gerade heftige – sagen wir beispielsweise Zahnschmerzen quälen. Sicher könnte man ja einfach noch einen nächtlichen Notdienst aufsuchen, aber – man/frau weiß es – die Hoffnung auf Beruhigung hält einen bleiern am Platze. Erst wenn das dritte oder vierte Aspirin versagt, wird es bedenklich. Jetzt kann vielleicht nur noch Großmutters Mappe eine gewisse Nachtwanderung verhindern. Und da steht:

Zeichnung:
Petra Elsner
Rat eines Bienenzüchters:
Bienenkitt (Propolis): Aufgelöst in Alkohol – antibakterielle Wirkung, also gut gegen Zahnschmerzen, Entzündungen, Wundheilungen, gegen Warzen, Hornhaut u.a.m., stärkt besonders die Abwehrkräfte.
Großmutter hatte immer etwas von diesem zähen Kittharz, mit dem die Bienen u. a. Spalten und Ritzen in ihrem Bau verschließen, im Haus. Heute muss man/frau nicht unbedingt einen Bienenfreund in der Nachbarschaft suchen. Apotheken und Biomärkte bieten in schöner Üppigkeit Propolis-Produkte an. Deren heilsame Wirkungen sind übrigens schon seit dem 1. Jahrhundert vor Christi bekannt.
aus “Die Mappe meiner Großmutter”, limitiertes Künstlerbuch
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