
… Die Ermittler hatten die schlimme Nachricht erst am Abend Julie Acker überbracht. Die OP-Schwester konnte tagsüber telefonisch nicht erreicht werden. Wegen des Sturms war der ganze Operationsplan dicht zusammengerückt. Die Pausen waren kurz und unbestimmt, so entschloss man sich, auf ihre Heimkehr zu warten. Nun hocken sie in der Hofküche. Das Surren des Kühlschranks verstärkte die große Sprachlosigkeit, die nach der Todesnachricht plötzlich unter dieses Dach gezogen war. Die Botschaft war Bestätigung, irgendwie hatte Julie den Verlust seit Tagen gespürt, nur das Wie, konnte und wollte sie nicht erahnen. Alles geriet an diesem Abend aus den Fugen. Die Mutter dement, der Vater verschollen, die Schwester tot. Diese Lebensbrüche schnitten ihr Kerben ins Herz. Wie sollte sie das alles ertragen, den Verlust und die Einsamkeit? Julie konnte die Tränen nicht mehr halten. Die Zeit dehnte sich, irgendwann fragte die erschütterte Frau schluchzend: „Wer hat sie gefunden?“
„Ein Feuerwehrmann, Otto Ehrenburg“, antwortete Franziska Korn.
„Oh, wie bitter, gerade er.“, murmelte Julie.
„Wieso, was ist mit ihm?“
„Wegen Otto hat Laura Sandberg verlassen. Sie hatten ein Techtel, aber Ehrenburg entschied sich, in seiner Ehe zu bleiben. Zuletzt kam Laura nur noch ungern nach Sandberg, aber wir hatten ja gemeinsam unsere Mutter zu pflegen.“ Julies Augen versanken beim Sprechen wieder in Tränen. Die Korn blinzelte ihrem Kollegen zu, was soviel bedeutete: Komm, Rückzug. Sie verließen das Trauerhaus. Für heute war es genug, sie wollten nur noch die Akte zum Holzdiebstahl aus der Nacht vom 24. zum 25. November einsehen. Offenbar gab es zwischen diesem Mord und dem Holzdiebstahl einen Zusammenhang, und man musste nach dem grünen Opel des Opfers suchen. Die Auskunft der Wiese-Zwillinge im Dorfkrug ließ vermuten, dass es der Täter war, der über die Döllner Chaussee mit diesem Auto davon fuhr.
Als die Dorflaternen zur Nacht abgeschaltet waren, schlürften die Schattengestalten wieder zu ihrer Moosbank. Der Kleine raunte: „Endlich haben sie die unterm Laub gefunden. Da wird die Legende vom Milchmond wieder Nahrung bekommen, wir müssen sie ihr erzählen.“ Der große Schatten nickte.
Eine Welle schwerer Gedanken überflutete Julie. Was um Himmels Willen war nur in dieser Nacht auf der Waldstraße geschehen? Wer oder was hatte das Auto zum Stehen gebracht? Und weshalb hatte Laura den Wagen verlassen? An Schlaf war für Julie nicht zu denken. Sie öffnete die Tischschublade und griff nach den Pausenzigaretten ihrer Schwester. Sie nahm sich eine, zündete sie an, zog an ihr und hustete. Vor drei Jahren hatte sie sich das Rauchen abgewöhnt, jetzt aber glaubte sie, die Dinger wieder zu brauchen. Sie trat ins Freie, sog wieder an der Zigarette und lief ein paar Schritte. Als sie aufblickte, sah sie die Nachtschatten winken. Allein die Vorstellung, dass die Beiden auf sie gewartet hatten, wärmte ihr leidendes Herz. Die Frau hockte sich still auf die Bank und die andere, hinter der Gardine, trat kopfschüttelnd zurück in Dunkel. Sie sah nur wie die junge Nachbarin mutterseelenallein auf der Bank saß – was für ein seltsamer Anblick.
Julie hörte indes schweigend den Moosgestalten zu und rauchte. Nun ächzte der große Schatten: „Es ist schon fast vergessen, aber vorzeiten erzählten sich die Frauen in der Schorfheide diese Legende: Wenn es im Winter einen großen Milchmond gibt, holt sich der weiße Wolfsmann eine Braut, begehrt sie eine Nacht lang und versenkt sie Morgengrauen im Reich der Toten. Fortan erscheint sie als weiße Frau immer wenn es wieder einen Milchmond gibt und geistert durch die Nacht.“
„Herrje, müsst ihr mir auch noch Schauergeschichten erzählen“, stöhnte Julie. Sie stand ruckartig auf und verließ die Schatten. Aber natürlich würde sie noch den Wirt vom Krug nach dieser alten Sage fragen – morgen oder übermorgen…
© Petra Elsner
Februar 2018
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