Ein gepresstes Ahornblatt in Großmutters Mappe erinnert mich an einen herbstlichen Ferientag, an dem wir im Forst am Rotstein Pilze suchten. Irgendetwas hatte mich gestochen, und Großmutter sagte nur: „Lass‘ uns nach einem Luftikus schauen.“ Ich wusste nicht, wen oder was sie damit meinte. Schließlich standen wir vor einem Ahornbaum. „Und warum nennst du den Luftikus?“, fragte ich verwundert. Sie erzählte mir, dass alle Baumarten unterschiedliche Charaktere haben und schwärmte sogleich: „Sieh’ doch, Birken, Haselnuss und Erle sind fein und schön wie Baumnymphen. Die Buche wirkt gegenüber dem alten knorrigen Eichenkönig wie eine zarte, entrückte Herrscherin im silbernen Rindenkleid, umweht von einem gläsern anmutenden Blätterschleier. Die Eibe dort hinten erscheint wie ein geheimnisvoller Wegweiser ins Reich der Düsternis. Ganz anders diese Esche, sie ist eine majestätische Mimose. Weltenbaum nannten sie die Nordmenschen. Die Fichte allein stehend ist der Pyramiden-Riese in unserem Wald. Sie galt unseren Vorfahren als Lebens- und Mutterbaum. Kiefer, Erle, Birke, Lärche und Zitterpappel sind die Lichtgestalten im Wald, während Buche und Tanne den Schatten suchen. Die Kopfweide wirkt wie eine verwachsene alte Hexe. Die Linde aber wohnt im Dorf. Sie ist der Baum der Liebe, weißt du nicht, dass sich tausende Herzblätter in ihrer Krone leise die Liebesgeschichten der Menschen zuflüstern? …“ Großmutter liebte Bäume, kannte viele Baummärchen und wusste noch um ihre Heilkraft. Wir waren zu dem Ahornbaum zurückgekehrt, und sie erzählte weiter: „Der Ahorn ist nicht nur ein lustiger Geselle, weil sich die Kinder seine A-Hörner auf die Nase kleben und damit den Narren mimen. Seine Blätter ähneln einer gespreizten Hand. Im Wind schaut der Baum aus, als würde er uns mit seinen vielen Händen ganz übermütig zuwinken. Man hat heute längst vergessen, was der Luftikus noch kann. Aber im Mittelalter nutzte man seine Blätter als kühlendes Mittel gegen geschwollene Augen und Glieder. Auch bei Fieber und Entzündungen wurden sie verwand.“
Schlussendlich zupfte sie dem Baum ein Blatt ab, quetschte es etwas und legte es mir auf den Stich. Kühle war augenblicklich spürbar, zu Hause angekommen, war die Schwellung vergangen. Seither muss ich immer, wenn ich einem coolen Luftikus begegne an Großmutters schnelle, medizinische Hilfe im Wald denken und an ihre überschwängliche Naturpoesie.

Zeichnung von Petra Elsner
aus “Die Mappe meiner Großmutter”, limitiertes Künstlerbuch.
Die Texte entstanden zuvor für eine naturfeulletonistische Zeitungskolumne. Dieses Potpourri aus Erinnerungsgeschichten half mir eine Trauerarbeit zu leisten. Der Titel adaptiert Adalbert Stifters “Die Mappe meines Urgroßvaters” – Frauen haben eben auch Geheimnisse. Und bei mir war es an der Zeit, nach den guten Dingen in meinem Leben zu suchen…
Der Lindenhof (6) steht schon in der Rubrik “Naturfeulleton” hier:
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