Milchmond (29)

Öffentliche Winterschreibarbeit zu “Milchmond”, der Kriminalgeschichte von Petra Elsner.

… Natürlich hatte die Frau diesen Blick gespürt und nach innen gelächelt. Nach außen blieben ihre Augen verschleiert. Julie wusste, dass sie sich nicht weiter vergraben durfte, um nicht  gänzlich in der Süße der Selbstzerstörung zu versinken. Diese Bittersüße, die dem Tod das Bett bereitet. Ihr Verstand riet ihr zu mehr Gesellschaft, doch ihre Seele hielt Trauer. Es war ihr nicht möglich, diesen Blick zu erwidern, aber er verstand weshalb.
Als man sich am Abend vor dem Acker-Hof voneinander verabschiedete, war es die Frage von Dörte, die eine neue Option austeilte: „Was machst Du Heilig Abend?“
Julie trat von einem Bein auf das anderen und blies sich in die gefalteten Hände. Es war kalt und alle waren rechtschaffend müde. So antwortete sie nur kurz: „Ich gehe zur Single-Weihnacht.“
„Und Du“, fragte Dörte den Berliner?
„Em, keine Ahnung.“
„Na, dann 20 Uhr im Dorfkrug, ich besorg‘ Dir ein Zimmer.“
„Em, ja, wenn das geht?“
„Das geht“, antwortete Dörte forsch, verabschiedete sich und verschwand schnellen Schritts in ihrem Winterhaus.

Jan hatte beizeiten den Kachelofen angeheizt. Der Sohn der Wirtsleute lud schon seit Jahren zur Single-Weihnacht. Dorthin kamen alle, die Lust darauf hatten. Die Jungen, die zu Gast im Elternhaus schnell die Langeweile nervte und die Alleinstehenden jeden Alters. Die Nacht der Nächte bot immer auch eine Chance, eine neue Liebe oder wenigstens eine Affäre für die Feiertage zu finden. Schönere Geschenke gibt es zu Weihnachten nicht. Jan, der auch nur zu den Wochenenden aus Berlin nach Sandberg kam, um seine Eltern zu unterstützen, spendierte dem Dorf diese Weihnachtsidee, als er selbst gerade wieder einmal Single war. Es brauchte dazu nicht viel – einen warmen Ofen und reichlich Getränke.  Die Gäste trugen leckere Häppchen herbei, damit die echten Alleinstehenden etwas Festliches verkosten konnten.
Der Abend begann immer ähnlich wie bei einem Klassentreffen. Erst mal schauen, wie die Exil-Schweizer und die Neu-Süddeutschen das Jahr überstanden hatten. Wie viele Kilos zu- oder abgenommen wurden. Ob ein neues Auto vor dem Elternhaus parkte. Welche Geschenke dieses Jahr die alleinstehenden Mütter bekamen, und ob sie ein weiteres Jahr in der Fremde verlängern werden würden oder dem ewigen Heimweh nachgeben. Die „Jugend“ des Dorfes war inzwischen Mitte 30, kinderlos und gut solvent.
Die Sandberger Eltern hatten nach der Wende beinahe alles richtig gemacht. Sie holzten keine Obstplantagen ab, verkauften kein Land, ließen keine Windräder zu. Fast alle schulten noch einmal um und machten sich selbstständig. Es gibt wohl kein weiteres Deutsches Dorf aus dem so viele Materialprüfer stammen, wie aus Sandberg.  Diese Menschen, die auf Sanddünen siedelten, entwickelten über Generationen einen weiten Blick, der sie immer dorthin führte, wo es ein gutes Auskommen gab. So lebten in Sandberg kaum Arbeitslose und die meisten Dorfkinder hatten eine gute Ausbildung im Reisegepäck. Doch nach langen Wanderjahren sehnten sich inzwischen viele nach der Heimat und einer eigenen Familie. Die Löhne stiegen endlich wegen des bedrohlichen Fachkräftemangels in Brandenburg, darüber galt es sich auszutauschen. Dieses Jahr aber war das Thema Nummer 1 bei Jans Single-Weihnacht: Der Mord unterm Milchmond…

© Petra Elsner
1. März 2018
Hinweis zum Urheberrecht: Der Text darf ohne Angabe des Urhebers nicht weiterverwendet oder kopiert werden. Auch das Zitieren von Textstellen bei Veranstaltungen bedarf meiner Genehmigung.

Alle in dieser Kriminalgeschichte vorkommenden Namen, Personen, Organisationen, Orte sind erfunden oder werden rein fiktiv benutzt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen, Orten oder Personen, lebend oder tot, sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

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