Eine gewaltige Aloe wucherte immer auf Großmutters Südfenster. Eigentlich konnte ich an dem dornigen Gewächs nicht gerade Schönheit entdecken. Doch es wuchs dort, bekam Kinder und Kindeskinder, um in jenem Moment Hilfe zu spenden, wenn sich wieder einmal einer die Finger an Herd oder Bügeleisen verbrannt hatte. Dann wurde eines der fleischigen Blätter abgeschnitten, der Länge nach halbiert und dem Brandfleck aufgelegt. Im Volksglauben gilt die Aloe als das einzig überlebende Gewächs aus dem Paradiesgarten. Der gallertartige Blättersaft kühlt und lindert nicht nur Verbrennungen, sondern auch Wunden. Irgendwann bekamen meine Eltern einen Ableger dieser Sukkulente von Großmutter mitgebracht. Auch diese Pflanze gedieh passabel und so raumgreifend, dass bald die schmale Fensterbank nicht mehr ausreichte. Seither stand sie auf dem Wohnzimmerschrank und wackelte immer sehr bedrohlich samt der kompletten Einrichtung, wenn die Güterzüge ‘gen Osten an unserem Haus am Stadtrand Berlins vorbei ratterten.
Weihnachten/Silvester feierte Großmutter stets bei uns. Sie war der gute Geist der Feiertage. Abwaschberge verschwanden heinzelmanngleich im Morgengrauen. Sie las uns Geschichten zur Nacht und sang Weihnachtslieder, was die gestressten Eltern nicht mehr zuwege brachten.
1979 kam sie nicht mehr. Jenes Weihnachten war ein sehr stilles, und in der Küche herrschte das pure Chaos. Wie macht man eigentlich Omas Kartoffelklöße? Keiner wusste es. Jenes Silvester kam Vater das erste Mal, soweit ich denken kann, betrunken aus dem Büro. Anderentags saß er leichenblass und tonlos auf seinem Sessel vor dem Wohnzimmerschrank. Es passierte gerade wieder ein Zug unser Haus, als es plötzlich schepperte. Die riesige Aloe war durch die Erschütterungen mit der Zeit bis zur Schrankkante gerückt. Eben folgte sie dem Fallgesetz und landete justament auf Vaters Glatze. Der Mann jaulte höllisch. Denn die Pflanze steckte kopfüber mit ihren Dornen auf seinem Schädel und leise rieselte nun nicht der Schnee, sondern die Topferde über das verkaterte Familienoberhaupt. Als „Mutterns Gong“ kommentierte er das neujährliche Ereignis wenig später und kam Silvester nie mehr im desolaten Zustande aus dem Büro.

Zeichnung: Petra Elsner
aus “Die Mappe meiner Großmutter”, hangebundenes, limitiertes Künstlerbuch.
Die Texte entstanden zuvor für eine naturfeulletonistische Zeitungskolumne. Dieses Potpourri aus Erinnerungsgeschichten half mir eine Trauerarbeit zu leisten. Der Titel adaptiert Adalbert Stifters “Die Mappe meines Urgroßvaters” – Frauen haben eben auch Geheimnisse. Und bei mir war es an der Zeit, nach den guten Dingen in meinem Leben zu suchen. Ich fand sie in den Ferienzeiten bei meiner Großmutter in der Oberlausitz …
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