Nach jenem Silvester war die Zeit meiner Ferienreisen in das Lausitzer Land vorbei. Die Mappe meiner Großmutter dümpelte nun irgendwo zwischen den Andenkenstücken meiner Eltern. Und die Erinnerungen an ihre Hausmittel verstaubten. Lange bekam ich keinen weiten Himmel und keinen tiefen Wald mehr zu sehen. Das Stadtleben hielt mich fest. Wenn wir krank waren, kochten wir nicht Kräutertees, sondern warfen Pillen ein und aßen Obst aus Holland.
Irgendwann endlich sah ich wieder einen Wald. Im Erzgebirge. Es war eigentlich kein Wald mehr, sondern eine traurige Brache, in der wahrlich kein Rebell mehr unentdeckt die Vogelfreien hätte sammeln können. Der saure Regen hatte den grünen Pelz der Erde zerstört und auch alle Romantik und seine Wildheit versickern lassen. Und wie ich da so stand, war mir plötzlich klar, der Wald ist heute kein Zufluchtsort für Unangepasste mehr. Diese Wildnis gibt es kurioserweise nur noch in einer Großstadt.
Anonymität zieht jene Streuner, Obdachlose, Fanatiker und Exzentriker aller Couleur, die es einst in unzugängliche Wälder trieb, hierher. Berlin, wo ich 16 Jahren lebte, ist ein wilder Dschungel mit hektischen Tag- und bohémen Nachtwelten. Die begegnen sich eigentlich nur in den Dämmerzeiten. Da, wo Lerchen über Nachteulen stolpern oder umgekehrt und meinen, sie wären im falschen Film. In dem Dickicht der Steine ist es lebenswichtig, sich Freunde zu suchen, weil man nicht nur vor Einsamkeit darin umkommen kann. Aber das dichte und zugleich ferne Beieinander von bizarren Großstadtgewächsen befördert auch Toleranz und geistige Beweglichkeit.
Vornehmlich diese Qualitäten sind es, weshalb es sich zwischen all den Baumfreunden, Kräuterhexen, Balkongärtnern, Pfadfindern, Cent-Jägern und -Schnorrern, Hanfbauern auf Dachterrassen, Kneipenclowns, Müslinagern, Paradiesvögeln, Raubkatzen, grünen, gelben, blauen, roten, schwarzen Sonderlingen und grauen Stinos gemeinhin gut leben lässt. Manche schenkten mir schon seltene Rezepte, die ich dann immer der Mappe meiner Großmutter beilege. Von jenen schillernden Stadtfaltern und ihren Tipps erzählen die nächsten Rezept-Geschichten …

Zeichnung: Petra Elsner
aus “Die Mappe meiner Großmutter”, hangebundenes, limitiertes Künstlerbuch.
Die Texte entstanden zuvor für eine naturfeulletonistische Zeitungskolumne. Dieses Potpourri aus Erinnerungsgeschichten half mir eine Trauerarbeit zu leisten. Der Titel adaptiert Adalbert Stifters “Die Mappe meines Urgroßvaters” – Frauen haben eben auch Geheimnisse. Und bei mir war es an der Zeit, nach den guten Dingen in meinem Leben zu suchen. Ich fand sie in den Ferienzeiten bei meiner Großmutter in der Oberlausitz …
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So eine schöne Geschichte.