Die Nacht, ein Ort (1)

Linda Mondschein war ein Nachtmensch. Die Nacht war für die Mitvierzigerin  der Raum innerer Freiheit, immer schon. Vorzeiten war das Dunkel noch der Ort der großen Geheimnisse, amouröser Begegnungen, diffuser Sehnsüchte und der Gespenster. Inzwischen bedeutete die Nacht für Linda Mondschein – Sicherheit. Sie konnte die italienischen Bilder vom Sterben nicht vergessen. Sie brannten in ihrer Seele und schürten eine zittrige Angst. Deshalb hatte sie sich mit ihrem herzschwachen Leib in die Dunkelheit verzogen, in ein Eremitendasein, das den Menschen auswich. Ein echter Verzicht, denn Linda Mondschein mochte Menschen, die mit einem leichten Sprung besonders.  Aber das schien ihr eine  Ewigkeit her. Die lichtarme Nacht wuchs indes zu ihrem Schutzraum, in dem sie ein verblassendes Dasein führte. Damit das so blieb, fütterte Linda Mondschein ihre Corona-Neurose geduldig mit sperrigen Nachrichten. „7417 Tote in Deutschland“ rief das Radio am 11. Mai schlag null Uhr, das reichte schon, um es wieder auszuschalten und sich unter dem Mondlicht wegzuträumen, an einen Strand mit rauem Wellenschlag. Gischt und Salz in der Luft. Mit geschlossenen Augen konnte sie ihr fernes Sehnsuchtsbild skizzieren und darin wandern. In Gedanken war das ganz mühelos. Das Kreischen der Möwen in den Ohren, den Geschmack von heißem Sanddornsaft auf der Zunge, Sonnenfunken auf den nassen, geschliffenen Kieseln im Wellensaum. Dieses gedachte Strandwandern machte nicht die Muskeln sauer, der Atem stockte nicht, sie sah in das Bild, aber sie fühlte nichts. Gedankenmeere machen nicht das Herz weit und leicht…

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