Leseprobe aus der Klausur

Der große Schattenfänger von Petra Elsner
Der große Schattenfänger von Petra Elsner

Toskana im Norden

Der große Schattenfänger hing auf der Leine und trocknete langsam. Die Malerin saß zufrieden im Gras und sah ihm dabei lächelnd zu. Das ist doch mal ein Wurf, dachte sie, ein guter. Der kann sie fangen, die schlechten Träume, alle, wie sie sich knisternd über die Kopfkissenzipfel webten. Er wird sie vertreiben, sie war davon fest überzeugt. Neulich war sie in so einem Traumgespinst im Bademantel über eine Kleinstadtstraße unterwegs, um die öffentliche Badeanstalt aufzusuchen. Und wirklich alle schauten ihr aus ihren blank geputzten Scheiben dabei zu. Nein, diese und weitaus schlimmere Träume wollte sie nicht mehr in diesen klebrigen Sommernächten im Kopf erleben. Sie war jetzt gewappnet.
Die Malerin strich sich die Hände an den Hosenbeinen ihres buntbefleckten, einst weißen Overalls ab und ließ sich ins Gras fallen. Außer dem Summen der Insekten und dem frischen Vogelgezwitscher war es lautlos still. Der Tag war noch unberührt von den Menschen und Rose Bunt genoss es. Diese Stille unter dem Himmelbau, einer Mischung aus Weiß und Helio, war der Tanker, aus dem sich ihre romantische Weltverzauberung speiste. Die Quelle ihrer Inspiration. Nicht die Abbilder der Landschaft, sondern die Traumgespinste daraus suchte die Malerin. Nur deshalb war sie an diesem Ort.
Ein sonderbarer Reiz geht von der dünn besiedelten Landschaft aus, den jeder anders spürt. Die einen finden die Menschenleere anziehend und die einhergehende Ruhe. Andere berührt das landschaftliche Wunder, das die Eiszeit hinterließ – ein spröde Schönheit, prall gefüllt mit Augenfängern. Die Malerin aber sah nicht nur das Land, nein, sie entdeckte in dem einen, besonderen Hügel bei Gerswalde den perfekten Mutterbusen schlechthin und in der nächsten Bodenwelle ein lasziv geschwungenes Becken. Allenthalben Formenschönheit und Energie. Die alten Lindenbäume von Alt Placht verströmen für sie die magische Kraft, zu Zeiten Napoleon pflanzte man sie. Rose saugte das Atmosphärische in sich auf und verwandelte es in Bildgestalten. Und wenn das ihr gelang, wuchs ihre innere Kraft. Ja, sie nährte im kreativen Akt ihre spirituelle Frucht, die neue Ideen reifen ließ. Ein Gänsehautgefühl.
Im benachbarten Garten erwachte die Gesellschaft, die gestern eingetroffen war, um heute mit einem Charterbus in die Toskana aufzubrechen. Die Wohlstandsmaler reisen wieder, dachte Rose, raffte sich auf und verdrückte sich ins Haus. Sie wollte nicht übern Zaun Pseudokunstgespräche führen und schon gar nicht mit der Reiseleiterin Frau Koch. Eigentlich mochte Rose ihre Sommernachbarin, doch zugleich lauerte da in ihr eine tiefe Verachtung. Frau Koch hatte vor einigen Jahren einen Fernkurs im Aquarellzeichnen belegt. So einen, der auf den Rückseiten von TV-Magazinen nach Schülern rief. Mit dem Studienmaterial aus dem Fernunterricht begann Frau Nachbarin ein Jahr später selbst Kurse anzubieten. Darin sammeln sich nun alle jene, die aufs Land zogen, sich ein Atelier vom Feinsten errichten ließen und erst dann ihre erste Leinwand strapazierten. Und weil das nicht auf Anhieb klappte, belegten die solventen Seniorinnen bei Frau Koch einen Kurs. Manche Teilnehmerin stellte ein Jahr später mit den ersten 20 Bildern in einer Hobbygalerie aus und erklärte in ihrer sogenannten Vita: „Sie hat Kurse bei verschiedenen Künstlern besucht und sich selbst Wissen erarbeitet, jetzt gibt sie Kurse in …“ So wuchs unablässig der Bandwurm von Freizeitmalerinnen, es lohnte sich für Frau Koch nach den Aquarellkursen zum Sommerbeginn die Tour „Malen und Reisen“ anzubieten.
Rose zog wirsch die klemmende Haustür ins Schloss und zischelte: „Mache einen Kurs und sei fortan Künstler, ich krieg ´nen Hals.“

Es klingelte. Ihre Mimik drohte im Angesicht einer hellwachen Frauengruppe zu entgleisen.
„Wir haben das große Bild auf Ihrer Leine entdeckt, dürfen wir es näher ansehen?“, zirpte eine der Frauen.
„Nein, dürfen Sie nicht!“ Rose wollte die Tür schon wieder schließen, als eine herrschte: „Nun stellen Sie sich mal nicht so Etepetete an, wir kicken Ihnen schon nischt ab!“
„Ach, dass glauben Sie doch nicht wirklich. Ich hab unter den Kursteilnehmerinnen von Frau Koch noch nie eine Erfinderin gesehen“, teilte Rose aus, in der Hoffnung, dass sich die Malweiber verdrücken würden. Aber im Gegenteil, sie rückten einen Schritt näher an die Schwelle, über die sie Rose nicht lassen wollte.
„Wie meinen Sie denn dit?“, fragte die hochgewachsene Berlinsche, „ick will Malen lernen, nicht Erfinden.“
„Ja, eben, Sie sind Abmaler und deshalb ist mein großer Schattenfänger auch nicht sicher vor Ihnen!“
„Großer Schattenfänger, aha, so heißt die Figur. Seltsamer Name, was hat Sie dazu getrieben?“, fragte eine und Rose holte tief Luft. Eigentlich wollte sie gerade weiter wettern, doch dann sah sie in den Augen der Fragenden etwas, dass sie berührte: Entdeckerlust und die entwaffnete Rose sofort.
Sie musterte die kleine, zähe Person, die so gar nicht zu dem Rest der Gruppe passen wollte. Während sich die anderen nörgelnd zurückzogen, stand sie wie angewurzelt und reichte schließlich Rose die Hand: „Ich bin Karo, ich gehöre nicht zu der Gruppe, hab nur zwei von denen hierher gefahren. Mit dem Taxi von Berlin. Bitte, zeig mir Dein Bild.“
Die Malerin nickte wortlos, dann liefen die Zwei langsam durch die Kleewiese dorthin, wo der große Schattenfänger trocknete.
„Kann er etwas Bestimmtes“, fragte Karo.
„Ich weiß nicht, aber ich hätte es gerne“, antwortete Rose ruhig. „Ich hab ihm gesagt, dass er die Schatten der Angst von den Menschen nehmen soll, und ihn dafür mit allen guten Zeichen, die ich kenne, ausgestattet.
„Ah, ich sehe, aber viele hast Du fast wieder übermalt. Warum?“
„Weil ich sie ja nur ihm verliehen habe, sie sollen für andere nur eine Ahnung sein“, flüsterte Rose jetzt. Sie sah die Malweiber am grünen Zaun, sie lauschten. Im Grunde war die bunte Hecke zwischen den Grundstücken blickdicht, nur an dieser einen Stelle blitzten die fremden Blicke, die Rose nicht mochte. Sie wollte auf ihrem Hektar Land unbeobachtet sein.
Die Taxifahrerin schwieg lange das mannsgroße Bild an und sprach dann brüchig: „Vielleicht hilft er mir ja und verscheucht meine Schatten.“
Rose sah erschrocken auf: „Bist Du krank?“
Karos Blick verriet tonlos: Ja. Aber dann fragte sie unverhohlen: „Darf ich wieder kommen, mit meinen zwei Söhnen? Morgen Mittag vielleicht? Ich möchte ihnen den großen Schattenfänger zeigen.“
Rose staunte und konnte nicht anders als einfach „Aber gerne doch.“, zu sagen.

Frau Koch und die Malweiber waren grußlos abgereist, als anderntags das Taxi wieder auf dem Sandweg vor Roses Hof stoppte und Staub aufwirbelte.
„Was ist die Toskana?“
„Eine Landschaft im Süden.“
„Aber hier ist doch Norden?“
„Ja, hier ist die Toskana des Nordens.“
„Warum?“ Moritz wollte immer alles sehr genau wissen.
„Das Hügelland, die hohen Pappeln, die vielen Seen, die geduckten Dörfer und das schöne Licht, dass alles ähnelt der südlichen Toskana – sagt man“, erklärte Karo geduldig dem Knirps.
Oskar, sein größerer Bruder hingegen, folgte sichtbar genervt und nur lustlos ihren Schritten zu Roses Anwesen. Was sollte er hier in der Pampa? Heile Familie spielen? Die Schatten auf Mutters neuer Röntgenaufnahme waren größer geworden. Sie wird ihn verlassen. Bald. Diese Aussicht wehte Trauerschauer durch seinen Tag. Die Malerin spürte seine Last sogleich.

Sie sprachen nicht viel. Das war gut. Endlich mal eine, die nicht sein Haar tröstend tätschelte. Die Bohnensuppe zum Mittagessen war überraschend lecker und auch die Holunderblütenlimonade schmeckte. Nun schlich Oskar mit großen Augen durch das Atelier und staunte die seltsamen Gestalten an. Sie hingen dicht und in Reihen wie große Wäschestücke auf der Leine. Vor einer Figur ließ er sich auf den Boden nieder und musterte jedes Detail. Er hatte Rose nicht kommen hören und zuckte zusammen, als sie plötzlich neben ihm war und sich zu ihm hockte: „Ist das der große Schattenfänger?“, fragte er sie.
Sie nickte.
„Er sieht stark aus. Welche Schatten kann er vertreiben?“
„Ich hoffe, alle“, antwortete die Malerin.
„Auch wenn die Schatten größer sind als das Licht?“
„Ich weiß nicht, es kommt darauf an, was den Schatten wirft.“
Oskar murmelte: „Es wird nicht heller davon, wenn man das Objekt benennt.“
„Das stimmt, aber vielleicht nimmt man ihm etwas von seiner Macht und damit etwas von der eigenen Ohnmacht“, meinte Rose ernst. Sie stand auf: „Die Farbe der Schatten ist übrigens nicht nur dunkel. Dort drüben liegt Leinen und dort stehen Pinsel und Farbtöpfe, wenn Du willst, kannst Du Dich bedienen.“ Die Malerin verschwand wieder im Garten und Oskar blieb mit seinen Schatten im Kopf zurück. Der Halbwüchsige fühlte, sein Leben kroch auf der Hell-Dunkel-Grenze, würde er die Schattenlinie übertreten können? In welche Richtung? Er wusste es nicht, aber etwas in ihm rumorte, seit er den Schattenfänger der Malerin gesehen hatte. Was war das?
Am späten Nachmittag schlief Karo immer noch in der Hängematte zwischen zwei Birken und Moritz spielte still mit einem kleinen Auto auf dem Boden neben ihr. Zwei Stunden hatte er dort gesessen und leise ihren Schlaf bewacht. Rose war ergriffen von seinem Beistand. Diese Kinder wussten, was geschieht.
Als die Malerin ihr Atelier wieder betrat, lag Oskar neben einem Stück Leinen von dem ein menschlicher blau-grüner Schattenriss zu springen schien. Der Junge schluchzte und seine Augen waren von Tränen randvoll, aber er lächelte unter seinem Schmerz. Die Malerin war nicht überrascht über das, was sie sah. Oskar raffte sich und stand nun anmutig stolz. Rose legte den Arm um ihn: „ Leben hinterlässt Spuren in der Kunst und Kunst soll auch Spuren hinterlassen. Diesen Sprung aus dem Schatten hast Du wirklich gut rausgelassen. Spürst Du seine Energie?“ Oskar nickte. „Was auch geschieht, mein junger Malerfreund, meine Tür steht Dir jederzeit offen.“ (pe)

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