Sagenbearbeitung (14)

Der unsichtbare Bauer oder die Kraft der Johannisnacht

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

Wenn in der Johannisnacht der Rainfarn blüht, wird es zwischen elf und zwölf zum Wunderkraut. Denn wer die Blüten dieser Nachtzeit bei sich trägt, wird augenblicklich unsichtbar. Allerdings wusste kaum einer davon, und so kam es, dass einst ein Mann, der mit seiner Frau bei Brodowin unterwegs war, in eine seltsame Situation geriet. Er wollte just in dieser Stunde Bier aus der Stadt hohlen. Doch weil der sonnentrockene Sand die Räder des Fuhrwerks zum Schlingern brachte und die Pferde nur schlecht vorankamen, stieg der Bauer ab. Er lief schweren Schrittes mit den Zügeln in der Hand neben dem Gespann, als seine Frau vor Schreck aufschrie. Urplötzlich war der Mann verschwunden. Die Zügel schwebten in der Luft und wurden wie von Geisterhand geführt. Der Bauer antwortete zwar auf das Rufen der Frau, doch er blieb unsichtbar in der hellen Sommernacht. Als das Paar in der Wirtschaft eintraf, hörten der Wirt und seine Gäste sehr wohl den Bauern reden, aber sie sahen ihn nicht. Inzwischen sprang die Angst den Unsichtbaren an, denn er wusste einfach nicht, was er daraus machen sollte. Der Wirt sprach beruhigend auf den Verängstigen ein: „Komm zieh die Schuhe aus, vielleicht kannst du so den Spuk abstreifen!“ Das tat der Mann auch und war augenblicklich wieder sichtbar für alle und jeden. Nur der listige Wirt war jetzt statt seiner verschwunden. Für ein Weilchen, dann tauchte er wieder auf und alle im Raume waren verblüfft, doch froh und stießen auf das gute Ende an.
Später einmal verriet der Wirt was eigentlich geschah: Er hatte den Blütenstaub vom Rainfarn an den Schuhen des Bauern entdeckt und wusste von der Kraft der Johannisnacht. Als der Bauer die Schuhe ausgezogen hatte, griff er nach ihnen und lief unsichtbar so schnell er konnte in seine Kammer. Dort schüttelte er das Schuhwerk aus und bewahrte die herausgefallenen Zauberblüten in einem Döschen für seine Zwecke. Schließlich wusste der schlichte Bauer einfach nicht damit umzugehen.

(Nach Rodolf Schmidt, Sagenschatz des uckermärkischen Kreises Angermünde, 1920, aufgefrischt von Petra Elsner)

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