
… Würde sie mit ihm sprechen? Das war nicht gewiss, denn die Ackerköpfe waren durch die Bank stur. Und was sollte er ihr auch sagen? Ich wollte ein anderes Leben? Sie würde ihn für diesen Satz noch mehr hassen, als sie es ohnehin tat.
Er hatte das eine Ferienzimmer des Dorfkruges bekommen und überlegte, ob er noch bleiben sollte oder besser Abreisen. Wenn für den Einen die neuen Zeiten erst Jahre später beginnen, ist es schwer, miteinander in dasselbe Wasser zu springen.
Julie ihrerseits hatte die Nacht nicht schlafen können. Da saß er einfach, der geflüchtete Vater, ohne ein Wort, setzte er sich in diesen traurigen Tag. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm eine Brücke hätte bauen sollen, aber wieso eigentlich sie? Irgendwann glaubte sie, nichts mehr verlieren zu können, aber vielleicht zu gewinnen. Sie schlüpfte in den Mantel und stiefelte zum Krug, wo sie Gerhard beim Frühstücken antraf. Anna brachte ungebeten ein zweites Gedeck und verschwand in der Küche. Gerhard schenkte seiner Tochter Kaffee ein: „Ich will Dir nichts vormachen, Julie, ich wollte damals einfach nur weg. Bin erstickt in dem DDR-Mief, der Enge, dem Grau, dem dauernden Mangel, den Plattitüden und den devoten Verbeugungen. Die Liebe zu Helene war längst vorbei. Da hab ich meinen Abgang geplant, man lebt schließlich nur einmal. Wer konnte schon ahnen, dass man hier keine fünf Jahre später die Mauer zu Fall bringen würde. Und zusehen, wie eure friedliche Revolution in die Hände der Bürokraten geriet, darauf hatte ich auch keine Lust. Ich wusste ja inzwischen, wie der Hase läuft.“
In Julie pulsierte das Blut und schließlich platzte aus ihr: „Aber dass Deine Flucht, Mutters Leben total aus der Bahn werfen würde, das war Dir doch wohl klar – oder? Dass die Stasi sie ausquetschte und für ihr Berufsverbot sorgte. Sie hat sich davon nie mehr erholt.“
Gerhard hielt seine Emotionen unter der lässigen Fassade bedeckt. Er nickte nur. Natürlich wusste er das. Sein Verstand arbeitete wie eine große Suchmaschine, doch er fand nicht die passende Erklärung. Und weil sie nichts weiter fragte, schwiegen sie. Erst als Anna neuen Kaffee brachte, entspann sich ein belangloses Gespräch: Was machst Du, wo lebst Du? Gerhard hatte nach der Scheidung von Helene im Sommer 1989 wieder geheiratet und noch zwei Töchter in die Welt gesetzt, die es ihm offenbar leichter machten, die anderen zwei mit der Zeit zu vergessen. Sofern das überhaupt geht, denn als er im Regensburger Wochenblatt die Traueranzeige las, traf ihn ein Schmerz, der ihm fast den Atem nahm. Deshalb war er hier in Sandberg, auch wenn er wusste, es war einfach für alles zu spät. Sie würden sich nie wiedersehen…
© Petra Elsner
Februar 2018
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