
… Zeitschatten
Der Hochnebel wollte nicht weichen und die Menschen begannen unter dem Dunst, schläfrig zu werden. Nachts kreisten Wildgänse über Wald und Dorf, sie tröteten lange in das endlose Grau als wüssten sie nicht wohin. Vielleicht aber riefen sie nur ihre Nachzügler herbei. Julie kauerte in ihrer Müdigkeit. Sie war gerade von ihrer Spätschicht zurück. Abgespannt und zugleich aufgewühlt. Ihr nachtblasses Gesicht starrte reglos in ihr Spiegelbild im Küchenfenster. All ihre freien Tage waren aufgebraucht, deshalb hatte sie am Morgen die Mutter in ein Templiner Pflegeheim gebracht. Vorläufig, bis sie mit Laura wieder im Reinen war. Es ging einfach nicht anders, dachte sie jetzt noch, aber ihr Gefühl wuchs hinüber in ein schrecklich schlechtes Gewissen. Helene Acker hatte die Tochter mit einem Blick verabschiedet, der sie aus tiefster Verachtung stumm anschrie. Laura hätte dem nie zugestimmt. Die Schwester war Altenpflegerin und kannte sich in den einschlägigen Heimen aus. Es war verabredet, die Mutter zu Hause zu pflegen. Aber Laura blieb mit ihrem Dickschädel auf Tauchstation und Julie wollte ihr nicht hinterherlaufen. Inzwischen waren seit ihrem Streit 14 Tage vergangen. Das war länger als üblich.
Der späte Abend döste der Nacht entgegen. Plötzlich saßen sie da wieder, die Schatten auf der Moosbank. Julie konnte nicht anders, sie musste die Zwei durch das abgekippte Fenster belauschen. Sie erzählten sich wieder, wie es früher war, und was das heute bedeutet. Jetzt knarrte die eine Stimme: „Das die Jungen keine Bücher mehr lesen ist wirklich traurig.“ Und der andere Schatten ächzte: „Ist das ein Wunder nach dem großen Bücherfrevel 1990? All ihre vertrauten Helden landeten auf der Halde. Ganz gleich, ob staatsnahe Schwarten oder große Weltliteratur. Einfach alles flog auf die Kippen. Die Enkel haben den großen Bücheraustausch gesehen, damals als die D-Mark und die Einheit kam. Wer diese Bilder mit sich trägt, hat wohl Mühe, jemals wieder dem gedruckten Wort zu glauben“ „Und jetzt sind sie weg, die Kinder. Na ja, fast alle, irgendwo versprengt in der Welt.“ Der kleine, dicke Schatten wackelte traurig mit dem Kopf und der andere nahm ihn vorsichtig in den Arm. Sie schwiegen und es schien, das Moos der Bank wuchs hinauf über ihre Gestalten. Julie schloss das Fenster. Sie tippte zum xten Male Lauras Nummer, aber die verweigerte sich abermals. Man kann’s auch übertreiben mit der Schmollerei, dachte Julie bei sich. Während sie ihr Nachthemd überstreifte, sah sie sich um, ja, wirklich, sie hatte keine Bücher im Haus, ausgenommen ihre Fachliteratur. Sie öffnete ihr Nachtschränkchen, ganz unten lag ihr Lieblingskinderbuch „Kuno, der fliegende Elefant“. Das allein hatte sie aus ihrem Geburtsland, das sie kaum noch erinnerte, bei sich behalten. Die Schatten hatten Recht, sie glaubte seit langem keinen Bücherworten mehr…
© Petra Elsner
Februar 2018
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