Gedehnte Zeit oder die Arten des Wartens (Abschnitt 1)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

Foto: pe

Warten, unbestimmt wie lange noch, das ist etwas, was Florentine selbst als reife Frau noch nicht erlernt hatte, im Gegenteil. Diese nutzlose Zeit zwischen einer Verabredung und dem wirklichen Eintreffen verwandelt sie regelrecht in eine zwanghafte Gestalt. Sie verrichtet dann zeitfüllend all jene Dinge, die sie lieber nicht tun sollte: Zum Beispiel schnell noch ein Fenster zu putzen oder Kaffee vorzubereiten ohne zu wissen, ob der Besucher nicht lieber Kamillentee möchte. Die Rastlose muss sich beschäftigen, um nicht zu platzen. Diesmal beginnt sie aus dem Nichts eine Geschichte zu schreiben, eine kleine, vielleicht aber wird es auch eine ganz lange Geschichte, weil der Besucher sich nicht nur verspätet, sondern einfach nicht kommt. Zwischendurch hält sie Ausschau durch das Fenster. Der Nachbar fährt eine Fuhre Mist zu seinem Freund. Der Hänger scheppert über das Kopfsteinpflaster und hält Florentines Blick für einen Moment fest. Kaum später legt sich wieder die Stille lang und breit vor ihr Fenster wie ein satter Kater. Ach ja, die Geschichte. Aber Florentine kommt nicht voran, ihre Gedanken sind verknotet mit dieser Verabredung, die auf sich warten lässt. Sie hasst Unpünktlichkeit, was für eine Preußin nicht wirklich verwunderlich ist.
Das schlimmste Warten erlebte Florentine in einer merkwürdigen Prüfung. Das war ein Warten auf das Ende, aber das Ende wollte nicht kommen. Nach anderthalb Stunden hatte der Professor immer noch Fragen und sie ungebremsten Prüfungsstress, der sie nicht bemerken ließ, dass der Prüfer längst ins Schwafeln geraten war. Ihr Hirn suchte in diesem Gespräch über das Für und Wider einer philosophischen Idee nach klugen Antworten, die sie wohl auch gab und eben deshalb kam das Ende nicht. Vor der Tür harrte kein weiterer Prüfling aus, so hatte der alte Hochschullehrer Zeit und Muße. Irgendwann stand er auf: „Darf ich Sie noch ein Stück mit meinem Wagen mitnehmen?“ Florentine nickte verstört, er hatte sie immer noch nicht wissen lassen, mit welchem Abschluss sie aus diesem Klassikerseminar kommen würde. Stattdessen sinnierte der Maestro über Zenons Pfeil-Paradoxon, jenem realen Bewegungsmodell, dass schlussendlich in eine falsche Folgerung führte. Florentine war das vollkommen egal. Es war ein heißer Sommertag, sie schwitzte aus jeder Pore blanke Angst, dass hier würde nicht mehr zu einem guten Ende kommen. Der Professor hielt am Espresso Unter den Linden und fragte einladend: „Noch einen Kaffee?“ Da riss ihr Geduldsfaden: „Auf keinen Fall – diese Endlosprüfung ist nur noch unerträglich!“ Der Mann stutzte: „Wieso Endlosprüfung? Wir unterhalten uns doch nur noch ganz nett?“ Florentine öffnete die Wagentür und zischte nun ganz undiplomatisch „Ganz nett! Verraten Sie mir wenigstens noch, womit Sie die Prüfung bewertet haben?“ „Hab ich das nicht gesagt?“, räusperte sich der Professor. „Na, ganz gut.“  Die Studentin schnaufte, schlug die Tür zu und verdrückte sich ohne ein weiteres Wort. Dieses Warten in Abhängigkeit war ihr zutiefst zuwider…

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